Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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      „Klar“, hustete Tommi ein-, zweimal zur Sicherheit. „Ja klar, richtig gut Luft“, dann lachte er sogar und sah abwechselnd beide an, „besser als jemals zuvor!“

      Wenig später verließen sie das Schienengewirr.

      Endlich standen sie vor der Mauer. Gespenstisch baute sie sich vor ihnen auf wie eine riesige Wand, die sich in den feuchten Abendhimmel bohrte.

      25 Minuten waren seit ihrer Überquerung der Tarpenbek vergangen und sie hatten bereits gefährlichste Hürden genommen, um hierher zu gelangen.

      Fast andächtig betrachteten sie das alte Mauerwerk und den Stacheldraht darüber. Bei dem Anblick fröstelte ihnen; in diesem Moment wollte niemand auch nur den winzigsten Laut von sich geben. Sie standen nur da, eng bei einander, und starrten die Mauer an.

      Nur Georgie machte sich hinter dem Rankengestrüpp seitlich der Mauer zu schaffen. Halb war er in dem von Brombeeren, Rosen und Disteln durchzogenem Gestrüpp verschwunden. Wenig später zerrte er ein etwa zwei Meter langes Brett hervor.

      „Steht da nich’ rum“, rief er den Jungs zu. „Helft mir lieber!“

      Holmi hatte sich als Erster von der Mauer gelöst und das Brett gesehen: „Wo hast du das denn her? … Das ist ja’n Gerüstbrett“, verriet sein Kennerblick. Sein Vater ist Maurer und er hat auf dem Bau schon viele solcher Bretter gesehen … An ihren Enden sind sie mit stabilen Eisenteilen verstärkt!

      „Das ist doch egal, los fass’ mit an“, antwortete Georgie und zog das schwere Brett noch weiter hervor. „Das lag hier irgendwo rum.“

      „Du hast echt an alles gedacht“, kam Ulli zu Hilfe. „Hatte mir schon ernsthafte Fragen gestellt, wie wir wohl da rüber kommen wollen.“ Dabei hob er demonstrativ den Kopf und nickte der Mauer zu. Sie stellten das Brett hochkant auf und trugen es einige Meter die Mauer entlang, bis Georgie anhielt und es gegen das alte Mauerwerk, über einen deutlichen Mauervorsprung, eine Wölbung, die dort nicht hin zu gehören schien, kippte.

      Dann schob er das Brett so lange hin und her, zerrte daran und schob, zerrte und drückte, bis es genau auf dem Mauervorsprung lag.

      Schweigend reihten sich die Jungs um das Brett und bestaunten es, die Münder halb offen, während Georgie es in gebückter Haltung bestieg. Mit beiden Händen links und rechts festhaltend, kletterte er hinauf bis zum Mauersims. Dann richtete er sich auf, tastete nach einer glasscherbenfreien Stelle und spähte regungslos auf die andere Seite.

      Nur seine Augen bewegten sich.

      Einige Sekunden vergingen, was den Jungs nicht auffiel, da sie gebannt dem Schauspiel zusahen, ohne zuvor das Drehbuch gelesen zu haben. Doch gerade, als Ulli etwas sagen wollte, kam ihm Georgie zuvor: „Okay Leute.“ Er drehte sich um: „Hier oben müsst ihr auf die Glasscherben im Mauersims aufpassen und auf den Stacheldraht … An dieser Stelle habe ich die Drähte vor ’ner Weile gekappt.“ Er bog die Enden nochmals zur Seite. „Also, einer nach dem anderen auf den Sims klettern und aus der Hocke abspringen … Ich seh’ Euch auf der anderen Seite!“ Ohne sich noch einmal umzudrehen, setzte er mit einem Seitensprung hinüber, und war verschwunden.

      Schlagartig war es still und das blanke Entsetzen griff nach den Jungs, riss sie aus dem Staunen heraus. Mit weitaufgerissenen Augen starrten sie auf die Stelle, wo Georgie gerade noch auf dem Brett gestanden hatte. In langen Fetzen schlich dort jetzt gelblichgrauer Nebel entlang.

      Niemand wollte etwas sagen, geschweige denn sich bewegen und alle wussten, dass sie jetzt allein auf sich gestellt waren.

      Wir müssen zusammenbleiben! Das kann doch nicht so schwer sein!

