Kettenwerk. Georgian J. Peters
Angst, dann aber zwang er sich vor und tauschte sie mit Ehrgeiz und bezwang die Stufen im ersten Anlauf. Er besiegte die Dunkelheit, bezwang seine Angst, sogar die Panik. Er hatte es geschafft. Er war unten. Reflexartig verlagerte er sein Körpergewicht auf das rechte Bein, da auch die Wand, an der er wie festgeheftet hinunter stakste, zu Ende war. Als wollte er sein Gesicht waschen, wischte er sich den Schweiß von der Stirn, atmete tief ein, musste husten, doch das war jetzt ein befreiendes Husten.
Um ihn herum blieb es dunkel. Nur von oben kroch ein eisgrauer Schein herunter, der jedoch nicht ausreichte, um das Terrain abzuchecken. Er schloss die Augen, streckte den Hals etwas vor und lauschte. Nur sein flaches Atmen, eine Art Sinnesrauschen und sein trommelndes Herz tobten in seinen Gehörgängen.
In diesem Augenblick gesellte sich ein klickendes Geräusch dazu, das ihn ruckartig herumfahren ließ. Das Geräusch kam eindeutig von links. Eine Pistole, entfuhr es ihm.
„Hee, Georgie … Wo steckst du?“, flüsterte er gepresst.
Ein schleifendes Geräusch folgte, ebenso leise wie das Klicken zuvor und als er gerade laut losschreien wollte, vernahm er Georgies Stimme: „Psst! Holmi … Ich bin’s … Kein Mucks …“
Sekundenschnell erfasste Tommi die Situation, da er seine Sinne bis aufs Äußerste geschärft hatte. Erleichtert stieß er die angstverbrauchte Luft aus, hustete abermals, hob den Pullover hoch, um das Saumende hin- und her zu fächern, sodass Luft darunter kam. Dann zog er die Mütze vom Kopf, befreite sich von dem lästigen Kaltschweiß und setzte sie mit dem Schirm nach vorn wieder auf.
Am anderen Ende des Kellers stand ein grauer Lichtstreifen in der Dunkelheit, der skurrile Bilder mit sich zog, die Tommi aber schnell deutete. Da sind Georgie und … Holmi … ja richtig, Holmi … die sind da zugange.
Leise verriegelte Georgie die Kellerluke und sagte: „Tja, Euer Plan ist wohl derbe nach hinten losgegangen, was?“
Im Hintergrund hörten sie Tommi kichern.
„Komm’, komm’, der Plan war aber genial!“, entgegnete Holmi mit rechtfertigendem Stolz.
„Zugegeben! Nur die Durchführung war mies“, tippte ihm Georgie tröstend auf die Schulter. „Und jetzt wollen wir uns mal lieber um meinen Plan kümmern.“ Noch während er den Satz zu Ende sprach, drückte er Holmi beiseite und ging auf Tommi zu: „Na, und du hast auch noch hergefunden? Großartig, Mann!“
Ein undeutliches Gegrummel antwortete, wobei Tommi den Schirm seiner Mütze tiefer über die Stirn schob … Ja, die Aktion hab ich durchgestanden und einen drohenden Asthmaanfall habe ich ebenfalls erfolgreich niedergekämpft.
Nur langsam gewöhnte sich Holmi an die Dunkelheit. Widerwillig schaute er den beiden hinterher. In seiner Brust pochte Zorn – Zorn, den er natürlich auf sich selbst richtete. Er hatte kläglich versagt, der Plan war im Dreck verreckt. Aber er zögerte keine Sekunde und setze sich in Bewegung, wobei er schützend die Arme von sich streckte.
Tommis massige Umrisse versperrten ihm den Weg.
„Los, nun kommt endlich“, rief Georgie ungeduldig, während er schon die hintere Kellertür öffnete und einen blau schimmernden Lichtstreifen in den Kellergang hereinließ.
Holmi war drauf und dran, einen seiner gefürchteten rechten Haken in Tommis Schwabbelbauch zu rammen, stattdessen stieß er ihn mit dem Ellenbogen zur Seite und zischte nur: „Bald kicherst du nich’ mehr … Warte, bis du dran bist, Fettmolch!“
Tommi zeigte sich davon wenig beeindruckt. Im Gegenteil. Er stieß ein schrilles Lachen aus, wobei er sich den Bauch hielt.
