Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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an und hörte nicht auf zu fluchen.

      Tommi war also gesprungen.

      Anstelle eines tosenden Applauses kam jedoch erdrückende Stille auf, die sogar Ullis Fluchen erstickte, bis plötzlich ein tiefes Grollen aus der Ferne sämtlichen verbliebenen Lebensraum in unmittelbarer Umgebung zu töten drohte. Und rasend schnell gewann es an Lautstärke, was es ihnen unmöglich machte, die Richtung zu orten.

      Als ob ihnen plötzlich das Augenlicht fehlte, flogen ihre Köpfe suchend umher, versuchten, sich durch den gelblich grauen Nebel zu kämpfen, lauschten für Sekunden.

      Irgendwo in der Mitte des Schienenlabyrinths fingen die Gleise an zu summen.

      „Die Bahn!“, schrie Matjes. „Wir müssen hier weg!“ Georgies Worte drängten sich in sein Bewusstsein. „Die U-Bahnen kommen alle zehn Minuten.“

      Wie vom Irrsinn vergiftet, flog Holmi herum und kreischte hell: „Du hast recht, die Bahn … Ooh, verdammt!“ Hastig stürzte er zum Brett, riss es an einer Seite hoch und hievte es zurück auf den Mauervorsprung, dann drückte er das andere Ende mit beiden Füßen fest in den Erdboden. Mit voller Wucht sprang er zur Sicherheit noch einmal drauf. Um seine Freunde, die weiterhin verzweifelt die U-Bahn in dem dichten Nebel zu orten versuchten, kümmerte er sich nicht mehr, er trat zwei Schritte zurück, rannte dann aufrecht das Brett hinauf, nutzte seinen Schwung und setzte mit einem kraftvollen Hocksprung hinüber. In großem Aufruhr fegte Matjes’ Kopf umher, ziellos schossen seine Blicke in den zähen Nebel. Immer wieder lauschte er angestrengt und … er entdeckte die schwachen Lichtkegel der Scheinwerfer rechterhand: „Da! Da ist sie … Sie kommt von da!“, beide Arme in diese Richtung schnellend. Die Lichtstrahlen durchfraßen den Nebel und wie hinter einer riesigen Milchglasscheibe erhellte sich träge das Bahngelände.

      Unterdessen hatte sich Ulli aufgerappelt und war wieder auf das Brett gestiegen. Er sagte kein Wort. Mit drei, vier Schritten erreichte er den Mauersims und sah hinüber.

      Für einen Moment stockte auch er. Und auch er drehte sich nicht noch einmal zu seinen Freunden um. Mit der linken Hand stützte er sich auf einer glasfreien Stelle ab, dann hechtete er hinüber, während die Bahn unaufhaltsam näher kam. Sekundenlang wurden Matjes und Kahli geblendet, da die Bahn eine leichte Kurve nahm, während sich die Jungs damit beschäftigten, ihren ganzen Mut zusammenzuraffen.

      In diesem Moment passierte etwas Unglaubliches: Plötzlich verzog sich der Nebel, wurde nach oben gezogen, wie weggesaugt von einem riesigen Staubsauger. Das machte die Bahn sichtbar und somit das gesamte Bahngelände.

      Kahli wusste nicht mehr, was er tat. Entsetzt griff er nach Matjes’ Hand und krallte sich regelrecht an ihr fest. Fassungslos sah ihn Matjes an, doch nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann flog er herum. Sie mussten handeln!

      „Matjes!“, stieß Kahli gepresst aus. „Du zuerst … Los doch!“

      „Dann lass’ meine Hand los! Du zerquetscht sie ja, Mann!“ Mit einem jähen Ruck riss er sich von ihm los. Auf allen Vieren bestieg er das Brett. Kahli folgte ihm.

      Matjes schwitzte und sein Herz stolperte in seiner Brust. Mit großer Mühe erreichten seine Hände den Mauersims, ertasteten auf Anhieb eine scherbenfreie Stelle.

      Keuchend zog er sich hinauf, schweißnass strich er seine Haare aus dem Gesicht, um gleich darauf zu einem beispiellosen Seitensprung anzusetzen.

      Eine derartig sportliche Leistung war ihm bis dahin nicht gelungen. Es war die nackte Angst, die ihn diese Mauer bezwingen ließ.

      Jetzt war Kahli allein.

      Tief zwängte sich das Grollen in sein Hirn. Mit aller Kraft wollte es seinen Verstand lahm legen. Ein immer stärker werdendes Verlangen überkam ihn, das Brett wieder zu verlassen und sich nach der Bahn umzudrehen. Einfach Pause machen und dem Schauspiel zusehen!

