Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok
gegeben werden können. Der Begriff »Gegeben-Werden« soll zum Ausdruck bringen, dass es sich um einen spontanen passiven Vorgang handelt. Er läuft also automatisch und unbewusst ab. Es muss nicht aktiv – zum Beispiel durch gedankliche Verarbeitung – etwas getan werden. Kant sagt es so: »[…] vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe.« [2, S. 33]
Nach Kant sind der Raum und die Zeit reine Formen der Anschauung. Damit ist gemeint, dass diese uns über die Sinne gegebenen Kategorien als Eigenschaften auch für die Gegenstände objektive Gültigkeit haben – unabhängig von unserer Wahrnehmung und unserem Bewusstsein.
Aufbauend auf diesem Grundgedanken untersuchte Kant, wie unser Verstand funktioniert, wenn er die sinnliche Wahrnehmung eines Gegenstandes weiterverarbeitet. Elementar für diesen Verarbeitungsprozess sind Urteile, mit denen irgendetwas über den Gegenstand ausgesagt wird. Eine Systematik der Form dieser Urteile legte Kant in einer Tafel dar, in der er aus reinen Urteilsformen eine Liste reiner Verstandesbegriffe (Kategorien) ableitete. Die Tafel gilt nicht als vollständig und muss heute zum Teil in ihren Zuordnungen revidiert werden. Wichtig ist aber der Grundgedanke: Nach Kant gibt es Funktionskategorien unseres Verstandes, die für uns die Vorstellung einer objektiven Außenwelt konstituieren, also qualitativ, quantitativ, relational oder modal bestimmte Kategorien wie Einheit, Negation, Kausalität, Notwendigkeit etc. Die reinen Verstandesbegriffe, die Kant postulierte, leitete er aus der Tatsache ab, dass wir ein eigenes Identitätserleben haben. Demnach nehmen wir uns als ein Wesen war, das sich seiner Existenz selbst bewusst ist. Darum müssen wir uns zwingend von einer unabhängig von uns bestehenden Welt unterscheiden. Denn Identität kann nur in der Abgrenzung von etwas anderem geschaffen werden.
Das Element der »sinnlichen Affizierung« (die automatisch ablaufende Wahrnehmung von Gegenständen, bevor das Denken einsetzt) hat in den Überlegungen von Kant eine Schlüsselstellung. Denn es ist das Tor zum Erkennen objektiv gültiger Kategorien, die unabhängig von unserem Bewusstsein existieren. Genau dieser Punkt ist allerdings auch sehr umstritten. Denn er entwertet alle Erkenntnismöglichkeiten des Bewusstseins abseits der sinnlichen Affizierung.
Dieser Streitpunkt knüpft an die Kontroverse von Rationalisten und Empiristen an, die sich später und bis heute zum Beispiel in der Rezeption des Positivismus fortsetzt. Ich will bereits an dieser Stelle feststellen, dass ich die Möglichkeiten zur Generierung wirklichkeitsnaher Erkenntnisse durch reine, im Bewusstsein erzeugte Ideen ebenfalls stärker gewichte, als Kant dies tat. Dementsprechend stimme ich auch keinesfalls der Meinung strikter Empiristen zu, nach der reine Empirie der einzig wissenschaftlich legitimierte Weg für objektiv gültige Erkenntnisse ist. Hierauf werde ich später noch genauer eingehen (Kap. 7.4 und 12.16).
1.3Trotz aller Bedenken: Denken lohnt sich!
Halten wir hier einfach einmal fest, dass es umstritten ist, ob es synthetische Urteile a priori geben kann oder nicht. Die meisten Autoren gehen aber – in Übereinstimmung mit Kant – davon aus, dass prinzipiell Erkenntnisse über Wirklichkeit nicht nur durch die Auswertung von Erfahrungen möglich sind, sondern – etwas zugespitzt ausgedrückt – auch durch reines Denken.
