Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok
stark übersteigerter Ausprägung einen der beiden evolutionären Pole der menschlichen Natur: die egoistische Selbstbehauptung bzw. den Willen zur Macht. Die KmP ist durch einen Emotionsmangel auf der einen und gesteigerte Egozentrik, Rücksichtslosigkeit und eine starke Manipulationstendenz auf der anderen Seite charakterisiert. Das »Weniger an Emotion« bedingt ein »Mehr an Ich« und ein »Mehr an Möglichkeiten«, weil Hemmungen fehlen.
Beim Emotionsmangel sind Intensität, Nachhaltigkeit und das Spektrum von Emotionen stark vermindert. Das eingeschränkte Spektrum zeigt sich dadurch, dass Emotionen wie Angst, Freude oder Trauer im Vergleich zu Wutempfinden deutlich unterrepräsentiert sind. »Vor allem werden Emotionen nicht tief, das heißt nicht in hoher Intensität und nicht nachhaltig, erlebt. Es handelt sich daher eher um kurzfristige, reaktive Gefühlsregungen. Aufgrund ihrer Kurzfristigkeit und Gebundenheit an konkrete Auslösesituationen erscheinen Emotionen eher flüchtig. Häufig erwecken sie aufgrund der fehlenden Nachhaltigkeit und der geringen Intensität den Eindruck des Oberflächlichen und Beliebigen.« [11, S. 99]
Der Emotionsmangel zeigt sich in vielen Verhaltensweisen. So ist die Bedeutung anderer Menschen gering und sie erinnern im Leben von Personen mit KmP »eher an austauschbare Statisten als an autonome Persönlichkeiten, zu denen eine bedeutungsvolle Beziehung besteht«. Das verminderte Angstempfinden führt zu riskantem, draufgängerischem Verhalten oder sogar zu Straftaten. Klar, dass solche Personen kaum Empathie empfinden.
Man kann sich den Emotionsmangel so vorstellen, dass die Bereiche, die im Gehirn für Emotionen zuständig sind, stark heruntergeregelt sind. Ein solcher Emotionsmangel ist ein Defizit. Es stellt sich aber die Frage, warum die Evolution eine solche Persönlichkeitsdisposition hervorgebracht hat. »Hier kann man sich viel vorstellen. Angstfreiheit hat Vorteile in Kampfsituationen oder wenn es darum geht, neue Territorien erobern und besetzen zu können.« Evolutionär ist es daher für Gemeinschaften von Tieren oder von Menschen in bestimmten Situationen vorteilhaft gewesen, solche »Individuen in ihren Reihen zu haben. Auch in der jüngeren Geschichte« kann man »manch großem Führer oder Eroberer einen gravierenden Emotionsmangel bescheinigen. Sicher ist, dass das Emotionsdefizit Raum für eine veränderte Balance in der Persönlichkeit eines Menschen schafft. Wer nicht durch Emotionen gebremst und gehemmt wird, dem eröffnet sich ein Raum von Möglichkeiten, der anderen Menschen nicht zur Verfügung steht.« Dieser Raum führt zu einer starken Egozentrik, zum rücksichtslosen Durchsetzen eigener Interessen und zu einer ausgeprägten Manipulationstendenz.
Die starke Egozentrik entspricht dem Prinzip: Ich, ich und nochmal ich. Die eigenen Bedürfnisse werden ohne jede kritische Distanz als legitim und als absoluter Maßstab eigenen Handelns erlebt. Bedürfnisse anderer Menschen sind gleichgültig. Die Tendenz, andere Menschen zu manipulieren, dient dazu, sich Vorteile zu verschaffen. Hemmungsloses Lügen, Instrumentalisierung von Beziehungen, intrigantes Verhalten und eine ausgeprägte Orientierung an eigener Nützlichkeit sind typisch. Das innere Koordinatensystem ist strikt an einem Prinzip orientiert: Nützt mir oder nützt mir nicht. Das eröffnet u. a. die Möglichkeit, hemmungslos zu lügen.