      Wirre Gedankenfetzen zermürbten ihn, während er regungslos auf dem Brett hockte.

      Er konnte nicht vor und nicht zurück. Sein Puls jagte durch sämtliche Blutbahnen und ließ ihn zittern wie Espenlaub. Nur ein kurzer Blick zurück … Warum nicht?

      In seinem Kopf pulsierte es und das Grollen hämmerte an seinen Schläfen, wobei seine Finger sich immer fester ins Holz krallten.

      Doch dann …

      … das dumpfe Grollen, das laute Summen der Stromschienen … Auf einen Schlag war alles um ihn herum verstummt. Der Nebel hatte sich verzogen. Totenstille erreichte ihn und abgrundtiefe Dunkelheit.

      Wie in Zeitlupe wendete Kahli den Kopf … Ooh nein, was ist das? Oh, Gooooott!

      Das war auf keinen Fall eine U-Bahn.

      Diese Bahn war wesentlich älter. Und sie hatte längst nicht so viele Wagons. Kahli zählte gerade mal fünf Wagen.

      Von lautloser Geisterhand wurde sie angetrieben. Absolut nichts war zu hören … Nur sein trommelnder Herzschlag drang durch den offenen Mund an seine Ohren.

      Ganz deutlich konnte Kahli erkennen, dass die Bahn schwebte.

      Sämtliche Wagonfenster waren blutrot eingefärbt. Sie leuchteten greller als Lampions in einem Laternenumzug, als ob es in ihnen lichterloh brannte. Keine dreißig Meter trennten ihn von dem brennenden Ungetüm auf Rädern.

      Kahli spürte wie alles Leben um ihn herum starb. Geräusche wie Vogelgezwitscher, Grillenzirpen, der dumpfe Autolärm von der Langenhorner-Chaussee, alles zog sich zusammen, als würde es von einem riesigen Staubsauger aufgesogen. Wie welkende Blumen in der Vase. Schlaff knickten Pflanzen und Sträucher zur Seite.

      In Schüben trat kalter Schweiß in seinen Achselhöhlen aus. Aus dem Augenwinkel registrierte er alles. Er konnte sich nicht bewegen.

      Es war ein Zustand, als hielte man sich ganz fest die Ohren zu und nahm dadurch nur noch die Eigengeräusche wahr und sah dabei alles gestochen scharf.

      Der Zeitlupeneffekt um ihn herum verschwand nicht.

      Plötzlich ertönte ein unheimlich hoher Pfeifton. Rasend schnell gewann dieser Ton an Lautstärke, veränderte aber auch sein Klangbild.

      Unwillkürlich schoss sein Blick hinauf zum sternenklaren Abendhimmel und im selben Moment schlugen irgendwo in der Nähe Sirenen an. Ohrenbetäubend heulten sie … hoch, hoch und tief, hoch und tief, hoch und tief.

      Bis auf halbe Höhe war die glühende Bahn herangekommen. Was jetzt geschah, war gespenstisch. Für den Bruchteil einer Sekunde war alles still. Auch das Sirenengeheul war weg.

      Mit einem gewaltigen Knall explodierte der Zug. Ein riesiger, aufquellender Feuerball breitete sich aus, schoss rasend schnell auf Kahli zu. Im Nu war es taghell.

      „Ooohh Gooott … aaahhh!!!“, schrie Kahli und wurde gegen die Mauer gedrückt. Die Wucht der Detonation war so immens, dass alles in wilde Bewegung geriet und sofort Feuer fing.

      Wie Streichhölzer knickten größere Bäume um, Büsche, Sträucher, das hohe Gras, die Brennnesseln. Orkanartig stob alles auseinander.

      Im selben Moment spürte Kahli, dass er sich wieder bewegen konnte. Instinktiv zwang er sich zum Umdrehen, bereits in den gewaltigen Feuersog geraten, aber durch die Druckwelle angehoben. Ansatzlos hechtete er über den Mauersims, als ob ihm plötzlich Flügel gewachsen waren, schwebte hinüber, ohne sich abzustützen und ohne den geringsten Gedanken daran zu verschwenden, wie er wohl auf der anderen Seite aufschlagen würde.

      Erbarmungslos schlug die Feuerwalze gegen die Mauer und schoss kerzengerade in den Himmel, als würde die Welt an dieser Stelle enden, baute sich vor der Mauer auf, als wollte sie Kahli demonstrieren, wie unsagbar endgültig ihr Vorhaben war.

      Sie hatten gerade etwas Schlimmes erweckt und es übte bereits eine grauenvolle Macht aus.

      Betty und Kessie

      Sommer 1967

      Im Kinderhort

      Kapitel 20

      Sobald


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