Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok
auch bei ganzen Gesellschaften verbreiteten typischen psychologischen Urteilsfehler. Bei ihnen geht es oft darum, der gefühlten Wahrheit den Vorzug gegenüber der Wahrheit zu geben, die durch das Potenzial der eigenen Vernunft eigentlich erkannt werden könnte. Die Konsequenzen für die Praxis sind ähnlich verheerend.
Bei diesen psychologischen Mechanismen lässt sich eine Verbindung zu philosophischen Erkenntnistheorien erkennen. Auch dort und somit schon in der Grundstruktur unseres Erkenntnisprozesses angelegt ist die Tendenz, Erkenntnisse über die Welt mit eigenen Projektionen in diese Welt zu verwechseln. So ist das, was der Mensch als vermeintliche Wahrheit in der Welt erkennt, oft nichts anderes als das, was und wie er selber denkt. Die vermeintliche Wirklichkeit gleicht dann einem Spiegel, in dem einem die eigene Person in neuem Gewand entgegentritt. Der Mensch sieht in dem, was er in der Welt erkennt, nur sich selbst, geht aber davon aus, dass er Eigenschaften der Dinge dieser Welt erkennt. Dass wir darauf hereinfallen, ist aber nicht zwangsläufig. Denn wir haben gute Gründe anzunehmen, dass den Erscheinungen ein »Ding an sich« zugrunde liegt, auch wenn es uns in einem objektiven Sinne stets verborgen bleiben muss.
Zugespitzt formuliert: Dass uns ein Auto von A nach B bringt, dass wir mit absoluter Zuverlässigkeit prognostizieren können, dass ein Apfel, der sich vom Baum löst, nicht zum Himmel steigt, sondern zu Boden fällt, spricht dafür, dass vieles, was die Vernunft erkennt, in der Praxis gut funktioniert und seine Nützlichkeit für den Umgang mit der Welt, in der wir leben, unter Beweis stellt.
Es wird noch davon die Rede sein, dass sowohl die Aufklärung als auch die Vernunft als ihr zentrales Instrument immer wieder stark kritisiert und in ihrem Nutzen infrage gestellt wurden. Nun ist aber unsere Vernunft – zum Beispiel basierend auf unseren Sinneswahrnehmungen – das einzige Instrument, das uns gegeben ist, um Dinge zu erkennen, einzuordnen, zu verstehen und Urteile zu bilden. Etwas anderes haben wir nicht. Sie ist trotz ihrer naturgegebenen Limitationen und Schwachstellen auch gar nicht so schlecht und hat in der Menschheitsgeschichte doch einiges Brauchbares hervorgebracht. Wir haben also guten Grund, uns ihrer mit einigem Zutrauen in ihre Fähigkeiten zu bedienen.
Mit diesem Buch ist die Hoffnung verbunden, dass die Leser für sich aus der Lektüre einen praktischen Nutzen für den Umgang mit eigenen Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten generieren können. Damit ist mein tiefer Glaube verbunden, dass wir mit all unseren erkenntnistheoretischen Limitationen und den Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeiten wirklich sehr viel erreichen und verbessern können. Dafür ist es nützlich, wenn uns die wichtigsten Fallstricke bekannt sind und wir sie umgehen können – vielleicht nicht immer, aber zumindest ab und zu.
2Allgemeine psychologische Schwachstellen der menschlichen Vernunft
Die Psychologie hat eine Fülle von Schwächen unseres Wahrnehmungsapparates und unseres Urteilsvermögens herausgearbeitet, die zu systematischen Verzerrungen und Fehlbeurteilungen führen. Es handelt sich um Fehlerquellen, die aus der Art und Weise resultieren, wie unsere Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeiten psychologisch konstruiert sind. Es sind gewissermaßen Konstruktionsmängel, die durch die Evolution bis heute noch nicht beseitigt wurden. Genau genommen sind es aus Sicht der Evolution aber gar keine Mängel, sondern bewusst in Kauf genommene Schwächen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
All diese archaischen Programme und Mechanismen stecken nach wie vor in uns. Manche von ihnen sind in unserer modernen Zeit nicht mehr so wichtig wie vor 500 000 Jahren oder sogar nachteilig. Vielleicht wird die Evolution noch das ein oder andere verändern, an unsere heutigen Lebensgewohnheiten anpassen und damit optimieren. Da »denkt« die Evolution aber in sehr, sehr langen Zeiträumen. Es kommt hinzu, dass die hier angesprochenen Probleme aus Sicht der Evolution keine Priorität genießen. Denn die Fortpflanzungsfähigkeit wird kaum dadurch beeinträchtigt, dass man von unsinnigen Meinungen über sich und die Welt überzeugt ist. Aus Sicht der Evolution ist oft sogar das Gegenteil der Fall. Das werde ich später noch vertieft darlegen.
