Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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„Ich hatte das alles echt vergessen … ein paar Jahre. Komisch, oder?“

      „Das ist nich’ dein Ernst“, hielt Kahli dagegen, „so etwas vergisst man doch nicht!“

      „Da hat Kahli aber recht“, pflichtete ihm Matjes bei.

      „Ich kann mir das ja auch nicht erklären. Vor einigen Tagen hatte ich diese Erinnerungen und ich habe von jemanden noch andere Dinge erfahren.“ Er wies dabei mit der Hand hinter sich. „Bis vor einigen Tagen hatte Kessie auch alles vergessen und erst jetzt erinnert auch er sich so langsam wieder.“

      „Und von wem hast du noch was erfahren?“, fragte Holmi.

      „Das ist jetzt nicht wichtig“, ließ Georgie den Blick schweifen. Bei der Antwort kreuzten sich flüchtige Blicke, die erfüllt waren mit Verständnislosigkeit.

      Kommentarlos nahmen sie aber dennoch die Antwort entgegen.

      Jetzt wandte sich Georgie ab und sagte: „Okay, dann lasst uns gehen … Es ist gar nicht mal weit weg.“

      Wortlos überquerten sie die Ohechaussee, gingen die Straße hinunter, die zur Tarpenbek führte.

      Plötzlich blieb Georgie stehen und sagte mit fester Stimme: „Eins müsst Ihr noch versprechen, bevor wir dort ankommen … Ihr dürft das alles niemals weitersagen!“

      Mit einer leichten Kopfbewegung deutete er hinter sich: „Wenn es mit Euch klappt, ist das unser Geheimnis. Und egal, was passiert, wir müssen da drinnen auf alle Fälle zusammen bleiben!“, sein Blick hätte töten können, „Ist das klar?“ Er hob die rechte Hand: „Schwört auf alles, was Euch heilig ist!“

      Automatisch riss Ulli die Hand hoch: „Okay, Mann! Reg’ dich ab … Ich schwör’!“

      Auch Tommi und Holmi hoben die Hände. Etwas zögerlich sah Matjes die anderen an, hob dann aber ebenfalls seine rechte Hand: „Ja, ja, ich schwör’.“

      „Kahli! Was ist mit dir? … Du auch!“, forderte ihn Georgie auf.

      „Was soll denn das?“, wollte Kahli abwinken, wurde jedoch von den anderen mit spitzen Blicken beschossen, wobei ihn Holmi mit der flachen Hand vor die Brust stieß: „Los, hee … Komm’ … Du auch!“

      Er wankte, trat einen Schritt zurück, hob dann aber doch die rechte Hand. Widerwillig sagte er: „Wenn Euch das was gibt, okay … ich schwör’!“

      Kurz darauf traten sie auf die große Wiese nahe der Tarpenbek. Ein künstlich angelegtes Flussbett, das sich etliche Kilometer weiter nach Süden Richtung Hamburg schlängelt, um irgendwann in die Alster zu münden.

      An der Stelle, wo sie das Flussbett überqueren wollten, war es etwa einen Meter fünfzig breit. Einige Meter weiter rechts verschwand es in einem Tunnel direkt unter dem Bahngelände. Die Böschung erwies sich als steil und uneben. Zudem war sie an vielen Stellen von dichtem Gestrüpp übersäht. Zuvor waren die Jungs noch nicht an diesem Ort gewesen, da sich jenseits der Tarpenbek das Kinderheim befand. Das wussten sie. Dort waren die schwer erziehbaren Kinder.

      Von dem verwilderten Gelände ging etwas Unheimliches aus. Außerdem kursierten die fürchterlichsten Gerüchte über das Heim und deren Insassen. Haushohe Bäume und dichtes Gestrüpp verdeckten ihnen die Sicht auf das Gebäude und hin zur Tarpenbek war die Mauer des riesigen Geländes größtenteils zerstört.

      Dichtes Buschwerk, Rosenranken und große Brennnesselstauden machten das Eindringen unmöglich, ein Ausbruch war hingegen durchaus vorstellbar. Selbst am Tage wirkte der Ort unheimlich.

      Georgie blieb am Rand der Böschung stehen und leuchtete zum Wasser hinunter, dann schwang er die Taschenlampe und sagte leise: „Ihr müsst viel Anlauf nehmen und springen, so weit Ihr könnt“, dabei leuchtete er noch einmal hinunter und ließ den Lichtstrahl kreisen, von welcher Stelle aus gesprungen werden sollte. Dort war die Böschung relativ eben. Ansatzlos stürmte er hinab, flog über das Wasser und kletterte drüben wieder hinauf. Alle Taschenlampen leuchteten ihm.

