Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok
2.8). Taleb bringt zahlreiche Beispiele für verzerrte Wahrnehmungen, haltlose Kausalitäten und Geschichten, die uns subjektiv einleuchtend und überzeugend erscheinen. Er bezeichnet dieses Phänomen als »Theoretisierungskrankheit«, von der viele Menschen befallen seien. [5, S. 90ff.]
Zu Recht betont er dabei die Rolle der Medien. Denn deren berufsmäßige Bestimmung ist es, am laufenden Band vermeintliche Kausalitäten und stimmige Geschichten zu produzieren. Viele der so verbreiteten Kausalitäten und Geschichten halten einer Prüfung nicht stand. Witzig und gleichzeitig anschaulich ist folgendes Beispiel, das Taleb schildert:
»An einem Tag im Dezember 2003, als Saddam Hussein gefasst worden war, verbreitete Bloomberg News um 13:01 Uhr die folgende Schlagzeile: ›US-Staatsanleihen steigen; Ergreifung von Hussein wird den Terrorismus vielleicht nicht eindämmen.‹
Wenn der Markt sich bewegt, fühlen die Nachrichtenmedien sich immer verpflichtet, den ›Grund‹ dafür zu nennen. Eine halbe Stunde später war eine neue Schlagzeile nötig. Die US-Staatsanleihen waren im Preis gefallen (sie fluktuieren den ganzen Tag über, das war also nichts Besonderes), und Bloomberg News hatte dafür einen neuen Grund: die Ergreifung von Saddam (demselben Saddam). Um 13:31 Uhr kam das nächste Bulletin heraus: ›US-Staatsanleihen fallen; Ergreifung von Hussein steigert Attraktivität riskanter Anlagen.‹
Die gleiche Ergreifung (die Ursache) wurde also als Erklärung für ein Ereignis und sein genaues Gegenteil benutzt. Das kann natürlich nicht sein; die beiden Fakten können nicht miteinander im Zusammenhang stehen […].
Es passiert ständig: Man führt einen Grund an, damit wir die Nachricht schlucken und die Sache konkreter aussieht. Nach der Wahlniederlage eines Kandidaten wird man uns die ›Ursache‹ für die Verärgerung der Wähler liefern. Dafür ist jede erdenkliche Ursache recht. Die Medien bemühen sich aber sehr, den Prozess durch die Heerscharen ihrer Mitarbeiter, die die Fakten überprüfen, ›gründlich‹ zu machen. Sie wollen sich anscheinend mit unendlicher Genauigkeit irren (statt zu akzeptieren, dass sie in etwa recht haben, wie die Verfasser von Fabeln).« [5, S. 101]
Im Zusammenhang mit verzerrenden und oft haltlosen Kausalitäten behandelt Taleb auch das Thema der stummen Zeugen. Stumme Zeugen sind ein Spezialfall der WYSIATI-Regel, wie sie vorangehend dargestellt wurde (Kap. 2.4). Das, was wir nicht wahrnehmen, gibt es im inneren Verarbeitungsprozess nicht. Es kann daher auch nicht angemessen berücksichtigt werden. Diesem Schicksal sind stumme Zeugen nahezu immer ausgesetzt. So werden geschichtliche Epochen stets durch die Überlebenden und in der Regel durch die Sieger bzw. die Mächtigen erklärt. Die Verfolgten, die Unterdrückten, die auf den Schlachtfeldern Dahingemetzelten oder auf andere Art frühzeitig Verstorbenen können sich nicht mehr äußern. Sie geraten in Vergessenheit und sind typische Vertreter der Gattung der stummen Zeugen. Auch in der Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte können selbstverständlich nur die Arten Berücksichtigung finden, die fossile oder zumindest genetische Spuren hinterlassen haben. Diejenigen, die sang- und klanglos ausgestorben sind, ohne für uns Nachfahren irgendwelche Zeugnisse ihrer Existenz zu hinterlassen, kommen in unseren Vorstellungen und den wissenschaftlichen Modellen nicht vor. Es ist, als hätte es sie nie gegeben.
Mit Recht verehren wir große Komponisten und große Autoren. Ihre Größe und den Wert ihrer Werke messen wir meist an anderen Komponisten und anderen Autoren, die uns bekannt sind. Diese Vergleichsgruppe ist aber sehr willkürlich gewählt. Denn es gibt Millionen von Musikern und Millionen von Schriftstellern, deren Werke nie publiziert wurden oder aus anderweitigen Gründen für immer in Vergessenheit geraten sind. Vielleicht sind sie früh verstorben, vielleicht konnten sie ihre musikalischen oder literarischen Fähigkeiten aufgrund ihrer sozialen Situation nicht entfalten. Vielleicht gerieten ihre Werke aus anderen Gründen für immer in Vergessenheit. Noch viel wahrscheinlicher ist es aber, dass sie gar keinen Musikproduzenten oder keinen Verleger gefunden haben. Renommierten Buchverlagen werden jedes Jahr viele Tausend Manuskripte zugeschickt. Die wenigsten davon werden gelesen und fast alle werden abgelehnt. Sie verschwinden für immer in der Versenkung. Es wäre völlig naiv anzunehmen, dass unter den vielen Millionen verhinderten Musikern und Schriftstellern nicht auch etliche große Persönlichkeiten mit hervorragenden Werken waren. Aber wir kennen sie nicht und werden sie niemals kennenlernen. Ja, wir halten sogar gerne die Illusion aufrecht, dass die großen Meister, die uns bekannt geworden sind, deswegen erfolgreich waren, weil sie sich von den vielen Namenlosen entweder in persönlichen Eigenschaften oder in der Qualität ihrer Werke unterscheiden. Taleb weist mit Recht darauf hin, dass neben dem zweifellos nützlichen Talent, über das ein Künstler verfügt, auch jede Menge Glück und Zufälligkeiten dafür entscheidend sind, dass er und seine Fähigkeiten bekannt werden. So, wie Erfolg im Leben fast immer etwas – zumindest auch – mit Glück und Zufall zu tun hat. [5, S. 131ff.]
