Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok
wahrgenommen werden. Es geht also darum, wie eine Person die Außenwelt wahrnimmt und wie sie diese Außenwelt interpretiert.
Da es sich um grundlegende Muster der Wahrnehmung handelt, ist mit dem Wahrnehmungsmuster auch eine vorherrschende Grundbefindlichkeit verbunden. Das heißt, das Basale Wahrnehmungsmuster prägt auch die Art, wie ein Mensch die Außenwelt erlebt, und damit auch, in welcher Grundbefindlichkeit er sich in dieser Welt bewegt. Es liegt auf der Hand, dass die Basalen Wahrnehmungsmuster damit einen großen Einfluss auf das Verhalten einer Person haben. Besonders groß ist der Einfluss dabei auf die Art, wie eine Person sich in sozialen Kontexten verhält und Beziehungen gestaltet.
Mit Außenwelt ist die Welt gemeint, so wie sie durch eine Person wahrgenommen und erlebt wird, also all ihre Erscheinungsformen. Es geht also nicht darum, wie sich eine Person selber erlebt, wie sie innere Prozesse, Gedanken oder Befindlichkeiten wahrnimmt. Gemeint ist das vorrangige Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster, mit dem Informationen aus der Außenwelt gesehen, gedacht, gefühlt und in diesem Sinne wahrgenommen, bewertet und erlebt werden.« [11, S. 330]
FOTRES kennt achtzehn Basale Wahrnehmungsmuster, von denen nachfolgend zwei beispielhaft dargestellt werden (»versagend« und »provozierend«).
3.3.1Basales Wahrnehmungsmuster: Versagend
Das Basale Wahrnehmungsmuster »versagend« wird wie folgt definiert: »Basale Wahrnehmung der Welt als ein Ort, an dem Betroffene nicht das bekommen, was ihnen eigentlich zusteht. Betroffene fühlen sich benachteiligt. Frustration, Neid und Ärger sind oft typische Gefühle.«
Weiter wird zu dieser Eigenschaft Folgendes ausgeführt: »Betroffene nehmen die Welt als einen Ort wahr, der ihnen etwas vorenthält. Ihr Grundgefühl entspricht folgender Überzeugung: ›Ich bekomme nicht das, was mir zusteht, nicht das, was ich eigentlich verdienen würde.‹ Man kann auch vom Syndrom der ›zu kurz Gekommenen‹ sprechen. Überall entdecken sie eigene Benachteiligung und umgekehrt ungerechtfertigte Bevorzugung anderer Personen. Aus dieser subjektiv empfundenen, sich in vielen Situationen fortsetzenden Ungerechtigkeit sehen sie sich oft in einer moralisch legitimen Position, sich mit allen Mitteln für ihr Recht einzusetzen, das man ihnen vorenthält. Nach dem Motto, der gute Zweck heiligt die Mittel, gehen sie dabei selber rücksichts-, hemmungslos und penetrant vor.
Der versagende Aspekt kommt dadurch zum Ausdruck, dass häufig eigene Leistungen oder Verdienste angenommen werden, die nicht die ihnen vermeintlich zustehende Anerkennung erfahren. Die versagende Qualität bezieht sich daher oft auf besondere Leistungen in Schule, Beruf oder in der Familie oder auf besondere Eigenschaften wie eigene Schönheit, Intelligenz, Kreativität, Geradlinigkeit etc., die von der Umwelt nicht gesehen und fälschlicherweise nicht gewürdigt werden. Häufig finden sich hierfür generelle Erklärungen wie z. B. Mobbing, rassistische Vorurteile, Benachteiligung wegen geringer Körpergröße, Geschlechterdiskriminierung, Neid auf die eigenen überdurchschnittlichen Fähigkeiten und Qualitäten. Frustration, Neid und Ärger sind bei den Betroffenen typische Gefühle.« [11, S. 335]
3.3.2Basales Wahrnehmungsmuster: Provozierend
Das Basale Wahrnehmungsmuster »provozierend« wird wie folgt definiert: »Basale Wahrnehmung der Welt als provozierender Ort, an dem man stets mit Provokationen, Zumutungen, Unverschämtheiten rechnen muss. Eine permanente wut- und/oder ärgergeprägte Reaktionsbereitschaft ist häufig.« [11, S. 354]
Weiter wird zu dieser Eigenschaft Folgendes ausgeführt: »Bei Betroffenen liegt eine ausgeprägte Disposition dafür vor, das Verhalten anderer Menschen subjektiv als Provokation, Unverschämtheit oder Zumutung wahrzunehmen.
