Im Licht des Mondes. A. Cayden
den ganzen Kriegen und den darauffolgenden Krankheiten und Hungersnöten war, hat hier schon längst keiner mehr. In den Nachbarorten sieht es nicht anders aus. Viele davon sind ganz zerstört und mittlerweile unbewohnbar. Die verbliebene Menschheit hat sich zwar gut regeneriert, dennoch ist die gekippte Wirtschaft völlig am Ende. Eigentlich bin ich froh, dass es mir so gut geht. Denn ich bin gesund, habe eine ehrliche Arbeit, verdiene mein eigenes Geld, mit dem ich mir meine Wohnung und die nötigsten Dinge leisten kann. Doch warum kann ich dann nicht glücklich sein? Wahrscheinlich bin ich einfach nur zu blöd. Ich habe kein Recht dazu, deprimiert rumzulaufen und andere Leute mit meiner drückenden Laune herunterzuziehen. Deswegen bemühe ich mich, mir nichts anmerken zu lassen, und ich kann nicht sagen, wie oft ich vor dem Spiegeln geübt habe zu lächeln. Immerhin kann ich nun wann immer es nötig ist ein Schmunzeln aufsetzen.
„IIIIEEEF!“
Ich zucke zusammen, als das schrille Jaulen die Nacht durchdringt. Reflexartig drehe ich mich zu der nahen Stelle nach rechts um, von dem das markerschütternde Quieken gekommen war, und verharre in meiner Bewegung. Gänsehaut überzieht meinen Körper gepaart mit eisiger Kälte. Ein kahler, knochiger Typ in meinem Alter, der übersät mit Tattoos und umringt von ein paar Halbstarken mit Lederjacken ist, hält den leblosen Körper eines jungen Straßenhundes triumphierend in die Höhe. Sein Fell ist verfilzt und dreckverkrustet, die Farbe allerdings in der Entfernung nicht auszumachen, und an seinem Kopf klafft eine faustgroße, bluttropfende Wunde, die ihm wohl den Rest gegeben hat. Die Meute fängt an laut zu grölen. Jubelnd strecken sich Hände nach oben, während der kahle Typ den toten Körper des Hundes immer wieder ruckartig in die Höhe schwingt wie ein Cowboy sein Lasso. Eine junge Frau hat eine Blechtonne besorgt in den sie den kleinen Leichnam schmeißt. Unter Klatschen und freudigem Brüllen wird schließlich ein Feuer entfacht und der Gestank von verbrennendem Fleisch steigt in die Luft. Endlich schaffe ich es, den Blick von dem abscheulichen Bild abzuwenden und meinen Weg fortzusetzen. Mir ist mit einem Schlag kalt und ich schnalle meine große, ausgebeulte Umhängetasche noch fester an mich. Ich weiß, dass solche Szenen durchaus normal sind, denn die Leute hassen Tiere, nicht nur, weil sie kostbares Essen stehlen. Mit den großen Kriegen kamen Hungersnot und Krankheit über uns und es wird behauptet, dass die Erreger der tödlichen Krankheiten von Tieren übertragen und hauptsächlich ausgelöst wurden, dennoch kann ich solche Anblicke nur schwer ertragen. Ich fühle mich zwischen Mitleid und Angst hin- und hergerissen. Das sind die Momente, die mir immer wieder aufs Neue zeigen, wie schwach und hilflos ich bin. Ein Rattern lässt mich ein weiteres Mal aufhören und ich bin erleichtert, als die vergilbte und mit Graffiti beschmierte Straßenbahn direkt vor mir an der kleinen Haltestelle zum Stehen kommt. Ich bin der Einzige, der hier einsteigt. Fast alle Plätze sind noch unbesetzt. Noch während ich durch den schmalen Gang über leere Dosen und zusammengeknülltem Papier stolpere, fährt die Bahn plötzlich und wackelnd an. So laut knatternd, dass man fast Angst haben muss, dass sie gleich auseinanderbricht. Schnell setze ich mich nach hinten auf einen nicht ganz von Alkohol durchtränkten und von Kaugummi besudelten Sitz aus abgewetzten dunkelbraunen Polstern und schaue aus dem halb zersplitterten Fenster. Meine Augen bleiben ein weiteres Mal an der überschaubaren Gruppe von Leuten hängen, die nun halb tanzend um das Feuer springt, sich gegenseitig anrempelnd, auf der Suche nach dem nächsten Kick. Kühler Nachtwind weht durch die kaputten Scheiben der Bahn und wirbelt ein Potpourri an unangenehmen Gerüchen auf. Erschöpft drücke ich mich gegen die Sitzlehne, verschränke wärmend meine Arme um meinen Körper und schließe endlich meine brennenden Augen. Nichts – ich will einfach an nichts mehr denken.
