Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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die er auf dem Betonboden im WILKONS-Gebäude entdeckt hatte. Sie flößten ihm ungeheure Angst ein.

      Auch Tante Irmtraut kam in den Träumen vor, obwohl das eher angenehme Bilder waren. Sie war es, die ihm von den letzten Unfällen im Werk erzählte und davon, dass sie einfach nicht aufgeklärt werden können. Das wäre dort immer wieder passiert … all die Jahre … schon seit dem Krieg.

      Vor fünf Tagen hatte er Tante Irmtraut zuletzt gesehen.

      Anschließend war er mit dem Fahrrad sofort zu Kessie gefahren und erzählte ihm von den Träumen. Er erfuhr, dass auch Kessie solche Träume hatte. Noch in derselben Stunde machten sie sich auf den Weg, schlüpften durch den Geheimgang und kurz darauf hatten sie ein schauerliches Wiedersehen mit dem Uniformierten.

      Das allein war nicht so schlimm … Das Schlimme war, dass sie erneut Zeugen wurden von grauenvollsten Dingen und diesmal war der Uniformierte imstande, auch sie wahrzunehmen.

      Er hetzte sogar die Hunde auf sie. Sie mussten um ihr Leben rennen. Und nur um Haaresbreite entkamen sie. An diesem Tag entschieden sie sich für absolutes Stillschweigen.

      Das war bislang ihr größtes Geheimnis.

      In seinen Überlegungen fasste Georgie einen kühnen Entschluss: Jetzt wollte er mit seinen Freunden dorthin zurückkehren, um zu testen, um zu sehen, was geschehen würde.

      Wenn er auf den Uniformierten träfe, würde er auch seine Freunde sehen können? Wäre das fahrlässig?

      Träge Stille bedeckte das Bahngelände, obwohl die aufmerksamen Augen der Jungs wieder und wieder hinüber zum Ochsenzoll-Bahnhof schossen, deren Ein- und Ausgänge deutlich zu erkennen waren. Gespenstisch gähnten darunter die Tunnelschächte, aus denen alle zehn Minuten die U-Bahnen grollend herauswuchsen. Dann beschleunigten sie erstaunlich schnell, während sie die leichte Anhöhe bezwangen, auf der sich das riesige Gelände ausrollte.

      Etwa dreihundert Meter war der Bahnhof von ihnen entfernt.

      Zuerst kamen die Scheinwerfer zum Vorschein. Schräg stachen sie aus dem Tunnel heraus, dann erst tauchte die U-Bahn auf.

      Mit einer unscheinbaren Kopfbewegung und einem leisen „Hier“ deutete Georgie hinüber auf die Schienen: „Tote Gleise heißen die.“

      Die Jungs erschraken, als sie Georgies Stimme hörten.

      „Mann, hast du mich jetzt verjagt“, Ulli atmete tief ein und stieß die Luft mit einem „Puuh!“ wieder aus. Er wischte sich über die Stirn, ohne dabei die Kapuze nach hinten zu schieben.

      Die letzten Minuten hatten sie nicht gesprochen, hatten mit den eigenen Gedanken zu tun. Jeder für sich und jeder war auf der Hut, war bereit zum Kampf.

      Enge Gehsteige zogen an den Gleisen entlang und schwache Laternen bedeckten die Züge mit diesem feucht-diesigen Gelbstich. In gezerrten Fetzen hing der Nebel schwer über den Gleisen und es war nicht möglich, nach rechts weiter als zehn Meter zu sehen.

      Nur zum Bahnhof blieb die Sicht erstaunlicherweise frei.

      Von den Zügen drang ein ständiges, elektrisches Summen herüber und drückte dem eingefärbten Gelände einen dämonischen Stempel auf, was den Kampfgeist der Jungs nicht gerade stärkte.

      Georgie bestieg den Steinwall und blieb vor einer der Stromschienen stehen. Die Jungs blieben am Zaun zurück.

      „Hee, was ist?“, fragte Kahli, der sich ein paar Meter vorgewagt hatte. Er lauschte, war dermaßen gespannt, dass er sogar seinen eigenen Puls pochen hörte.

      Plötzlich fingen die Gleise an zu summen. Oder war es die Stromschiene direkt vor Georgies Füßen? Kahli war sich nicht sicher. Mit einem riesigen Schritt wich er zurück und riss dabei Holmi und Ulli mit, die rechts und links hinter ihm standen. Rücklings strauchelten sie dem Zaun entgegen, fielen auf die anderen, die am Zaun hockten und pressten sich allesamt tief in dem Maschendraht.