      Es sah leicht aus.

      „Na los, das ist nicht schwer“, stieß Georgie heraus, „Ulli, komm’! Du als nächster!“

      Ulli zögerte nicht lange, rannte hinunter und sprang, sofort folgte ihm Holmi und dann Kahli.

      Zurück blieben Matjes und Tommi.

      Mit der Hand schob Tommi Matjes vor und stieß ein „Los!“ durch den Mundwinkel: „Du zuerst. Nun mach’ schon.“

      „Ich weiß nich’ … Ich kann das so schlecht einschätzen.“

      Von der anderen Seite riefen Kahli und Holmi, sie sollen sich beeilen.

      Fünf bis sechs Sekunden vergingen, bis Matjes den Abhang hinabstakste, am Ufer aber stoppte, um gleich darauf zum Sprung anzusetzen. Er schaffte es.

      Als er die Böschung hinaufkletterte, zitterten ihm die Knie, aber er ließ es sich nicht an merken. Wohlwollend nahmen sie ihn oben in Empfang. Die Körperfülle hinderte ihn daran, einen voreiligen Entschluss zu fassen, doch Tommi wollte nicht als Versager dastehen. Automatisch wanderte seine Hand hinauf zur Schirmmütze. Er schob den Schirm tief in den Nacken, leuchtete ein letztes Mal zum Wasser, dann stürmte er los. Die Vibration war auf der anderen Seite zu spüren.

      Trotz seiner Anstrengung erreichte er nicht die nötige Geschwindigkeit. Mit beiden Schuhen landete er im flachen Flussbett, wobei das Wasser Fontänen gleich an ihm hoch und in alle Richtungen spritzte.

      Durch den Schub seines Gewichts kippte er vorn über, kniete wie zum Gebet nieder und brachte nur ein „Ooh, Scheiße … verdammt!“ aus seiner luftarmen Kehle. Schon wollte sich ein Asthmaschub ankündigen, doch den kämpfte er gnadenlos nieder.

      Niemand lachte. Sie bissen sich nur fest auf die Lippen.

      „Iiiihhhhgiiiiitt!“

      Ulli konnte nicht länger an sich halten: „Nun mecker’ mal nich’, mein Bester … Ein Satz nasse Ohren ist unangenehmer.“ Er kam lachend die Böschung heruntergeklettert, um seinem Freund zu helfen. „Na, wie ist das Wasser? Nicht zu kalt?“

      „Halt’s Maul. Das ist nicht witzig!“

      Jetzt endlich prusteten alle ihre Lachsalven heraus.

      Aber auch Georgie kam Tommi zu Hilfe. „Hee, Mann, das war doch großartig, du hast es geschafft!“, versuchte er ihn aufzubauen, „Das bisschen Wasser steckst du doch locker weg … aber jetzt lasst uns verschwinden hier.“

      „Oh, Mann, ist das ein ekliges Gefühl … Ich bin nass bis auf die Socken!“

      Sie kletterten über den mannshohen Zaun, der das Bahngelände umschloss, und Georgie forderte seine Freunde auf, die Taschenlampen auszuschalten: „Ab jetzt kein Licht mehr, das könnte uns verraten!“

      Fades, gelbliches Licht flutete von den abgestellten Zügen herüber – genug jedoch, um sich auf dem Bahngelände zurechtzufinden.

      „Georgie, wie weit denn noch?“, wollte Tommi wissen, da er sich in den nassen Schuhen schrecklich fühlte.

      „Hier noch rüber … und dann sind wir bei der Mauer“, seine Hand zeigte geradeaus, „von hier aus kann man sie noch nicht sehen.“

      Wieder ging er voran.

      Bedingungslos folgten sie, staksten durch gelb eingefärbtes Gestrüpp.

      Natürlich ist es strengstens verboten, sich unbefugt auf dem Bahngelände aufzuhalten, und ganz besonders zu einer Uhrzeit wie dieser.

      Es war die Gefahr, die sie antrieb … Gefahr, die man im Nacken spürte, wenn man jeder Zeit erwischt werden konnte.

      Plötzlich spukte ein Name in Georgies Kopf umher … EBLING … Verdammt! Was soll das sein … EBLING! Ich hab’ den Namen schon mal gehört … Aber wann? Er konnte sich nicht erinnern. Das ergibt doch keinen Sinn! Was zum Teufel ist EBLING?

      Bleierne Gedanken machten ihn um einige Kilos schwerer,


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