Kettenwerk. Georgian J. Peters
wollte Ulli gebührend in Empfang nehmen.
Von seinem Versteck aus konnte er den Steinplattenweg, der zum Spielplatz führte, gut überblicken. Zwar durfte ein Wolf nur vier Minuten in einem Versteck verweilen, aber er ging davon aus, dass das jetzt niemand mehr kontrollieren würde. Die Taschenlampe seines Vaters hielt er fest im Anschlag.
Sein Plan nahm dann aber doch einen völlig anderen Verlauf.
Einige Minuten schleppten sich dahin, bis ein grelles Licht plötzlich im Kellereingang hinter ihm losbrannte. Das Licht verwandelte sein Versteck in eine helle Bühne und gleichzeitig wurde die Kellertür aufgerissen. Im nächsten Augenblick erschien der alte Possack mit einem Besen bewaffnet. Er stürmte die Stufen hoch und schrie: „Hab’ ich dich endlich, du Strolch!“ Er schrie so laut und schrill, dass seine Stimme brach.
Wie von einer Giftschlange gebissen schreckte Holmi herum, stolperte über den linken Fuß und fiel rücklings in die Tannenhecke.
„Wirst du wohl hier bleiben! He, he, he … halt! Hier geblieben!“
Mit aller Kraft drückte sich Holmi durch das Tannengeäst, strampelte und fiel wenig später auf den Steinplattenweg, wobei er die Taschenlampe seines Vaters verlor. „Scheiße, verdammt!“
Rücksichtslos stocherte Possack mit dem Besenstil hinter Holmi her, blindlings hinein in das Tannengeflecht, doch er traf nur Äste.
Dann entdeckte er die Taschenlampe und gerade, als er sich nach ihr bücken wollte, wurde er mit nur einem Fußtritt auf den Hinterkopf brutal zur Seite gestoßen. Im selben Moment griff sich Holmi die Taschenlampe, rappelte sich auf und stürzte los.
Er nahm geradewegs den Weg zurück zum Schubertring.
„Aaah!“, gellte es durch die feuchte Abendluft und der alte Possack sackte mit dem Kopf zuerst in die Tannenhecke. „Ihr teuflisches Gesindel … aah, aah!“, stöhnte er wild mit den Armen fuchtelnd. „Ich werd’ Euch schon noch kriegen!“
Für die Jungs bedeutete der alte Possack keine wirkliche Gefahr, obwohl er schon seit einigen Abenden auf der Lauer lag, um endlich einen der Übeltäter zu erwischen, die seine Beete zerstörten. Er war ein weißhaariger, hagerer Mann, klein, aber drahtig. Seitdem seine Frau vor knapp zwei Jahren verstorben war, hatte er nicht mehr viel, für das es sich zu leben lohnte. Die Beete waren eine der letzten Erinnerungen an sie, deshalb verteidigte er die Blumen und Pflanzen so vehement.
Durch die Tannenhecke hatten Georgie und Ulli alles verfolgt und im letzten Moment war Georgie seinem Freund zu Hilfe gekommen.
Ohne sich um den alten Possack zu kümmern, sprangen sie über ihn hinweg und rannten zum vorderen Gartenbereich, sprangen über die Hecke, dann nach links zum Schubertring, wo sie Holmi noch entdeckten, wie er davon sprintete, als würde er von tausend räudigen Hunden gehetzt. Sie sahen sich nur an und entschieden, ihn für heute laufen zu lassen.
Stolz holte sich Holmi die drei Punkte.
Hürden an der Mauer
4. September 1968
– 20:30 Uhr –
Kapitel 19
Gespannt klebten sie an seinen Lippen, denn das, was er ihnen anvertraute, klang nicht nach einem ihrer zahlreichen Abenteuer: Klingelstreiche, Leute erschrecken, Cowboy und Indianer spielen. Oder das verbotene Taschenlampenversteckspiel. Das hier klang gefährlich und furchtbringend. Es klang sogar befremdlich, es klang unfassbar.
„Ich hab Euch nie davon erzählt, weil es ’raus aus meinem Kopf war“, fuhr Georgie fort, während er sich zurücklehnte. „Ich hab noch einen Freund. Kessie. Der wohnt noch da … da, wo ich früher gewohnt habe … Wir haben Scheißdinge beobachtet“, finster ließ er den Blick über ihre Gesichter wandern, die noch enger zusammengerückt waren und obwohl es nicht kalt war, fröstelte ihnen.