      Jeder Einzelne stieß grässliche und unnatürliche Laute aus und Tommi schrie, während er versuchte, alle von sich runterzustoßen: „Ooh Gott, verdammt! Ihr Idioten!“

      „Vorsicht, Mann … Pass’ auf, du brichst mir ja das Bein!“, schrie Matjes schmerzverzerrt, da er schräg über ihm lag. Rüde wurde er weggestoßen, doch das ging nicht, da Holmi sich auf ihm wälzte.

      „Ich kann doch nichts dafür!“, brüllte Tommi zurück.

      Und Holmis Stimme kippte: „Warte, warte, warte … Hee, warte!“

      Kahli hatte sich bereits zur Seite gerollt, versuchte mit aller Kraft, sich aufzurichten. Er wankte auf ungelenken Beinen. Ulli kniete im hohen Gras und stöhnte: „Ihr habt alle ’ne Scheibe … Was war ’n los?“

      „Gerade wurden die Schienen unter Strom gesetzt!“, rief Georgie von oben. Weiter brauchte er nichts erklären, da jetzt alle ganz deutlich das metallische Grollen hörten.

      Zeitlupengleich stieg Georgie über die Stromschiene, beugte sich über eines der Gleise, legte die Hand auf die blankgefahrene Oberfläche und sagte mehr zu sich selbst: Hier wird sie lang kommen.

      Dann richtete er sich wieder auf.

      Stählern sah er hinüber zum Bahnhof.

      Gerade kam eine U-Bahn aus dem linken Tunnelschacht, die ein unsagbar dumpfes Grollen vor sich herschob. Zwei grelle Lichtstriche stießen geradlinig hinauf, richteten sich direkt auf Georgie, als wollten sie ihn treffen.

      Anstatt sich ebenfalls in Sicherheit zu bringen, kramte Georgie seelenruhig in seiner rechten Brusttasche. Er brachte ein Zehnpfennigstück hervor, bückte sich in aller Ruhe und legte das Geldstück auf eine der Schienen. Wie vom Donner gerührt kauerten seine Freunde dicht bei dem Zaun und beobachteten ihn. Großes Unbehagen und noch größere Unruhe stiegen in ihnen hoch, da sich die U-Bahn sehr schnell näherte und Georgie immer noch auf den Gleisen stand.

      „Georgie! Was machst du denn da noch, zum Teufel? Mensch … Komm’ schnell!“, schrie Ulli. „Mach’ zu, verdammt!“

      „Schnell, Mann! Komm’!“, Tommi war ums Verrecken besorgt, sogar der Panik nahe, da er wusste, dass er ihm in wenigen Sekunden zu Hilfe kommen würde. Seine Hand verschob bereits den Schirm seiner Mütze zum Nacken, während er sich nochmals „Georgiiiiiieeee!“ schreien hörte.

      Vor Schreck wie gelähmt, brachten die anderen keinen Laut mehr heraus, nur Ulli schrie mit brechend schriller Stimme: „Der Zuuuuug!“

      Georgie reagierte darauf nicht, sondern erhob sich sehr langsam, ohne jedoch den Blick von der U-Bahn zu nehmen.

      Bis auf knappe vierzig Meter war die Bahn jetzt herangekommen und das Getöse hatte sich mittlerweile verzehnfacht. Jetzt erst stieg Georgie zurück über die Stromschiene, die ebenfalls einen ungeheuerlichen Ton von sich gab. Sie setzte ein Summen frei, das dermaßen metallisch klang, als wären die Jungs mit einem gigantischen Kraftwerk verdrahtet. Ohrenbetäubend dröhnte das Grollen, als plötzlich alle wie aus einem Gewehrlauf schrien: „Georgiiiiieeeee!“

      Gefechtsfeuergleich donnerte der Zug heran und als er auf gleicher Höhe mit Georgie war, sprang dieser nur einen kleinen Schritt beiseite und ließ den Zug hautnah an sich vorbeidonnern. Dabei stieß auch er einen Schrei heraus, der dem Urschrei hätte Konkurrenz machen können. Im selben Augenblick brachen tausend Unwetter mit unbeschreiblichem Getöse über die Jungs herein, quetschten sie erneut in den Maschendraht. Wie im Kinderchor rissen sie ihre Münder auf und brüllten alle angestauten Ängste heraus. Undefinierbare Laute wie:

      „Uuuoooaaahhhhh!“, und „Eeeeeeeääääääääähhhhhh!“

      Von außen waren sie einem fahrenden Zug noch niemals so nahe gekommen.

      Sie wären nicht imstande gewesen, die Wagons oder die hellerleuchteten Fenster zu zählen, die rasend schnell an ihnen vorbeikrachten. Die Räder spuckten grelle Funken nach hinten und die Jungs schrien und schrien. Auch Georgie stand auf dem Steinwall und schrie, so laut er konnte.

      Mit Höchstgeschwindigkeit raste der Zug an faszinierten Gesichtern


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