Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok
unter diesem Aspekt völlig übertrieben sei, sich wegen der Ermordung einzelner Menschen Sorgen zu machen. Irgendwann müsse doch sowieso jeder Mensch sterben. Einen Mörder speziell zu bestrafen und überhaupt so ein Riesentheater um einen einzelnen Todesfall zu machen, sei vor diesem Hintergrund völlig unangemessen. Auch können die nationalsozialistischen Verbrechen bei der Ermordung jüdischer Menschen in keiner Weise dadurch relativiert werden, dass in der Menschheitsgeschichte unendlich viel mehr Menschen an schrecklichen Krankheiten verstorben sind.
Es gibt zwar gute Gründe, vielen Kausalitäten, Erklärungen und scheinbar stimmigen Geschichten zu misstrauen. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch viele sinnvolle Kausalitäten, fundierte stimmige Geschichten und tragfähige Erklärungen gibt. So ist die Kausalität bei der Beurteilung der Vernichtung von Tier- und Pflanzenarten ein zentraler Punkt. Denn ob diese Tier- und Pflanzenarten durch den Einschlag eines Meteoriten oder durch menschliches Handeln zu Tode kommen, macht im Hinblick auf Schuld und Verantwortung einen entscheidenden Unterschied. Das, was der Mensch verursacht, liegt in seinem konkreten Verantwortungsbereich. Dieser Verantwortung hat er sich zu stellen und ihr gerecht zu werden – abseits abstrakter theoretischer Überlegungen.
Das Gleiche gilt übrigens auch für den Klimawandel. Denn bei diesem Thema argumentieren populistische Kritiker genauso, wie Taleb es tut. Weil es in der Erdgeschichte schon immer gewaltige Schwankungen des Klimas gegeben habe, sei das Geschrei um den Klimawandel ebenso verfehlt wie das Ergreifen bestimmter Maßnahmen. Das Beispiel zeigt uns aber zweierlei. Die Tendenz zur Generalisierung und Verabsolutierung ist ein bislang wenig beachteter Verzerrungsmechanismus unseres Denkens. Zu Unrecht. Denn er kann zu absurden Beurteilungen und Handlungen führen. Das Beispiel gibt uns auch einen ersten Hinweis darauf, dass auch der naturwissenschaftliche Ansatz keineswegs dagegen gefeit ist, den allgemeinen menschlichen Verzerrungsmechanismen und Beurteilungsfehlern zu unterliegen. Dessen sind sich viele Vertreter des empirischen naturwissenschaftlichen Ansatzes nicht bewusst. Beide Themen werden uns noch an verschiedenen Stellen dieses Buches wiederbegegnen.
2.13Vermeidung kognitiver Dissonanz
Die Vermeidung kognitiver Dissonanz ist ein lange bekanntes Phänomen. Unsere Meinungen, unsere Überzeugungen und unsere gefühlten Wahrheiten formen einen subjektiven Wahrnehmungsfilter. Dieser Filter hat großen Einfluss darauf, welche Informationen wir aufnehmen und wie wir mit diesen Informationen umgehen. Es besteht eine starke Tendenz, Informationen, die den eigenen Meinungen, Überzeugungen und gefühlten Wahrheiten widersprechen, entweder gar nicht zur Kenntnis zu nehmen oder sie so umzuformen, dass kein Widerspruch zur subjektiven Wirklichkeit entsteht. Praktisch werden dadurch Informationen, die eine schon bestehende Meinung bestätigen, gerne und bevorzugt registriert. Widersprechende Informationen mag man nicht. Sie werden bewusst übergangen, oder sie werden weggefiltert, bevor sie das Bewusstsein erreichen können. Dieser Selektionsprozess stärkt und zementiert eigene Meinungen, auch wenn sie falsch sind.
Man hört gerne den Rednern zu, die die eigene Meinung bestärken, dasselbe gilt für Filme oder etwa Presseberichte. Ebenso fühlen wir uns in den Umgebungen wohl, in denen Meinungen und Überzeugungen vorherrschen, die den eigenen entsprechen. Andere Meinungen und widersprüchliche Informationen werden von vornherein weniger wahrgenommen, aber auch bewusst umgangen, weil man sie gar nicht hören oder sehen will. Insbesondere bei politischen, weltanschaulichen oder religiösen Themen werden andere Meinungen häufig so verformt und umgedeutet, dass die eigenen Überzeugungen von Anfang an dagegen immunisiert werden. Das geschieht zum Beispiel dadurch, dass man den Vertretern anderer Meinungen einen falschen Glauben, eine völlig absurde politische Überzeugung oder unehrenhafte Motive unterstellt. Damit wird den Argumenten dieser Personen von vornherein jegliche Berechtigung abgesprochen. Eine Auseinandersetzung mit deren Argumenten erübrigt sich damit.
