Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok

Darwin schlägt Kant - Frank Urbaniok


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Vernunft ist ein faszinierendes Instrument dafür, uns selbst und die Welt um uns herum zu erkennen und einzuordnen. Aus dieser Tatsache wird ein unreflektierter Kurzschluss abgeleitet. Weil man mit der Vernunft die Wirklichkeit erkennen kann, sei das genau auch der Zweck unserer Vernunft. In der christlichen Tradition klingt das so: Gott habe den Menschen die Vernunft gegeben, um Gott und Gottes Schöpfung erkennen zu können. Denn nur mit diesem Geschenk sei es möglich, die Existenz und die Größe Gottes zu erkennen, sich für die richtige Religion zu entscheiden und die Welt sowie die eigene Existenz zu verstehen. Aber auch ohne diesen religiösen Bezug hat man immer angenommen, der Mensch besitze seine Vernunft, damit er die Welt und sich selbst richtig erkennen und einordnen könne. Das ist falsch. Vor allem aber ist dieses Missverständnis über den Zweck der Vernunft eine schlechte Voraussetzung, die Vernunft »vernünftig« anzuwenden. Denn es macht die Vernunft noch viel fehleranfälliger, als sie es ohnehin schon ist. Ich will den Gedanken anhand eines Beispiels verdeutlichen. Dabei versetzen wir uns in die Zeit der Urzeitmenschen.

      Stellen wir uns vor, unsere Vorfahren hörten in der Nacht ein Rascheln im Busch. Der eine Urmensch geht stets davon aus, das Rascheln stamme von einem Löwen. Er macht sich blitzschnell aus dem Staub. Der andere wartet auf weitere Informationen, um eine bessere Beurteilungsgrundlage zu haben. Der erste ist ein wahrhaft einfältiger Geist. Bei jedem Rascheln sieht er vor seinem geistigen Auge einen hungrigen Löwen und nimmt schnurstracks die Beine in die Hand. Er lebt in einer eigenen Vorstellungsblase, die wenig mit der Realität zu tun hat. Die Welt erfasst er nur rudimentär. Anders sein Kollege. Der ist neugierig und will seinen Verstand nutzen. Mittlerweile hat er das Phänomen des Raschelns gut verstanden. Er weiß, dass es meistens der Wind ist, der geräuschvoll die Blätter bewegt. Er hat beobachtet, dass auch eine Vielzahl kleiner und großer Tiere solche Geräusche verursachen kann. Nur selten steckt tatsächlich ein Löwe dahinter. Mithilfe seines Verstandes und seiner Beobachtungsgabe hat er ein differenziertes Bild der Wirklichkeit entwickelt, das ihm viele faszinierende Details offenbart. Er kennt die Welt sehr viel besser als sein Artgenosse, der die Präsenz von Löwen in grotesker Weise überschätzt. Aber er hat leider einmal zu lange überlegt und gewartet. Da nutzte es ihm auch nichts, dass er in mehr als 99 Prozent der Fälle mit seinen Beurteilungen über die vielfältigen Ursachen des Raschelns goldrichtig lag. Die eine tragische Fehleinschätzung war eine zu viel. Sie ereignete sich unglücklicherweise zu einem Zeitpunkt, in dem er noch keine Kinder gezeugt hatte. Da zeigt sich der evolutionäre Vorteil seines in seinen Wahrnehmungen und Urteilen total verpeilten Kollegen. Der wurde nie gefressen und zeugte zehn Kinder. Die Evolution hatte also gute Gründe – diese personifizierende Darstellung eines Prinzips sei aus Gründen der Anschaulichkeit erlaubt (vgl. Kap. 2.8) –, die Geschwindigkeit und Eindeutigkeit einer Urteilsbildung weit höher zu gewichten als deren Wahrheitsgehalt. Hier wird klar, worin der schlagende Vorteil dumpfer Automatismen und total verzerrter Beurteilungen liegt. Die Folgen dieser evolutionären Ausrichtung der Vernunft sind insbesondere in der modernen Informationsgesellschaft gar nicht hoch genug einzuschätzen.

      Was ist Aufklärung?

      Die Aufklärung hat die Menschheit tiefgreifend verändert. Sie prägt bis heute unser Denken und ist Grundlage einer Fülle zivilisatorischer Errungenschaften. Die Aufklärung ist im Kern eine Haltung. Sie ist das Streben, die Welt, ihre Gesetzmäßigkeiten und auch uns selbst möglichst unvoreingenommen zu erforschen, dadurch Erkenntnisse zu gewinnen und so auf vielen Gebieten Fortschritte zu erzielen. Ein in der Menschheitsgeschichte beispielloser Zuwachs wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Fortschritt lassen sich ebenso auf die Aufklärung zurückführen wie Menschenrechte und demokratische Staatsformen.

