Im Licht des Mondes. A. Cayden
meine Schwester sich so in die Arbeit stürzt. Sie braucht eine Pause. Wenn ich ihr doch nur ein bisschen von meiner Einstellung abgeben könnte. Immerhin ist das Leben viel zu kurz, um sich nur eisern in die Arbeit zu stürzen. Wir geben unser Bestes und das muss reichen. Besorgt streiche ich ihr über den gebeugten Rücken. Ich möchte nicht, dass sie an unserer Aufgabe zugrunde geht. Sie ist die Einzige, die ich noch habe.
„Ja … es muss einfach ein Muster geben, wie er seine Jagdreviere festlegt. Wenn wir dahinterkommen, dann können wir ihn abfangen und ihm zuvorkommen! Dann haben wir ihn endlich! Doch ich komme einfach nicht drauf! Seine Opfer, seine ehemaligen Jagdgebiete sind so ziellos verstreut.“
Drew fährt sich mit der freien Hand, die sie zur Stütze genommen hatte, durch die langen Haare, die sie zu einem Zopf zusammengebunden hat. Wie gerne würde ich ihr eine schöne Hochsteckfrisur zaubern. Sie hat so tolle lange Haare, nur leider ist sie der Meinung, dass Hochsteckfrisuren nicht zu ihr passen.
„Manche Gebiete sind unsinnig weit weg, andere plötzlich ganz dicht beieinander und er wechselt anscheinend wahllos die Richtungen. Er muss doch … da muss doch ein System dahinterstecken. Was spielt er nur für ein Spiel? Wo ist nur …“
Gedankenverloren verbindet sie mit dem angeknabberten Stift die roten Punkte auf der Karte, genau in der Reihenfolge, in der der zähe Dämon die Umgebung durchstreift hat. Dann knallt sie frustriert den Buntstift auf den Tisch und fährt sich über die Denkerfalten auf ihrer erhitzten Stirn.
„Nichts! Ich kann einfach kein Schema erkennen! Es ist doch echt zum Verzweifeln!“
„Hey, nicht aufregen! Wir machen das schon. Die Zeit wird kommen, wo er uns nicht mehr entkommen kann. Wir brauchen nur etwas Geduld! Und abgesehen davon stellen wir zwischendurch immer wieder andere Lebenssammler. Das ist auch was! So erfüllen wir unsere Arbeit. Immerhin sollen wir nicht zwangsläufig nur einen bestimmten Dämon jagen. Du brauchst eine Pause, ehrlich. Du arbeitest zu viel, ich mache mir Sorgen um dich, Schwesterherz“, gebe ich offen zu und zwirble ihr dabei durch die in Aubergine getönten Haare. Sie schaut mich kurz an und ich entdecke einen Funken Schuldgefühl in ihr aufflammen. Das wollte ich nicht. Ich möchte nicht, dass sie sich wegen mir ständig Sorgen macht und es ihr dabei selber schlecht geht. Gefühle sind echt kompliziert.
„Ich … ja, schon. Doch dieser Kerl – wir jagen ihn nun schon seit Jahren und immer wieder entkommt er uns. Dieser arrogante Handlangerdämon regt mich dermaßen auf und“, sie druckst kurz und sieht zu mir auf, „und er ist zu gut in dem, was er tut. Wir müssen ihn unbedingt aufhalten. Deswegen ist es mir egal, wie lange ich arbeiten muss oder ob ich weniger schlafe, wenn es nur dazu dient, ihn festzunageln und Menschen das Leben zu retten.“
Gedankenversunken wandern ihre Blicke wieder auf die Karte zurück und sie streicht grübelnd mit den Fingerspitzen darüber. In diesem Moment glaube ich doch, ein Muster zu erkennen. Ich blinzle ein paarmal schnell hintereinander, aber auch als ich die Augen wieder öffne, sehe ich das Bild durch die verbundenen Linien vor mir. Und noch bevor ich es verhindern kann, rutscht es mir heraus.
„Ich glaube, ich erkenne ein Muster! Wenn du die Karte linksherum drehst – ist das nicht ein Stinkefinger?!“
Automatisch muss ich grinsen, denn als ich die Stadtkarte drehe ist es unübersehbar, dass ich recht habe. Vorsichtig luge ich zu meiner Schwester, die erst aschfahl und dann rot wird vor Wut. Ihre Lippen beginnen zu zittern und sie ballt ihre Hände zu Fäusten.
„Dieser verdammte Mistkerl! Will der mich verarschen?!“
Ich kann es nun nicht länger zurückhalten. Belustigt fange ich an zu glucksen und streiche meiner Schwester beruhigend über den Oberarm.
„Komm schon, Drew. Du musst zugeben, dass er einen Sinn für Humor hat!“
Die Gesichtszüge meiner Schwester entgleisen nun vollends, was mich noch mehr zum Lachen bringt. Ich kann einfach nicht mehr aufhören.
„Das Essen ist übrigens fertig“, bringe ich unter lautem Prusten hervor. „Bevor es also ganz kalt wird, sollten wir zu Abend essen, ja?“ Ich sehe, wie sich die Glieder meiner Schwester entspannen. Sie schüttelt leicht den Kopf und schiebt mich in Richtung des gedeckten Tisches.