2.12Generalisierung: Der unterschätzte Denkfehler
Ähnlich wie Kahneman gelingt es Taleb, uns auf oft witzige und manchmal provokante Weise vielfältige Verzerrungen unserer Wahrnehmung und unseres Denkens vor Augen zu führen. Er ist selbst aber auch ein gutes Beispiel für ein anderes Phänomen, das bei den Verzerrungstendenzen unseres Denkens bislang kaum berücksichtigt wurde. Es handelt sich um die Tendenz zur Generalisierung und Verabsolutierung von Prinzipien (Ordnungen, Regeln, Theorien, Erklärungen u. a.), die wir entdeckt zu haben glauben. Das Phänomen der Generalisierung ist die dritte Stufe im später noch vorgestellten RSG-Modell (Registrieren, Subjektivieren, Generalisieren; vgl. Kap. 5). Aufgrund der vielfältigen kausalen Erklärungen und stimmigen Geschichten, die wir haltlos in bestimmte Ereignisse hineinprojizieren, hegt Taleb ein tiefes Misstrauen gegenüber allen kausalen Annahmen und plausibel wirkenden Erklärungen. Damit überspannt er seinen Ansatz. Der hat zwar in vielen Bereichen seine Berechtigung, wird aber dann zum Problem, wenn er zu stark ausgeweitet und generalisiert wird. So übersieht oder diskreditiert Taleb Kausalitäten auch dort, wo sie ihre Berechtigung haben. Hierzu lassen sich in seinem Buch zahlreiche Beispiele finden. Eines davon betrifft die Ausrottung von Tier-, Pflanzen- und früheren Menschenarten. Taleb verweist auf den Umstand, dass fast alle Arten, die je auf unserem Planeten gelebt haben, irgendwann auch wieder ausgestorben sind. Das ist vielen Menschen nicht bewusst, weil es sich auch bei diesen vielen Arten um stumme Zeugen handelt. Wir übersehen, dass die in der Gegenwart anzutreffende Artenvielfalt nur einen kleinen Bruchteil all jener Arten ausmacht, die im Lauf der Erdgeschichte ausgestorben sind. Das Überleben einer Art ist also fast immer eine höchst temporäre Angelegenheit und das Aussterben der absolute Normalfall. So weit, so gut. Taleb sagt dazu:
»Nahezu 99,5 Prozent der Arten, die die Erde irgendwann einmal bevölkerten, sind heute ausgestorben – eine Zahl, die die Forscher im Laufe der Jahre immer weiter erhöht haben. Das Leben ist viel zerbrechlicher, als wir gedacht haben. Das heißt aber nicht, dass wir uns wegen des Aussterbeprozesses, der um uns herum abläuft, schuldig fühlen müssten. Und auch nicht, dass wir etwas unternehmen sollten, um ihn aufzuhalten. Die Arten sind schon gekommen und wieder verschwunden, bevor wir angefangen haben, die Umwelt zu verschmutzen. Es besteht keine Notwendigkeit, uns für jede bedrohte Art moralisch verantwortlich zu fühlen.« [5, S. 141]
Dieser Einschätzung liegt ein Denkfehler zugrunde. Taleb begeht ihn, weil er durch die Generalisierung seiner Entdeckung der stummen Zeugen und der entsprechenden Skepsis gegenüber Kausalität eine zutreffende Kausalität völlig übersieht. Deswegen ist seine Beurteilung, dass wir uns wegen des Aussterbens vieler Arten nicht zu große Sorgen machen sollten, schlicht falsch. Denn bei dieser Frage ist der entscheidende Punkt in der Tat die Kausalität, also die Frage, wer für das Aussterben einer Art verantwortlich ist. Das allgemeine, abstrakte Argument vom Aussterben der meisten Arten kann nur auf diejenigen relativierend zutreffen, für die der Mensch nicht verantwortlich ist. Die abstrakte und von uns häufig unterschätzte Dimension des Aussterbens relativiert aber selbstverständlich in keiner Weise die Verantwortung, die wir für die von uns verursachte Ausrottung der Arten tragen.
Man kann das durch zwei kleine Beispiele verdeutlichen. Nehmen wir an, wir verweisen darauf, dass das menschliche Leben – zumindest bislang – immer