      1784 hat der Philosoph Immanuel Kant seinen berühmten Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« geschrieben. »Aufklärung«, so lautet darin seine Antwort, »ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.« Und weiter: »Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! [Wage es, weise zu sein!; F. U.] Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«

      Für Kant sind »Faulheit und Feigheit« die Ursachen dafür, dass die meisten Menschen »zeitlebens unmündig« bleiben. Denn es sei bequem, nicht selbst zu denken, sondern anderen dieses »verdrießliche Geschäft« zu überlassen. Für die meisten Menschen sei es schwer, sich aus der »beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten«. Weil sie nicht daran gewöhnt seien, ohne Anleitung und Vorgaben eigenständig zu denken, würden sie beim freien Denken »auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung thun […]. Daher giebt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wikkeln, und dennoch einen sicheren Gang zu thun.« [1]

      Der Aufsatz ist ein flammendes Plädoyer für den freien Geist – oder, um einen heute gebräuchlicheren Begriff zu gebrauchen: den mündigen Bürger. Kant wendet sich gegen Denkverbote. In seinem Aufsatz betont er damit den emanzipatorischen Aspekt der Aufklärung. Man soll sich von Ideologien und gesellschaftlichen Dogmen befreien, die einem offenen Prozess des Erkennens und Verstehens im Wege stehen. Kant beschreibt damit einen wichtigen Faktor, durch den eigenständiges Denken und damit die Mündigkeit eines Menschen behindert werden können: Es handelt sich um einengende gesellschaftliche Bedingungen.

      Wie viele andere Autoren seiner Zeit richtete Kant seine Kritik gegen die christliche Religion und ihre kirchlichen und gesellschaftlichen Repräsentanten. Sie gaben in der westlichen Welt über Jahrhunderte vor, wie die Welt, wie der Mensch, wie die Schöpfung beschaffen seien und welche Ordnung sich hieraus auf Erden ableiten müsse. Verständlicherweise sah die Kirche durch die Ideen der Aufklärung ihr Wissensmonopol und damit auch ihre irdische Macht bedroht. Kant nimmt aber auch die Bürger selber in die Pflicht. Denn er unterstellt, dass sie durch ihre Vernunft zwar grundsätzlich die Möglichkeit zur Selbstbefreiung in sich tragen, ihr Potenzial jedoch häufig aufgrund von Bequemlichkeit und mangelndem Mut nicht ausschöpfen.

      Bevormundende Autoritäten sind zweifellos ein wichtiges und nach wie vor aktuelles Hemmnis für die Anliegen der Aufklärung. Denken wir an totalitäre Systeme, an Pressezensur, Verfolgung von politisch Andersdenkenden, an politischen oder religiösen Fanatismus. Sie sind aber längst nicht das einzige Hindernis für einen unvoreingenommenen Erkenntnisprozess.

      Auch auf der persönlichen Ebene gibt es viele Hindernisse, die sich einem aufgeklärten Verständnis der Welt und einem darauf basierenden vernünftigen Handeln in den Weg stellen. Es sind Hindernisse, die damit zu tun haben, wie die menschliche Vernunft und die menschliche Psychologie konstruiert sind. Das wiederum hat mit der evolutionären Entwicklung des Menschen zu tun. Die von Kant genannten persönlichen Haltungen, Bequemlichkeit und fehlender Mut, sind hier nicht einmal die Spitze eines riesigen Eisbergs, der den meisten Menschen unbekannt ist. Von diesem Eisberg, seinen Konsequenzen, aber auch von möglichen Lösungsansätzen wird in diesem Buch die Rede sein.

      Menschliche Psychologie und menschliche Vernunft

      Zwar hat Kant recht: Die Vernunft ist die entscheidende Fähigkeit des Menschen, um die Wirklichkeit zu erkennen und ein autonomes Leben zu führen. Das Beispiel des Urzeitmenschen zeigt aber, dass die menschliche Vernunft zweischneidig ist. Sie hat ein immenses Potenzial, ist jedoch auf der anderen Seite aus guten evolutionären Gründen mit vielfältigen Schwachpunkten ausgestattet. Diese beiden Seiten bestimmen die Chancen und die Risiken, die mit ihr verbunden sind. Dabei bewegt sie sich nicht in einem luftleeren Raum. Sie ist eingebunden in die psychologische Grundstruktur und damit Teil der allgemeinen menschlichen Natur. Diese menschliche Natur bewegt sich selbst zwischen zwei entgegengesetzten Polen. An dem einen Pol verfügt sie über ein großes Potenzial für Kooperation und die Gestaltung tragfähiger Beziehungen. Auf der anderen Seite findet sich eine grenzenlose egoistische Dynamik, die in diesem Buch als »egoistische Selbstbehauptung« bzw. »Wille zur Macht« bezeichnet wird. Auch


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