      Der Erste, der sich rührte, war natürlich Ulli. Er schluckte ein paar Mal trocken, bevor er sagte: „So, Freunde. Den sind wir los.“ Dabei sah er zu Tommi und tippte ihn an: „Los, los, los … Du gehst als nächster.“ Ein mildes Lächeln begleitete seine Worte: „Damit du gar nicht erst ins Grübeln kommst.“

      Erschrocken riss dieser seinen Blick von der Mauer und sagte: „Was soll das denn heißen, Mann?“

      „Nun sabbel’ nich’ … Beweg lieber deinen Arsch aufs Brett … Ich halt’ dich.“ Er packte Tommi am Arm, wollte ihn zum Brett ziehen, doch Tommi blieb stehen wie ein Fels und erwiderte knapp: „Ich kann das nicht!“

      „Hee, hee, hee … Natürlich kannst du … Ich helf’ dir doch!“

      „Nein!“

      Ulli sah seinen dicken Freund an und überlegte, doch dann erhellte sich plötzlich sein Blick und er trat ganz dicht an Tommi heran: „Du kannst gar nicht kneifen, mein Freund“, blitzschnell griff er nach Tommis Schirmmütze und verschob sie, sodass der Schirm wieder tief den Nacken bedeckte. Dann trat er einen Schritt zurück, bedachte Tommi mit einem prüfenden Blick und schlug ihm die flache Hand vor die Stirn, dass es hell klatschte: „Du bist ein Kämpfer! Los’ und jetzt rauf aufs Brett!“

      Widerwillig ließ sich Tommi vor das Brett ziehen, ging in die Knie, als wollte er beten, und krallte sich mit den Händen fest in die Holzkanten. In diesem Moment schwappte der Mut zu ihm hinüber, beflügelte sein Rückgrat mit der nötigen Willenskraft. Er begann, das Brett hinaufzuklettern, während Ulli ihn stützte und zusätzlich anschob.

      Mit einiger Mühe erreichte er den Mauersims und fasste prompt in eine spitzkantige Scherbe. Sofort floss Blut. Ein heller Aufschrei folgte.

      Da er sich noch in der Hocke befand, beide Arme nach oben ausgestreckt, bahnte sich das Blut den direkten Weg in den Ärmel seines Parkas. Am Mittelfinger der linken Hand hatte er sich geschnitten: „Ooh, Scheiße, verdammt!“

      Mit aller Kraft zog er sich hoch, bis er aufrecht stand: „Das blutet wie Sau!“

      „Du stirbst schon nich’!“, rief Kahli zum Mauersims hinauf. „Kletter’ endlich rüber!“

      Mit schmerzverzerrter Miene inspizierte Tommi die Wunde: „Aber …“, sofort saugte er daran, „das brennt wie Feuer!“

      „Egal, egal, Mann … Ich piek’ dir gleich’n Finger ins Auge“, schrie Ulli. „Das brennt noch schlimmer! Los jetzt!“

      „Das muss ich doch abbinden“, kreischte Tommi erregt. „Ich sterbe sonst … Ooh, so ’n Mist!“

      „Quatsch nich’! Mach’ hin!“, kam Matjes lauthals ein paar Schritte näher. „Das bringt dich nicht so schnell um … Aber wenn du nich’ gleich rüber kletterst, dann … dann …!“

      „Dann bring ich dich um!“, brüllte Ulli unter ihm. „Das wird passieren, wenn du nicht gleich drüben bist!“

      Verbissen hielt Tommi die linke Hand hoch und schrie: „Ja, ja, schon gut!“

      Erst jetzt sah er auf die andere Seite und was er sah, war unfassbar. Was für ein entsetzlicher Anblick! Und noch während er das dachte, packte ihn der gewaltige Sog, der ihn hinüberziehen wollte. Er wollte sich umdrehen, den Kopf zu seinen Freunden drehen … Es ging nicht. Er wollte schreien, riss den Mund weit auf, aber es kam kein Laut heraus. Er versuchte, Ulli mit dem Fuß anzutippen, wollte ihn warnen, aber er war nicht mal mehr imstande, diese einfache Bewegung auszuführen.

      Das Licht!

      Ein alles durchdringendes Licht flutete ihm entgegen, grell und gleißend und doch blendete es nicht.

      Nein, zu seinen Freunden konnte er sich nicht mehr umdrehen. Er musste springen!

      Fast ansatzlos und mit der Kraft eines jungen Bären wuchtete er sich über die Mauer, als ob er den Sprung unzählige Male geprobt hatte.

      Durch seinen Absprung rutschte das Brett mitsamt Ulli von dem Mauervorsprung herunter und knallte auf den unebenen Grasboden.

      „Ooh … ooh Scheiße …!“ Ulli klemmte sich alle Finger, da er sich krampfhaft am Brett festgehalten hatte, um das Gleichgewicht zu halten. „Mist, Scheiße, verdammt … tut das weh! Scheiße!“

      In kürzester Folge ratterte er sein gesamtes


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