Einem breiten Publikum sind psychologische Konstruktionsschwächen unserer Wahrnehmung und unseres Urteilsvermögens durch die Bücher des Psychologen Daniel Kahneman bekannt geworden. [4] Daniel Kahneman wurde 1934 in Tel Aviv geboren und lehrte an den Universitäten von Jerusalem, British Columbia, Berkeley und Princeton. 2002 wurde er zusammen mit Vernon L. Smith mit dem Wirtschafts-Nobelpreis ausgezeichnet. Es spricht einiges dafür, seine Bücher zur Pflichtlektüre in Schulen zu machen. Denn es ist gut zu wissen, womit wir zu rechnen haben, wenn wir unsere Sinneswahrnehmung und unser Urteilsvermögen gebrauchen. Immerhin benutzen wir beides jeden Tag ausgiebig. Es wäre ja auch gut zu wissen, dass die Bremsen des Autos, mit dem wir täglich fahren, bei Nässe sehr schlecht funktionieren und der Tacho die Geschwindigkeit stets zwanzig Prozent unterschätzt. Aber wer liest schon gerne Gebrauchsanweisungen?
Kahneman unterscheidet zwischen einem schnellen und einem langsamen System. Das schnelle System könnte man grob mit unserer spontanen Intuition, das langsame System mit rationalem Denken bezeichnen. Intuition führt zu leichten, subjektiv angenehmen Beurteilungsprozessen (Kahneman spricht von »kognitiver Leichtigkeit«). Das rationale System ist schwerfälliger und wird subjektiv als anstrengender erlebt.
Anders als wir selbst annehmen, basiert die Mehrzahl unserer Urteile auf dem schnellen intuitiven System oder wird durch dieses System zumindest maßgeblich beeinflusst – häufig sogar verzerrt. Der Vorteil des schnellen Systems ist – wie der Name schon sagt – seine Geschwindigkeit. Hier geht es nicht um Details, nicht um Genauigkeit. Im Gegenteil besteht das Prinzip gerade darin, viele Informationen wegzulassen, nicht zu analysieren, dafür aber sehr rasch zu urteilen. Demgegenüber hat das vernunftgeprägte Denken zumindest theoretisch den Vorteil, eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren zu analysieren und so zu genaueren Urteilen zu kommen. Der Preis dafür: Es braucht mehr Zeit und führt oft nicht zu eindeutigen Antworten. Hinzu kommt, dass auch das rationale System alles andere als »objektiv« arbeitet, sondern ebenfalls zu Verzerrungen und Fehlleistungen neigt. Es hat aber wiederum den Vorteil, dass es – zumindest potenziell – eine auf Einsicht basierende, größere Distanz zu subjektiven Verzerrungen entwickeln kann. Erinnern wir uns an das Beispiel der zwei Urzeitmenschen. Schematische, verzerrte und letztlich falsche Beurteilungen können je nach Situation und Ziel ein großer evolutionärer Vorteil sein.
Dass die Meinungen, die sich Menschen bilden, und die Art und Weise, wie sie handeln, primär das Resultat vernünftiger Überlegungen sind, wurde nicht erst durch die Forschungen Kahnemans und vieler seiner Kollegen erschüttert. Schon Arthur Schopenhauer leitete eine Wende gegenüber der in der Philosophie lange Zeit vorherrschenden Meinung ein, der Mensch sei ein vorwiegend durch die Vernunft gesteuertes Wesen. Schopenhauer sah nicht die Vernunft, sondern die Triebe – wir würden heute vielleicht eher von Affekten sprechen – als entscheidende Kraft an, die unsere Gedanken, Sehnsüchte und Handlungen prägt. Später sprach Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, von der archaischen Triebstruktur im Es, die weitgehend unbewusst ist. Das Ich als Vermittler zur Realität – unterstützt durch das Über-Ich (die Gewissensinstanz) – steht hier auf schwachen Füßen und ist nicht Herr im eigenen Haus.
Sowohl Schopenhauer als auch Freud kamen zu ihren Kenntnissen aufgrund genauer Beobachtung von Menschen und deren Verhalten – und das unabhängig von den in jener Zeit vorherrschenden Dogmen und Idealisierungen des Menschen und seiner Natur. Schopenhauer gab seinen Lesern einen praktischen Rat mit auf den Weg: Man solle versuchen, die unvernünftigen Triebe möglichst mit dem Verstand zu kontrollieren. Friedrich Nietzsche kehrte das später um. Er sah in den gängigen Idealen von Enthaltsamkeit, Askese, Liebe und Mitmenschlichkeit verlogenes Pathos, das es über Bord zu werfen gelte. Anstatt auf diese Werte setzte er auf den Willen zur Macht, der auf der egoistischen Selbstbehauptung beruht. Wir werden hierauf noch zu sprechen kommen (Kap. 9.4).
Es ist jedenfalls das große Verdienst der experimentellen Wahrnehmungspsychologie, neben einer allgemeinen Skepsis gegenüber Wahrnehmung und Urteilsvermögen spezifische Konstruktionsschwächen – quasi in ihrer Mechanik – herausgearbeitet zu haben.
Nachfolgend werden einige Beispiele für typische Verzerrungen unserer Wahrnehmung