2.14Hereinspaziert: A little something for everybody
Wir konstruieren gerne subjektiv stimmige und runde Geschichten. Dazu biegen wir Informationen so zurecht, dass sie zu einer solchen stimmigen Geschichte werden, einer Geschichte, die uns sympathisch ist oder die perfekt zu unseren Vorannahmen passt. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt, wenn man offene Aussagen präsentiert bekommt, die viel Interpretationsspielraum lassen. Hierzu gibt es zahlreiche psychologische Untersuchungen. Phineas Taylor Barnum war Zirkusdirektor und Politiker. 1842 eröffnete er in New York das »American Museum«, ein zu seiner Zeit sehr bekanntes Kuriositätenkabinett. Barnum war geschäftstüchtig und verstand es, seine Sensationen in der Öffentlichkeit anzupreisen. Er präsentierte alles, was irgendwie interessant erschien (»a little something for everybody«) und publikumswirksam inszeniert werden konnte. Dem Prinzip, wonach für jeden etwas dabei sein sollte, folgten auch die verschiedenen Wahrsager und Horoskope, die Barnum seinen Besuchern anbot. Neben seiner Tätigkeit als Politiker zog er mit Wanderzirkussen durchs Land, nachdem das Museumsgebäude 1865 und 1868 zweimal abgebrannt war.
Das eingangs beschriebene Phänomen wird gemäß dem Motto »a little something for everybody« als Barnum-Effekt oder alternativ auch als Forer-Effekt bezeichnet, weil der amerikanische Psychologe Bertram R. Forer hierzu ein berühmtes Experiment durchführte. Forer hatte seinen Studenten 1948 die vermeintliche Auswertung eines Persönlichkeitstests ausgehändigt, den sie zuvor ausgefüllt hatten. Die Studenten wurden dann gefragt, wie zutreffend sie die Beschreibung ihrer Persönlichkeit in der jeweiligen Auswertung empfanden. Die Studenten fühlten sich durch die Ergebnisse des Tests sehr gut in ihrer Persönlichkeit getroffen. Dementsprechend waren sie auch stark überzeugt davon, dass der Test, den sie ausgefüllt hatten, hervorragend geeignet sei, die Persönlichkeit von Menschen zu erfassen. Was sie nicht wussten: Alle hatten dieselbe Auswertung erhalten. Zudem hatte der Auswertungstext nichts mit den Fragen zu tun, die die Testpersonen zuvor beantwortet hatten. Der Text war eine willkürliche Zusammenstellung von Aussagen aus einem Horoskop, das Forer sich zuvor an einem Kiosk besorgt hatte. [6; 7]
Was stand denn nun im Auswertungstext? Wikipedia hat es so übersetzt: »Sie sind auf die Zuneigung und Bewunderung anderer angewiesen, neigen aber dennoch zu Selbstkritik. Ihre Persönlichkeit weist einige Schwächen auf, die Sie aber im Allgemeinen ausgleichen können. Beträchtliche Fähigkeiten lassen Sie brachliegen, statt sie zu Ihrem Vorteil zu nutzen. Äußerlich diszipliniert und selbstbeherrscht, neigen Sie dazu, sich innerlich ängstlich und unsicher zu fühlen. Mitunter zweifeln Sie stark an der Richtigkeit Ihres Tuns und Ihrer Entscheidungen. Sie bevorzugen ein gewisses Maß an Abwechslung und Veränderung und sind unzufrieden, wenn Sie von Verboten und Beschränkungen eingeengt werden. Sie sind stolz auf Ihr unabhängiges Denken und nehmen anderer Leute Aussagen nicht unbewiesen hin. Doch finden Sie es unklug, sich anderen allzu bereitwillig zu öffnen. Manchmal verhalten Sie sich extrovertiert, leutselig und aufgeschlossen, dann aber auch wieder introvertiert, skeptisch und zurückhaltend. Manche Ihrer Erwartungen sind ziemlich unrealistisch.« [8]
Es gibt weitere ähnliche Experimente, die zu den gleichen Ergebnissen führten. Mehrheitlich waren die Versuchspersonen von den Horoskopen, die mit ihnen gar nichts zu tun hatten, begeistert und staunten, wie gut ihre Persönlichkeit erfasst worden war.
Neulich gab eine Beraterin auf einem esoterischen Fernsehkanal einer Anruferin folgende Weisheit mit auf den Weg: »Du erreichst dein Ziel auf jeden Fall, denn der Weg ist das Ziel.« Auch wenn der Satz ein logisches Paradoxon ist, klingt er ermutigend. Die Anruferin freute sich jedenfalls über die aufbauenden Worte. Wir hören eben gerne das, was wir hören wollen.
2.15Radikaler Konstruktivismus und Grenzen der Kommunikation
Den Radikalen Konstruktivismus könnte man auch gut im Kapitel über die generellen erkenntnistheoretischen Limitationen einordnen. Ich stelle ihn aber unter den psychologischen Mechanismen dar, weil er einen wichtigen Aspekt der Kommunikation aufgreift, über den wir uns häufig nicht ausreichend im Klaren sind. So überschätzen wir systematisch das Ausmaß eines gemeinsamen Verständnisses von Inhalten, die kommuniziert werden. Diese Überschätzung erfolgt aufgrund psychologischer und sozialer Gepflogenheiten, die etwas anderes nahelegen.
Im Radikalen Konstruktivismus