Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok
also nicht unseren Wünschen und unseren Idealvorstellungen darüber, wie die menschliche Natur sein sollte. Aus der Perspektive der Evolution haben diese beiden Seiten ebenso einen Sinn wie die zwei entgegengesetzten Seiten der menschlichen Vernunft. Der Sinn erschließt sich aus einer evolutionären Entwicklung, die sich über Hunderttausende von Jahren vollzogen hat. Aber sind diese Baupläne, die sich in unvorstellbar langen Zeiträumen entwickelt haben, für den modernen Menschen noch sinnvoll? Stimmen die grundlegenden Konstruktionselemente der allgemeinen menschlichen Psychologie und der menschlichen Vernunft in der heutigen Zeit noch? Stimmt das Verhältnis zwischen Chancen und Risiken für das Leben in unserer heutigen Welt, die sich fundamental vom Umfeld der Urzeitmenschen unterscheidet? Jedenfalls sind die Risiken beträchtlich. Diese Risiken sind Folge der Prägungen, die uns die Evolution aus einst guten Gründen in unsere psychologische Grundstruktur und unsere Vernunft über Hunderttausende von Jahren eingebrannt hat.
Das, was ich hier einleitend mit wenigen Worten skizziere, ist der Leitgedanke dieses Buches. Die beiden entgegengesetzten Pole der menschlichen Natur im Allgemeinen und der menschlichen Vernunft im Speziellen haben vielfältige Wirkungen. Sie erklären individuelle menschliche Verhaltensweisen ebenso wie gesellschaftliche, wissenschaftliche, geschichtliche oder politische Phänomene.
Dieses Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil steht die Analyse der allgemeinen menschlichen Natur und insbesondere der menschlichen Vernunft im Vordergrund. Im Verlauf dieses ersten Teils werde ich ein übergeordnetes Erklärungsmodell präsentieren, das die vielfältigen, evolutionär geprägten Schwachstellen und Fehlerquellen der menschlichen Vernunft und damit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit abbildet. Es handelt sich um das RSG-Modell (Registrieren-Subjektivieren-Generalisieren), auf das ich auch im zweiten Teil des Buches immer wieder Bezug nehmen werde (Kap. 5). Ebenfalls noch im ersten Teil stelle ich auch eine praktische Vorgehensweise vor, die den Schwachstellen und Fehlerquellen der menschlichen Vernunft Rechnung trägt. Es ist die pragmatisch-phänomenologische Vorgehensweise (vgl. Kap. 7).
Die grundlegenden Konstruktionsbedingungen der menschlichen Natur und vor allem der menschlichen Vernunft finden sich in allen Bereichen, die mit Menschen und menschlichen Aktivitäten zu tun haben. Das ist der Fokus des zweiten Teils dieses Buches. Hier werden die Folgen dieser Bedingungen – und die damit verbundenen Chancen und Risiken – anhand verschiedener Beispiele in Gesellschaft, Geschichte, Politik, Wissenschaft oder Ökonomie dargelegt. In den Blick geraten dabei so unterschiedliche Facetten dieses Themas wie die menschliche Tendenz, Regeln, Gesetze und Normen bis zur Absurdität zu generalisieren. Es lassen sich aus dieser Perspektive aber gleichfalls Fehlleistungen in der Wissenschaft, in der modernen Informationsgesellschaft oder in der Ökonomie zeigen. Am Schluss des zweiten Teils nimmt das aktuelle Thema des Populismus einen breiten Raum ein. Grob gesagt, lassen sich die Empfänglichkeit für Populismus und populistische Propagandamethoden auf die Mechanismen des RSG-Modells zurückführen. Das gilt für die individuelle Empfänglichkeit vieler Menschen für populistische Agitation. Das gilt aber auch für klar benennbare gesellschaftliche Schwachstellen in westlichen Demokratien. Diese Schwachstellen schaffen ein Klima, in dem populistische Agitation gut gedeihen kann.
Grundlage der folgenden Analyse ist, dass wir zunächst einmal genau die konkreten Schwachstellen der menschlichen Vernunft in den Blick nehmen. Diese Schwachstellen begegnen uns auf drei verschiedenen Ebenen.
−Ebene 1: Grundlegende erkenntnistheoretische Grenzen unseres Denkens
Denken und Wahrnehmung bewegen sich in einer vorgegebenen Struktur. Diese Struktur ist mit einem Betriebssystem vergleichbar, ohne das die »Maschine« gar nicht laufen würde. Das Betriebssystem als solches nehmen wir gar nicht wahr. Es ist ein Raster, das wir in alles und jedes automatisch hineinprojizieren. Da wir ohne Betriebssystem gar nichts wahrnehmen und denken können, ist es allgegenwärtig, ohne dass es uns bewusst ist. Mit diesen erkenntnistheoretischen Grenzen hat sich die Philosophie ausgiebig beschäftigt.
