Machtspiel. Madlen Schaffhauser
meinte sie, dass er sich keine Sorgen um sie machen müsse. Es gehe ihr schon wieder besser.
Mit einem mulmigen Gefühl verabschiedete er sich von ihr und bog nach links ab, während sie weiter geradeaus joggte.
Finn befand sich in seinem Arbeitszimmer, als er Chloe seinen Namen rufen hörte.
„Ich bin im Büro.“ gab er zurück.
„Bist du an deiner Liste?" fragte sie, als sie hereinkam.
„Ich bin alle diese Akten durchgegangen." er deutete neben sich.
Chloe betrachtete die Unordnung auf Finns Schreibtisch. Alles war mit Mappen übersät.
Er war unterdessen in der Staatsanwaltschaft, die ihren Standort in Emmenbrücke hatte, und holte einige Akten seiner abgeschlossenen Fälle.
„Kommt für dich irgendwer in Frage, dem du eine Entführung zutrauen würdest?"
„Eigentlich nicht. Ich hatte bereits ganz verschiedene Straftäter. Zum Beispiel mussten einige wegen ihrer Raserei am Steuer, die einen tödlichen Unfall begangen hatten, vor Gericht. Die schliesse ich grundsätzlich aus. Einige kamen mit dem Drogenhandel in Berührung. Von denen einer erst vor drei Wochen entlassen wurde. Ich habe etliche Vergewaltigungstäter verurteilt. Jemand kam vor wenigen Tagen frei, zwei vor sechs Monaten und einige sind zwischen zwei und drei Jahren auf freiem Fuss.
Weiter bin ich noch nicht gekommen. Häusliche Gewalt oder vorsätzliche Tötung gehören ebenfalls dazu. Ich muss nachher noch die restlichen Akten holen. Aber ob wirklich jemand von denen beschuldigen kann, kann ich mir kaum vorstellen. Wiederum können es auch alle sein. Wer weiss das schon." gedankenverloren schüttelte er leicht den Kopf.
„Kann ich dir irgendwie behilflich sein."
„Du könntest die Namen und Adressen, von denen die aus dem Gefängnis sind, notieren. Dann kann Raul im Büro überprüfen, ob sie noch unter dem angegebenem Wohnort zu finden sind und ob jemand von ihnen wieder straffällig wurde."
Chloe setzte sich auf der anderen Seite von Finn hin. Beide vertieften sich schweigend in ihre Aufgaben. Sie hörten nicht einmal die Klingel und das Eintreten von Raul. Erst als er vom Türrahmen her hallo sagte, schraken sie aus ihren Gedanken auf.
„Es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn du die Alarmanlage einschalten würdest. Auch wenn du hier im Haus bist, Finn. Ihr habt mich nicht mal gehört, als ich vom Eingang her, gerufen habe." meinte Raul nachdenklich.
„Die habe ich ganz vergessen. Werde ich gleich erledigen. Ebenfalls sollten noch die Überwachungskameras repariert werden."
„Und warum stand das Gartentor offen?“ hakte Raul nach.
„Oh je!“ vor Schreck hielt Chloe die Hand an ihren Mund. „Das habe ich ganz vergessen zu schliessen! Wird nicht mehr passieren. Entschuldige Finn.“
„Ist schon okay Chloe. Mach dir keine Vorwürfe.“ beruhigte sie Winter.
„Ihr müsst vorsichtiger sein.“ fuhr Raul unbeirrt fort. „Wir haben keine Ahnung, mit wem wir es zu tun haben. Also bitte reisst euch zusammen.“
Chloe zuckte über Rauls schroffe Art zusammen und sah beunruhigt zu Finn, der sich nichts anmerken liess. Aber natürlich hatte der Polizist Recht. Sie mussten vorsichtiger sein.
„Soll ich bei der Sicherheitsfirma anrufen und einen Monteur kommen lassen, um die Kameras zu reparieren?" fragte sie mit möglichst ruhiger Stimme und hoffte, dass man ihre innere Unruhe nicht anmerkte.
„Ich wäre dir sehr dankbar dafür. Die Nummer findest du im orangen Ordner dort im Regal. Die Firma lautet Oppi Sicherheitstechnik."