Jeder Mensch kann lügen. Normalerweise muss aber eine gewisse Schwelle überwunden werden, nicht die Wahrheit zu sagen. Denn innerlich gibt es ein Koordinatensystem, das zwischen Wahrheit (so wie sie subjektiv wahrgenommen wird) und Lüge unterscheidet. Bei Personen mit KmP existiert dieses an der Realität orientierte Koordinatensystem nicht. Es ist ersetzt durch ein Koordinatensystem, das ausschließlich an Nützlichkeit orientiert ist. In diesem Sinne fühlt sich etwas als »wahr« an, wenn es nützlich ist – mit der gleichen subjektiv erlebten emotionalen Evidenz. »Das macht hemmungslose Lügner erfolgreich. Denn normale Menschen rechnen nicht damit, dass ein Mensch so hemmungslos lügen kann. Der hemmungslose Lügner profitiert von der weit verbreiteten Annahme, dass die Wahrheit doch wohl in der Mitte liegen müsse. Die Mitte ist für den hemmungslosen Lügner aber immer ein großer Gewinn zu seinen eigenen Gunsten.« [11, S. 102]
Man sollte nicht übersehen, dass die beschriebenen Verhaltensweisen in der Geschichte der Menschheit seit jeher kulturell fest verankert sind. Hier eine vorwiegend »biologische Fehlfunktion« oder gar »eine Erkrankung« erkennen zu wollen, greift zu kurz. Nicht nur am Beispiel Machiavellis wird deutlich, dass diese Verhaltensweisen »lange Zeit in der Gesellschaft zum Beispiel im Sinne ›der Zweck heiligt die Mittel‹ als Ideal galten«. [11, S. 99]
Man darf durchaus folgende Frage stellen: Sind weniger Emotionen, mehr Eigeninteresse, mehr Manipulation nicht Verhaltensideale, die neben der Sonntagsrhetorik in vielen Bereichen von Politik und Wirtschaft anzutreffen sind? [Zusammenfassung nach 11, S. 96–103]
3.2Instabiler Realitätsbezug
Die Definition des Instabilen Realitätsbezugs lautet: »Grundlage des Instabilen Realitätsbezugs ist die Entkopplung von subjektiven Wirklichkeitswahrnehmungen, realitätsbezogenen Kognitionen und realitätsbezogenen Emotionen. Das zentrale Merkmal des Instabilen Realitätsbezugs ist somit die fehlende Verbindung eigener Wirklichkeitskonstruktionen zu realitätsbezogenen Parametern. Frei erfundene Geschichten können so beliebig anstelle realer Geschehnisse oder ergänzend zur Realität eingesetzt werden, wenn dies einem inneren Bedürfnis entspricht (wahr ist, was sich gut anfühlt). Aufgrund der Entkopplung entsteht kein störender kognitiver oder emotionaler Widerspruch im eigenen Erleben. Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen sind daher frei kombinierbar.« [11, S. 258–259]
Weiter wird zu dieser Risikoeigenschaft Folgendes ausgeführt: »Jeder Mensch hat eine eigene Sicht der ›Wirklichkeit‹. Normalerweise gibt es aber eine Verbindung zwischen der subjektiven Wahrnehmung der Wirklichkeit, Gedanken, die sich auf reale Umstände oder Beobachtungen beziehen, und damit verbundenen Gefühlen. Nehmen wir an, jemand sieht einen Hasen auf einer Wiese. Er wird diesen Hasen zwar in einer subjektiven Weise wahrnehmen. Aber meist wird sich diese Wahrnehmung in einem gewissen Spektrum bewegen, wie Hasen von den meisten Menschen wahrgenommen werden können. Zu dieser Wahrnehmung wird es realitätsbezogene Gedanken geben, die mit dem Hasen zu tun haben. Vielleicht erinnert sich die Person an andere Hasen aus der Vergangenheit, sie erkennt Details oder Verhaltensweisen des Hasen, zu denen sie sich Gedanken macht. Die Gedanken beziehen sich in einer gewissen Weise auf die wahrgenommene Realität. Schließlich stellen sich auch noch Emotionen ein, die ebenfalls in einem Realitätsbezug zu den Wahrnehmungen und auch zu den Gedanken stehen. Vielleicht ist die Person berührt oder sie fühlt Sympathie für den Hasen. In jedem Fall werden sich die Wahrnehmungen und die Gedanken ›stimmig anfühlen‹. Das heißt, Wahrnehmungen und Gedanken werden durch ein Gefühl emotionaler Stimmigkeit bzw. Evidenz begleitet.
Zusammenfassend sind damit die Wirklichkeitswahrnehmung, realitätsbezogene Kognitionen und Emotionen miteinander verbunden. Man kann sich das so vorstellen: Drei Bälle sind mit Gummibändern untereinander verbunden. Das lässt einen – subjektiven – Spielraum dafür offen, wie die drei Bälle im Raum angeordnet werden. Der Spielraum ist aber nicht unendlich, weil doch eine gewisse, wenn auch flexible, Verbindung besteht. Beim Instabilen Realitätsbezug fehlt diese basale Verbindung. Es gibt eine vollständige Entkopplung.
Der instabile Bezug zur Realität hat verschiedene Konsequenzen. Er führt zunächst dazu, dass die Grenze zwischen Realität und subjektiver Realitätskonstruktion nicht durch eine stabile, evident erlebte Emotion gesichert ist. Vielmehr erscheinen unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen damit beliebig und austauschbar. Sie fühlen sich alle gleichermaßen stimmig an. Das eröffnet die Möglichkeit, in beliebig vielen Situationen die Realität anzupassen, indem unzutreffende Behauptungen aufgestellt oder Geschichten erfunden werden.
Betroffene mit Instabilem Realitätsbezug können darum Geschichten und Begebenheiten beliebig einsetzen und umformen, ohne dass sie durch einen festen Bezug zur Realität hieran innerlich gehindert wären.« [11, S. 259]
3.3Basale Wahrnehmungsmuster
Basale Wahrnehmungsmuster sind eine eigene Gruppe von Risikoeigenschaften. Es handelt sich um stereotype und tief in die Persönlichkeit integrierte »Grundmuster der Wahrnehmung«, die wie folgt beschrieben