−Ebene 2: Allgemeine psychologische Schwachstellen der menschlichen Vernunft
Wenn die erkenntnistheoretischen Grenzen dem Betriebssystem entsprechen, dann sind die allgemeinen psychologischen Schwachstellen mit den vielen unterschiedlichen Programmen verbunden, die den operativen Betrieb unserer Wahrnehmung und unseres Denkens gewährleisten. Sie sind vorab installiert. Hier hat uns die Evolution allerdings zahlreiche »Bugs« eingebaut.
−Ebene 3: Persönlichkeitsprofile mit individuell akzentuierten Schwachstellen der menschlichen Vernunft
Die Schwachstellen der ersten beiden Ebenen betreffen mehr oder weniger alle Menschen. Manche Menschen können damit besser umgehen, andere schlechter. Selbstverständlich bin ich der Überzeugung, dass es sehr nützlich ist, die Schwachstellen genau zu kennen, um den mit ihnen verbundenen Risiken möglichst aus dem Wege zu gehen. Die dritte Ebene geht aber über den Umgang mit den Schwachstellen hinaus. Denn Menschen haben höchst unterschiedliche Charaktereigenschaften. Es gibt zahlreiche Persönlichkeitsprofile, durch die jene Schwachstellen der menschlichen Vernunft auf individueller Ebene drastisch verschärft werden.
1Erkenntnistheoretische Grenzen der menschlichen Vernunft
1.1Grünes Blatt und roter Ball, alles Täuschung oder was?
Will man Grenzen und Schwachstellen der menschlichen Urteilsfähigkeit untersuchen, kommt man nicht an der philosophischen Erkenntnistheorie vorbei. Denn wie erwähnt betrifft sie gewissermaßen das Betriebssystem unseres Denkens. Im Zentrum steht die Frage, was man überhaupt mit dem menschlichen Verstand erkennen kann und wo prinzipielle, also theoretische Grenzen liegen. Hier muss noch einmal Immanuel Kant erwähnt werden. Die Ideen Kants sind keine leichte Kost, aber ich hoffe, die Leserinnen und Leser lassen sich nicht abschrecken. Wem dieser philosophische Einstieg aber zu abstrakt ist, der kann dieses Kapitel auch problemlos überschlagen und gleich mit den »Apps«, also der operativen Programmierung unserer Vernunft, fortfahren.
Bevor wir uns im Zusammenhang mit dem »Betriebssystem« mit synthetischen und analytischen Urteilen und anderen Ideen Kants beschäftigen, möchte ich mit einem praktischen Beispiel beginnen. Es verdeutlicht das prinzipielle Problem, um das es Kant und anderen Philosophen geht: Wenn wir ein grünes Blatt oder einen roten Ball sehen, dann sagen wir: Das Blatt ist grün oder der Ball ist rot. So empfinden wir es auch. Das Grün empfinden wir als eine Eigenschaft des Blattes und das Rot als eine Eigenschaft des Balls. Für uns sind es ein grünes Blatt und ein roter Ball. Aber sind diese Farben, die wir wahrnehmen, wirklich Eigenschaften des Blattes und des Balls?
Philosophisch gesprochen: Hat das »Ding an sich«, also das, was wir als Blatt, und das, was wir als Ball wahrnehmen, wirklich diese Farbeigenschaften? Ist das Blatt auch dann grün, wenn wir nicht hinschauen? Ist der Ball auch dann rot, wenn wir ihn nicht ansehen? Sind die grüne und die rote Farbe also Eigenschaften, die etwas über den tatsächlichen Charakter der beiden Dinge aussagen? Oder entstehen die grüne und die rote Farbe durch die Art, wie wir sehen, und sind eigentlich Eigenschaften, die mehr über uns als über das Blatt und den Ball aussagen? Dass sich die Farben, die wir den Dingen zuordnen, mit anderen Augen ganz anders darstellen, kann man sich leicht am Beispiel der Bienen verdeutlichen. Bienen können im Gegensatz zu uns ultraviolettes Licht sehen. Rot hingegen existiert für sie nicht. Was für uns rot ist, ist für die Biene schwarz. Aber dafür sehen Bienen prachtvolle Farbmuster, die wir nicht erkennen können und bei denen wir nur eine einzige Farbe sehen.
Physikalisch ist es so: Unsere Farbwahrnehmung beruht auf der Wahrnehmung von Licht. Licht ist eine elektromagnetische Strahlung. Es kommt in verschiedenen Wellenlängen vor. Je nachdem, mit welcher Wellenlänge das Licht auf unsere Netzhaut trifft, werden sogenannte Farbrezeptoren aktiviert. Diese Farbrezeptoren lösen bei uns eine Farbwahrnehmung aus. Die Farben entstehen also in unserem Kopf und sind ein subjektiver Eindruck. Hat das Licht eine Wellenlänge zwischen 490 und 570 Nanometer,