„Ich finde das nicht mal halb so witzig“, gibt sie trotzig zurück, trotzdem kann ich das schiefe Grinsen sehen, das sich um ihre Mundwinkel zieht.
„Klar, weiß ich doch“, erwidere ich und setze mich lachend für das ersehnte Abendessen an den Tisch.
***
Ich sehe nach rechts zu meiner Schwester, erkenne ihren abwechselnd schwankenden Ausdruck zwischen Konzentration und Enttäuschung und ich kann ihre Gefühle durchaus verstehen. Unsere Patrouille ist fast um und wir haben keinen einzigen Dämon aufspüren können. Die gesamte vergangene Woche tappen wir schon ohne jegliche Spur durch die Straßen und ich weiß, wie sehr solche Misserfolge an Drew nagen.
Ihr verbissener Blick durchsucht taktisch die Gegend und ich kann die Anspannung deutlich in ihrem Gesicht ablesen. Ich selbst wende mich nun auch unserer Umgebung zu, jedoch kann ich mich die letzten Minuten einfach nicht mehr konzentrieren. Nächte ohne dämonische Spuren zu entdecken, sind nicht selten, so wurde es uns zumindest in der Ausbildung gelehrt. Eigentlich auch recht logisch und gut, denn wenn wir jede Nacht dämonische Präsenzen wahrnehmen würden, dann wäre die Erde überwuchert mit Bösem. Ehrlich gesagt ist es mir so viel lieber. Meiner Schwester allerdings nicht. Nicht, dass sie sich mehr Dämonen wünscht, aber ich weiß, dass sie am liebsten alle gleich und auf einmal zur Strecke bringen würde. Daher auch ihr grenzenloser Ehrgeiz. Ich bewundere sie dafür, bin jedoch auch der Meinung, dass gerade dieser Ansporn ihr oft seelische Schmerzen bereitet. Das war schon in unserer Kindheit so. Ob nun in der Schule, bei Hausaufgaben und Test, oder im Sport-und Kampfunterricht, sie hat stets wie eine Wilde gearbeitet. Ich dagegen … Na ja. Ich will nicht behaupten, dass ich faul bin, dennoch muss ich auch immer etwas Spaß bei der Sache verspüren. Dann gehen einem die Dinge viel leichter von der Hand, oder etwa nicht? Deswegen ist wohl meine Schwester in Sachen Leistung um etliches, wenn nicht gar Welten, besser als ich, was mich allerdings nicht stört. Im Gegenteil: Ich bin richtig stolz auf sie. Das war ich immer. Wenn sie in der Schule Auszeichnungen bekommen hat, habe ich meist gestrahlt wie die aufgehende Sonne am Firmament, war aufgeregter als eine Horde Wikinger gewesen, und sie war völlig ruhig und gelassen geblieben, wirkte dadurch meist recht unbeteiligt. Selbst als sie die Ausbildung für die Anwärter als Jahrgangsbeste gemeistert hatte, hatte sie sich keine Gefühlsregung anmerken lassen. Zumindest fast. Denn ich konnte den kleinen Funken in ihren Augen sehen, der Erleichterung und Zufriedenheit ausgestrahlt hatte. Unsere Eltern sind bestimmt auch stolz auf sie. Da bin ich mir ganz sicher. Sie müssen es einfach sein.
„Hey, Joy, pass auf. Ich glaub, wir bekommen gleich Gesellschaft und zwar unangenehme!“
Die Stimme meiner Schwester reißt mich aus meinen Gedanken und ich blicke mich vorsichtig um. Tatsächlich werden wir aus verschiedenen dunklen Ecken beobachtet und ich habe das ungute Gefühl, dass Drew Recht behalten wird. Selbstsicher laufen wir weiter und geben uns unachtsam, als hätten wir sie nicht bemerkt. Doch die Meute lässt nicht lange auf sich warten.
„Wohin des Weges, Sisters?!“, ertönt eine höhnende Stimme mit gefährlichem Unterton und eine Frau Ende 30 tritt vor uns und versperrt uns mit verschränkten Armen den Weg. Von ihren schwarzen, schulterlangen Haaren fallen ein paar Strähnen wirr in ihr ovales Gesicht, das durch eine Narbe auf der rechten Wange entstellt zu sein scheint. Die zackige Form erinnert an eine fallende Sternschnuppe, die alle Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. Im gleichen Moment höre ich hinter uns Schritte. Langsam drehe ich mich etwas zur Seite und erkenne drei weitere Frauen im gleichen Alter und von gleicher, dünner Statur. Jede von ihnen hat einen Schlagstock in der Hand, den sie spielerisch und voller Vorfreude über ihre Hände gleiten lassen.
„Ich glaube kaum, dass euch unser Ziel ernsthaft interessiert“, entgegnet meine Schwester gelassen und lässt die Wortführerin der Gruppe nicht aus den Augen. „Warum kommen wir also nicht gleich zur Sache und ihr sagt uns, was ihr möchtet?“