Chloe erhob sich aus dem Stuhl und ging an Raul vorbei, der inzwischen Mitten im Büro stand, zum Büchergestell. Lunardi atmete ihren frischen Duft ein, der nach süssem Honig und Mandelöl roch. Dieser Geruch, diese langen, braunen Haare einfach himmlisch. Irritiert von seinen Gefühlsregungen blickte er zum Fenster hinaus, um nicht in Versuchung zu kommen, Chloe noch länger zu beobachten, wie sie sich nach dem Ordner streckte. Wie sich ihre Muskeln an den Beinen und ihrem Po anspannten. Er spürte, wie sich irgendwas in ihm regte. Nicht jetzt in dieser Situation, ermahnte er sich. Sie mussten die Frau seines besten Freundes finden. Da war seine Begierde völlig fehl am Platz.
Er konnte nicht anders und sah ihr nach, als sie mit dem Telefon in der Bibliothek verschwand, um die Sicherheitsfirma anzurufen.
Raul räusperte sich, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können und wandte sich an Finn.
„Meine Kollegin Eileen Banz und ihr Partner Otto Lutz von der Spurensicherung werden demnächst vorbeikommen, um alles zu untersuchen. Hoffentlich finden sie etwas.“
„Konnten Sie den Brief schon inspizieren?“
„Als ich im Büro war, hatten sie noch keine Ergebnisse. Ich denke, dass wir bald mehr wissen werden.“
„Denkst du, ich kann kurz in die Staatsanwaltschaft fahren, um die restlichen Akten zu holen? Diese hier habe ich alle durchgesehen und die Namen notiert, die auf freiem Fuss sind. Ich habe mindestens nochmals so viele im Archiv. Dazu werde ich noch meine laufende Fälle kontrollieren.“
„Ich werde hier bleiben und den Leuten die Tür öffnen. Nimm dir die Zeit die du brauchst.“
Chloe kam soeben zurück, als Finn und Raul die Akten zusammensammelten und in die Kartons verpackten, in denen Finn sie transportiert hatte.
„Ein Mann namens Lüthi wird heute Nachmittag vorbeikommen und sich die Überwachungskameras ansehen.“ äusserte Chloe.
„Ich bin dir sehr dankbar für deine Unterstützung Chloe.
„Mache ich gerne. So habe ich nicht das Gefühl, nutzlos rumzusitzen und kann mich von meinen Gedanken ablenken.“
„Geht mir auch so. Dann werde ich mal ins Büro fahren. Ihr erreicht mich auf meinem Handy.“ Finn lud alle Kartons in sein Auto und fuhr davon.
Raul sah Chloe an und fragte sie mit ruhiger Stimme „Können Sie mit jemandem über das was letzte Nacht passiert ist reden?“
Eigentlich stellte er diese Frage, um zu erfahren, ob es einen Mann an ihrer Seite gab und schämte sich sogleich dafür.
Chloe machte den Mund auf, um ihn gleich darauf wieder zu schliessen. Es kam kein Laut über ihre Lippen. Sie senkte ihren Kopf, damit Raul nicht sah, wie sie sich dagegen wehrte, nicht in Tränen auszubrechen. Wie sehr hätte sie eine Schulter zum Anlehnen gebraucht. Nur war da leider niemand, ausser ihrer Schwester.
Als sie aufsah, bemerkte sie den eindringlichen Blick von diesem gut gebauten Mann, mit seinen hellen Haaren.
„Was ist mit ihren Eltern?“ hörte sie Raul fragen.
„Mein Vater ist vor vier Jahren an einem Herzinfarkt gestorben und meine Mutter ist schwer krank. Momentan liegt sie im Krankenhaus, wo sie für die nächste Zeit auch bleiben muss. Sie hat mit ihrer Erkrankung genug zu leiden, darum habe ich noch nichts über das Verschwinden von Dana erzählt. Ich bin sie nicht einmal besuchen gegangen. Es fehlt mir einfach die Kraft dazu.“ Chloes Stimme zitterte bei ihren letzten Worten und gab auf, gegen ihre Tränen anzukämpfen.
Noch bevor sie wusste, was geschah, stand Raul neben ihrem Stuhl und zog sie in Ihre Arme. Sie liess es ohne Widerstand zu, denn es war schon ziemlich lange her, seit sie ein Mann festhielt. Sie musste sich eingestehen, dass es sich sehr gut anfühlte, in solch einer starken Umarmung zu sein.
Raul spürte, wie ihr Körper von ihren Schluchzern bebte und hielt sie einfach nur fest. Sie standen einige Minuten engumschlungen da, bis sich Chloe versuchte von ihm zu lösen. Sie blickte verlegen zu ihm auf und wollte sich bereits entschuldigen, da spürte sie seine weichen Lippen auf den ihren. Chloe verstand nicht, was hier geschah und wollte sich zunächst wehren. Aber schliesslich gab sie sich diesem geschmeidigen und köstlichen Mund hin. Er küsste