In der subjektiven Sicht ist die Welt damit ein Ort, an dem man ständig mit Provokationen, Unverschämtheiten und Zumutungen rechnen muss. Betroffene sehen den Grund dafür nicht in einer eigenen, besonderen Empfindlichkeit, die einer verzerrten Wahrnehmung entspricht. Vielmehr verorten sie die Ursache des Problems ausschließlich in der Umwelt. Dort wimmelt es von Menschen, die selbstverständlich auf der Hand liegende Regeln missachten, einen für dumm verkaufen, über den Tisch ziehen wollen oder die sich anderweitig unverschämt und provozierend verhalten. Dieses grundlegende Wahrnehmungsmuster führt oft dazu, dass Betroffene heftige Gefühle aus dem Spektrum Wut, Ärger und Empörung verspüren. Einige Betroffene engagieren sich in sozialen Medien, als Leserbriefschreiber, Online-Kommentatoren oder auf eigenen Plattformen, um ihrer Wut und Empörung über die allerorts gegenwärtigen Missstände und Skandale Ausdruck zu verleihen.
Weil die Welt und die Menschen so sind, ist es für Betroffene auch nicht verwunderlich, dass sie häufig in Konflikte geraten. Einem idealisierten Selbstbild entspricht es oft, für Schwächere einzutreten, die Rolle des ›Fels in der Brandung‹ zu übernehmen oder über ein besonderes Gerechtigkeitsempfinden zu verfügen.« [11, S. 354–355]
4Vernunft und Evolution
Bereits am Anfang dieses Buches wurden die zentralen evolutionären Prägungen skizziert. Ich habe auf den Irrtum hingewiesen, dass der Zweck der Vernunft darin bestehe, die Wirklichkeit zutreffend zu erkennen. Wir haben in den Beispielen typischer psychologischer Verzerrungen eine Reihe konkreter Schwachstellen und Fehlerquellen der menschlichen Vernunft kennengelernt. Verschiedentlich erfolgte der Hinweis auf den evolutionären Sinn dieser Mechanismen (z. B. Halo-Effekt, Kap. 2.3). Aus einer aufklärerischen vernunftorientierten und humanistischen Perspektive sind diese Mechanismen ein Ärgernis und von hoher praktischer Relevanz. Um dieses Ärgernis noch besser zu verstehen, lohnt es sich, nun noch einmal genauer nach seinen Entstehungsbedingungen und seinem Sinn zu fragen. Denn es steht die Frage im Raum: Warum sind wir so und nicht anders konstruiert?
4.1Instinktverhalten: Stereotyp, aber oft effektiv
Vergegenwärtigen wir uns zunächst den Ausgangspunkt unserer Entwicklung. Ein Großteil der im Tierreich vorgenommenen Bewertungen und darauf gründenden Handlungen hat mit Instinktverhalten zu tun. Instinktverhalten bedeutet: Durch einen Schlüsselreiz wird ein weitgehend automatisiertes Verhalten ausgelöst. Schildkröten, die aus dem Ei schlüpfen, laufen umgehend in Richtung Meer. Katzen jagen einer Maus hinterher, wenn sie eine solche sehen. Einem Hund kann man bestimmte Verhaltensweisen durch Belohnung und Bestrafung antrainieren. Auch das vorwiegend durch Instinkte geprägte Verhalten von Tieren lässt eine gewisse Variabilität zu. So spielen zum Beispiel aktuelle Bedürfnisse, Hunger, Durst, die Nähe zu Artverwandten, bestimmte Stimmungen oder viele andere Aspekte eine Rolle dafür, wie ein konkretes Verhalten aussieht. Auch ist nicht jedes Tier gleich, sondern sein Verhalten unterscheidet sich im Vergleich zu Artgenossen aufgrund individueller Charaktereigenschaften. Jeder, der schon einmal mit Hunden oder Pferden zu tun hatte, weiß um diese Individualität eines spezifischen Charakters. Generell lässt sich aber sagen, dass ein wesentlicher Teil des Verhaltens von Tieren den stereotypen Mustern des Instinktverhaltens folgt.
Wenn wir uns im Wald einem Reh nähern, dann wird es in aller Regel davonlaufen. Das Verhalten entspricht einem Instinkt und wird stereotyp ausgelöst. Es müsste ein großer Aufwand betrieben werden, um dieses Instinktverhalten bei bestimmten Individuen – zum Beispiel durch gezieltes Verhaltenstraining – zu überlernen.
Die Ausgangslage ist: Mensch in Sicht, in Hör- oder Riechweite, das heißt: weglaufen. Das Reh prüft nicht, mit welcher Motivation sich der Mensch nähert oder ob er vielleicht sogar etwas Nützliches bewirken kann. Eine differenzierte Erfassung der Situation des sich nähernden Menschen entfällt. Vielleicht verpasst das Reh mit diesem stereotypen Verhalten manchmal auch eine Chance. Vielleicht war es ein Mensch, der Rehe mag, der wiedergekommen wäre und Futter gebracht hätte.
Dieses konstruierte Beispiel zeigt ein wichtiges Grundprinzip instinktorientierten, stereotypen Verhaltens. Ein Verhalten wird schnell – ohne zu überlegen – und mit einer klaren Richtung (weglaufen) ausgelöst. Das ist der Vorteil. Die Nachteile liegen in der Generalisierung und dem Automatismus. Könnten Situationen differenzierter