***
Zwanzig Minuten später steige ich in meinem Wohnort aus. Frische Nachtluft umhüllt mich und lässt meine schlaffen Glieder prickelnd erwachen. Ich strecke mich kurz und gehe dann die mit Schlaglöchern übersäte Betontreppe nach unten. Im Gegensatz zur Stadt ist es in meinem Dorf zu dieser Uhrzeit sehr ruhig, was wahrscheinlich daran liegt, dass hier überwiegend alte Leute und vor allen Dingen deutlich weniger Menschen wohnen. Allerdings gibt es hier auch nichts, was mehr junge Leute anziehen würde. Nur ein einziger Supermarkt ist erhalten geblieben, kein einziges Kleidergeschäft oder gar ein richtiges Café – einfach nichts. Wer Kleider oder besondere Artikel und Medikamente braucht, muss in die nächste Stadt fahren, in der ich arbeite. Aber dafür gibt es hier etwas anderes, was mir hundert Mal mehr wert ist als vielfältige Einkaufsmöglichkeiten. Ich bleibe kurz an einer der wenigen funktionierenden Laternen stehen und blicke an dieser herab. Mickrige Grashalme in strohigen Grün ragen aus der Erde leicht empor als kleine Funken der Hoffnung. Es ist nicht viel, doch gibt es mehrere Stellen, an denen sich die Natur wieder regeneriert, als würde sie beschließen, der Menschheit Stück für Stück mehr Vertrauen zurückzuschenken. Und ich hoffe, dass sie nicht enttäuscht wird. Schlurfend trotte ich weiter, den Blick über die leere Hauptstraße gleitend. Ich passiere die ehemalige Tankstelle, die seit ich geboren bin wohl noch kein einziges Mal in Betrieb war, und sehe in den Himmel. Das Sternenzelt ist überall gleich schön, egal wie kaputt oder verdorben der Untergrund auch sein mag, den es mit seinem Licht beglückt. Ich passiere einige Blechhütten, die notdürftig am Straßenrand errichtet und die Öffnungen mit dreckigen Lacken verdeckt sind, und biege in meine Straße ein. Kahle Mauerwerke einst mehrstöckiger Häuser sehen mir entgegen, eine eigene kleine Geisterstadt. Was für Menschen haben hier früher gelebt? Wenn diese Mauern sprechen könnten, welche Geschichten wüssten sie zu erzählen? Wie gerne würde ich eine Maschine besitzen oder eine magische Kugel, die mir die Vergangenheit zeigen kann.
Abermals biege ich links ab und laufe über den erdigen und staubtrockenen Geröllboden der Seitenstraße, welche in einer Sackgasse endet. Als ich meine Mietwohnung sehe, erfasst mich ein flaues Gefühl in der Magengegend. Soll ich doch lieber noch eine Runde laufen? Auf der anderen Seite ist es schon sehr spät und ich muss morgen wieder früh raus, um zu arbeiten.
„Den Moment hinauszögern bringt doch nichts…“, murmle ich resigniert vor mich hin, bemühe mich zu lächeln, obwohl niemand neben mir steht und öffne die Wohnungstür mit meinem Haustürschlüssel. Um meine Nachbarn nicht zu wecken, lasse ich das Licht ausgeschaltet, da das Flurlicht immer unangenehm laut zischt und durch die Wände rauscht, als müsse es sich aus dem hintersten Winkel durch alle Zimmer kämpfen, um in den Gang zu gelangen. Vorsichtig taste ich im Dunkeln meinen Weg ins erste Obergeschoss zu meiner zerkratzten Haustür. Geduldig suche ich das Schlüsselloch und schließe auf. Ich husche so geräuschlos wie mir möglich durch den Eingang. Hier mache ich mein Flurlicht an. Meine Wohnung ist schön eingeteilt. Mir gefällt besonders, dass man beim Betreten im Flur steht und nicht gleich in einem der Zimmer. Links ist das kleine Bad, während geradeaus mein Schlafzimmer liegt. Die Küche liegt rechts daneben gefolgt vom Wohnzimmer mit dem kleinen Balkon. Etwas achtlos schmeiße ich meine Umhängetasche auf den Boden und tappe ins Badezimmer. Mir fällt auf, dass ich die zum Teil gesprungenen rosa Platten polieren müsste und ich nehme mir vor, dies bei nächster Gelegenheit zu tun. Vorerst möchte ich nur noch unter die Dusche, etwas essen und in mein kuscheliges Bett, das mich aus meinem Zimmer verlockend zu rufen scheint. Bei dem Gedanken huscht ein erschöpftes Lächeln über mein Gesicht.
***
Nachdem ich in meinen etwas zu großen Pyjama geschlüpft bin, rubble ich mir meine Haare auf dem Weg zur Küche trocken. Eigentlich verspüre ich keinen Hunger, doch ich weiß, dass ich etwas zu mir nehmen muss, wenn ich nicht ein paar Stunden später wegen eines knurrenden Magens aufwachen möchte. Also hole ich den Muffin, den ich extra für heute gekauft habe, aus meinem hüfthohen Kühlschrank. Süßspeisen sind recht teuer, doch ich habe beschlossen, mir diesen Tag etwas zu gönnen. Eine Weile lang stehe ich unschlüssig davor, dann krame ich einen Teller, sowie eine Gabel und eine kleine Minikerze aus meinem halb zerfallenen Schrank hervor. Die Kerze stecke ich mittig in den Schokomuffin und trage diesen mit dem Geschirr und einem Glas Wasser ins Wohnzimmer. Das Feuerzeug liegt noch auf meinem Tisch, der eigentlich nur aus einer großen, länglichen Holzkiste besteht. Ich zünde die Kerze an und werfe einen kurzen Blick auf das Bild meiner Eltern, das ich auf eine alte Anbaute gestellt habe. Glücklich lächeln sie mir entgegen und ein schmerzender Stich durchfährt mein Herz. Ob sie wohl stolz auf mich wären? Ich spreche ein kleines Gebet und bitte, dass, wo immer sie auch sein mögen, es ihnen gut geht. Behutsam streiche ich über das alte Foto, dann nehme ich mein Abendessen und setze mich eingemummelt in einer dünnen Wolldecke auf meinen Balkon. Mein Blick