Ich teile diese Auffassung. So bin ich davon überzeugt, dass durch Gedankenexperimente oder durch die freie Variation im Sinne der Phänomenologie (vgl. Kap. 7.3) nicht nur eine Reproduktion bestehender Regeln oder eine haltlose Spekulation generiert werden können. Gerade Kant selbst ist ein Beispiel dafür, welch bahnbrechende Erkenntnisse durch Gedankenexperimente hervorgebracht werden können. Denn seine Untersuchungen im Zusammenhang mit synthetischen Urteilen a priori sind nichts anderes als das. Auch Einstein nutzte Gedankenexperimente sehr intensiv. Einige seiner Ergebnisse wurden sehr viel später durch Experimente bestätigt, andere widerlegt. Richtig ist aber der Einwand, dass zum Beispiel Gedankenexperimente nicht empirisch überprüfbar sind, sofern sie sich nicht auf theoretisch überprüfbare Schlussfolgerungen beziehen. Das mag ein Nachteil sein. Aber bei näherem Hinsehen erkennt man, dass viele wichtige Fortschritte in der Wissenschaft nicht durch Experimente, sondern zunächst durch Gedankenexperimente erreicht wurden. Manchmal konnten sie erst viele Jahre später – a posteriori – experimentell bestätigt wurden. Ohnehin ist es so, dass die experimentellen Methoden der Empirie häufig überschätzt werden (vgl. Kap. 6).
Auch hier darf noch einmal auf Kant verwiesen werden. Er demonstrierte am Beispiel der Physik – übertragen gilt das für jede Naturwissenschaft –, dass experimentelle Methoden keineswegs mit Empirie gleichzusetzen sind. Patzig schreibt dazu: »Der Physiker, wie jeder Naturwissenschaftler, muß von einer bestimmten Hypothese ausgehen, und seine Experimente müssen Antworten auf gezielt formulierte Fragen liefern.« [3, S. 15]
Bei Kant klingt das so: »Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf.« [2, S. XIII]
Die Vernunft erkennt Kant zufolge in der Natur also nur das, »was sie selbst nach ihrem Entwurfe« in die Natur hineingetragen hat. »Diese Aussage«, so Patzig, »räumt der Spontanität der Vernunft bei der wissenschaftlichen Erkenntnis der Wirklichkeit eine führende, ja ausschließliche Rolle ein.« [3, S. 15]
Neben der Vorstrukturierung durch Hypothesenbildung gibt es einen weiteren Nachteil von naturwissenschaftlichen Experimenten: Immer wird durch ein Experiment die Komplexität der wirklichen Verhältnisse drastisch reduziert. Häufig führt das auf dem Papier und in PowerPoint-Präsentationen zu schön darstellbaren Ergebnissen, die aber leider zu Verzerrungen und falschen Schlussfolgerungen führen. Das ist ein gravierender Einwand gegen experimentelle Methodik. Wir werden uns mit den vielfältigen praktischen Konsequenzen dieser Problematik noch genauer beschäftigen. Genau das ist aber ein großer Vorteil von Gedankenexperimenten. Denn sie sind weit weniger auf die Reduzierung von Komplexität angewiesen.
Die Strukturregeln unseres Erkenntnisvermögens laden zwar zu Verzerrungen ein und sind mit zahlreichen Limitationen verbunden. Aber wenn man die Prinzipien und die Fallstricke kennt, lässt sich dessen Potenzial besser nutzen. Und dieses Potenzial ist trotz aller Einschränkungen groß. Denn die Strukturprinzipien unseres Verstandes eröffnen ein Spektrum von unendlich vielen möglichen Gedanken und Kombinationen von Gedanken. Dass dadurch – zumindest manchmal – nicht nur eine quantitative Aussage gemacht ist, sondern auch qualitativ – ähnlich dem oft zitierten Quantensprung – eine über die ursprünglich engen Grenzen hinausweisende Erkenntnis möglich sein soll, scheint mir eine plausible Annahme zu sein. Warum soll etwas Unendliches von vornherein begrenzt, also qualitativ endlich sein?
1.4Zusammenfassung erkenntnistheoretischer Grenzen
Unsere Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten sind durch viele Vorstrukturierungen geprägt, bevor sie überhaupt in Gang gesetzt werden. Ich habe diese Grundeinstellungen vorangehend mit einem Betriebssystem verglichen. Es gibt nur dieses eine Betriebssystem, das den Rahmen vorgibt. So wie ein Computer durch sein Betriebssystem begrenzt wird, gehen mit dem menschlichen Gehirn bestimmte Dinge und andere gehen nicht. Diese Grundeinstellungen sind die harten Grenzen unserer Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit. Psychologische Mechanismen spielen hier noch keine Rolle. Gerade sie sind es aber, die im vorliegenden Buch im Zentrum stehen. Dazu zählt z. B. unser Hang, Beurteilungen, Prinzipien, allgemein verbreitete oder subjektiv höchst naheliegende und vertraute Meinungen zu verabsolutierten und als allgemeingültig anzusehen. Notwendige Differenzierungen und das Sowohl-als-auch bleiben auf der Strecke. Das