Georgie unterbrach die beiden mit fester Stimme: „Okay! Auf geht’s. Wir rennen hinten rum!“
„Holmi …“, er machte einen Schritt auf Holmi zu, „du und Tommi … Ihr versucht, hinter Ulli in die Gärten zu kommen … Ich schleich’ mich von vorn ran.“ Dabei schlug er ihm den Handrücken vor die Brust. „Und dann kannst du auch endlich deine super Wasserspritze ins Spiel bringen, Mann!“
Holmi entging keineswegs Georgies verschmitztes Grinsen, doch es störte ihn jetzt nicht mehr … Vor fünf Minuten vielleicht noch.
Ohne auf eine Antwort zu warten, stürmte Georgie die Kellertreppe hinauf. Holmi folgte.
Tommi kam erst Sekunden später in Gang.
Sie rannten zur Vorderseite der Reihenhäuser, stoppten an der Ecke zu den Vorgärten, drückten sich dicht an die Hauswand. Ein dichter Holunderbusch gab ihnen Sichtschutz.
Seitwärts hinter Georgie ging Holmi in Stellung. Tommi blieb dicht hinter ihnen.
Ulli stand noch immer auf dem Gehweg und gerade begann er damit, die kleinen Steinchen zu werfen. Jedoch beherrschten die Klänge von The Doors und die beleuchteten Vorgärten die Szenerie, obgleich auch Ullis Stimme zu hören war. Zweifellos vermutete er Holmi noch immer hinter dem Busch. Er wollte nun endlich ein Zeichen haben.
Selbst Holmi konnte sich bei dem Anblick kaum noch zurückhalten. Seine Schadenfreude drohte regelrecht aus ihm heraus zu platzen.
Ab jetzt gab Georgie nur noch Handzeichen.
Er deutete rechts hinüber in die Dunkelheit zu den Büschen auf dem gegenüberliegenden Grundstück und zu den Hecken der hinteren Gärten, wo Ulli stand.
Sofort schlichen Holmi und Tommi los.
Tommis Schirmmütze hatte wieder die Kampfstellung eingenommen, und Georgies breites Grinsen folgte den beiden in die Dunkelheit.
Ein groteskes Pärchen, dachte er, als er ihre Hintern in die Dunkelheit wegtauchen sah.
Sein Blick folgte ihnen, bis sie die Büsche erreichten, dann aber ließ er seinen Blick wieder zu Ulli hinüberschwenken. Ab jetzt galt Georgies ganze Aufmerksamkeit nur noch ihm, der dem kugeligen Holunderbusch wieder etwas zu rief, hinter dem er natürlich Holmi vermutete. Katzenhaft glitt Georgie zu Boden, robbte hinüber zu den äußeren Hecken der Vorgärten. Nur der energische Keyboardsound von „Light My Fire“ war ihm auf den Fersen.
Er erreichte den grellen Lichtkreis, der die neblig, bläuliche Abendluft zu einem Tunnel formte.
Ungeduldig sah Ulli abwechselnd hinauf zum Fenster und zu dem Holunderbusch. Diese Ungewissheit passte ihm nicht. „Holmi, was ist los … Hee, was geht jetzt ab?“, krächzte er mit einem zögerlichen Tremolo auf den Stimmbändern.
Natürlich bekam er keine Antwort.
„Wie viele Steinchen soll ich ’n noch werfen? … Da oben reagiert keiner … Hee, Holmi!“
Georgie hatte seine Position hinter der Hecke bezogen und auch Holmi und Tommi sollten ihr Ziel hinter Ulli erreicht haben.
Eigentlich konnte der Zauber jetzt beginnen.
„Hee, Holmi, du wolltest doch …“, weiter kam Ulli nicht, denn ein gebündelt scharfer Wasserstrahl traf ihn am Hinterkopf. Kaltes Wasser lief ihm in den Kragen, da er, ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten, die Kapuze seines Parkas nicht über den Kopf gezogen hatte.
Reflexartig duckte er sich, sprang nach vorn und noch im Fallen drehte er sich, um den Gegner zu orten, doch bevor er am Boden lag, traf ihn ein greller Halogenstrahl direkt ins Gesicht. Erst jetzt schrie er seinen Schreck lauthals heraus. Ein tiefer, röhrender Schrei.
Eine zweite Wassersalve ergoss sich diesmal auf seinem Gesicht. Es war wie der Schlag einer flachen Hand, sodass er abwehrend die Arme hochriss.
Zugleich aber rollte er zur Seite weg. Der Halogenstrahl erlosch.
Blitzschnell kombinierte er: Der Scheißer hockt da hinter den Büschen!
Zu allererst musste er von dem Präsentierteller weg, bevor die nächste Attacke kam.
Geistesgegenwärtig kam er auf die Beine und hechtete über die Hecke, rollte geschmeidig ab, rutschte mit der nächsten Bewegung dicht an die Hecke heran und wollte in ihrem Schutze entkommen.
Doch er kam nicht weit.