Georgie erzählte von dem uniformierten Mann und den scheußlichen Viechern, von den Bunkern und den alten Baracken. Er erzählte von der Mauer. „Der hat Leute weggeschafft und wir … wir sind ihm nach … Zum Glück hat er uns nie bemerkt.“
Ulli traute sich, Georgies Erzählung zu unterbrechen: „Wieso?“ Sein Kopf richtete sich auf. „Habt Ihr den denn öfter gesehen? Und wann war das überhaupt?“
„Vor vier Jahren.“
„Komm’ schon, da warst du gerade Mal acht, Mann“, errechnete Matjes scharfsinnig, doch sein Blick verriet Unbehagen.
Zweifelnd streute Kahli ein: „Ja, genau, vielleicht habt Ihr Euch das alles nur eingebildet.“
„Nein, nein, so einfach geht das nich’ … Wir waren immer zu zweit und wir haben den uniformierten Mann fast jedes Wochenende gesehen … fast ein halbes Jahr lang!“, wehrte Georgie entschieden ab, während er vom Kommandositz herunterglitt.
Natürlich hatte er den zweifelnden Unterton in Kahlis Einwand registriert, doch er überhörte ihn. Sein Blick ging zur Ohechaussee.
„Ja, aber wenn das alles stimmt, dann müssen das doch auch andere gesehen haben“, überlegte Holmi und verlagerte sein Gewicht. „Hat man denn niemanden vermisst?“
„Nein, irgendwie nicht, aber die Leute … das waren Männer und auch Frauen … die hatten immer so ’ne Art Sträflingsklamotten an … so gestreifte eben … Und wenn die Hunde sie vorher noch gejagt haben, dann …“
„Hee, hee … nun warte mal“, lenkte Matjes entschieden ein. „Du willst doch wohl nicht behaupten, dass die Hunde …?“
„Doch, verdammt! Das uniformierte Schwein hat immer erst die Hunde losgelassen und die haben dann die Menschen in den gestreiften Klamotten gejagt und regelrecht gerissen“, Georgie sah zur Seite in die Dunkelheit. Er atmete tief durch, bevor er leise fortfuhr: „Danach hat der Kerl die Leichen auf so ’ne Art Leiterwagen gehievt und weggekarrt … und andere Männer mussten ihm dabei helfen.“
„Leichen? Und … und wohin?“
„Ja, Mann, die waren dann tot … weiter hinten rein ins Werk … in der Nähe des letzten Bunkers. Da haben sie sie einfach in eine große Grube geworfen.“
„Och, nun hör’ aber auf!“, entrüstete sich Kahli. „Bunker … ’ne Grube! Gleich erzählst du uns noch, dass da auch Bomben gefallen sind und die große Grube eigentlich’n Massengrab war … Das glaub’ ich nich’!“ Sein Blick löste sich von den anderen, ohne dass sich seine Beine bewegten. Er richtete sich nur auf, stand kerzengerade da, während sein Blick sich tief in Georgies Gesicht fraß.
„Was für ’ne Uniform?“, fragte Tommi.
Georgie wandte sich wieder in die Runde und versuchte, die Uniform als eine aus dem Zweiten Weltkrieg zu beschreiben.
„Und der Typ sieht richtig scheiße aus … Eine Gesichtshälfte ist wegerissen, die andere Hälfte ist irgendwie verbrannt.“
„Hee, jetzt übertreibst du aber echt!“, schlug Kahli zurück, während die anderen mit einem gewaltigen Schrecken kämpften.
„Hee, Mann … auch wenn du das jetzt noch nicht glauben willst.“ und er richtete den Zeigefinger auf ihn, „schon bald kannst du ihn dir mit deinen eigenen Augen angucken!“
„Nein, nein, ich glaub’ nich’, dass du übertreibst“, ergriff Holmi Partei, „aber woher weißt du das mit der Uniform …?“ Eine drehende Handbewegung unterstrich seine Frage: „Na ja, dass sie aus dem Zweiten Weltkrieg ist?“
„Hab nachgesehen in einem Buch von meinen Opa … über die Wehrmacht im dritten Reich.
Ich hab sie verglichen mit dem, was ich mir merken konnte.“ Jetzt sah er alle der Reihe nach an. „Das ist die Uniform eines Blockführers in einem Straflager oder einem KZ-Lager. Der ist so ’ne Art Wärter.“
„Spinnst du uns echt nichts vor?“, schwankte Kahlis Unglaube bereits beachtlich, obwohl ihm nicht entging, dass