Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok
menschlicher Bindungsfähigkeit Grundlage einer sozialen Interaktionsfähigkeit, die weit über die Möglichkeiten hinausgeht, die durch die Evolution vor der Entwicklung des Menschen geschaffen wurden.
Ein zweites emotionales Korrelat unseres Kooperationspotenzials ist die Fähigkeit, Gefühle und Perspektiven anderer Lebewesen zu erkennen und nachzufühlen. Diese Fähigkeit wird gemeinhin als Empathie bezeichnet. Wenngleich dieser Begriff einige Unschärfen enthält, trifft das allgemeine Verständnis doch ganz gut den Kern, um den es geht. Es ist uns möglich, eine – auch emotional angereicherte – Vorstellung davon zu entwickeln, wie sich ein anderes Lebewesen fühlt und/oder wie die Welt aus dessen Perspektive aussieht. Es gibt Menschen, denen das besser gelingt als anderen. Aber auch bei den Menschen, die grundsätzlich fähig sind, Empathie zu empfinden, ist es von der jeweiligen Situation abhängig, ob diese Fähigkeit aktiviert wird oder nicht. Wie bei der Bindungsfähigkeit haben Menschen eine hohe Flexibilität dahingehend, in welchen Situationen Empathie aktiviert wird und in welchen nicht (siehe auch Verhältnis Mensch – Tier, Kap. 4.6). Generell ist die Wahrscheinlichkeit, Empathie zu empfinden, dann erhöht, wenn gleichzeitig eine Bindung zur anderen Person/zum anderen Lebewesen besteht.
Es ist das Wesensmerkmal einer Bindung, dass sich die Grenzen der eigenen Identität – zumindest ein wenig oder kurzzeitig – lockern. Wenn man sich einer anderen Person nah fühlt, dann nimmt man sich selbst – auch – als Teil einer Gemeinsamkeit wahr, die in einem Gefühl der Verbundenheit spürbar wird. Man kann dieses Phänomen sehr gut beobachten, wenn Menschen sich einer Gruppe gegenüber verbunden fühlen und dann in dieser Gruppe aufgehen. Das kann sehr schnell passieren. Manchmal reicht es, Zuhörer einer emotionalen Massenveranstaltung zu sein, um sich als Teil einer gefühlten Gruppenidentität wahrzunehmen (vgl. Kap. 15.6). Manchmal reicht es, nach einigen Gläsern Bier mit Bekannten durch die Straßen zu ziehen.
Das Prinzip der egoistischen Selbstbehauptung ist das dem Kooperationspotenzial entgegengesetzte Prinzip. Egoistische Selbstbehauptung ist vor allem durch die starke Fokussierung auf die eigenen Interessen gekennzeichnet. Evolutionär sind Überleben und Fortpflanzung die entscheidenden Interessen. Es liegt im Wesen der puren egoistischen Selbstbehauptung, dass andere Menschen in diesem Modus als potenzielle Konkurrenten, als Feinde oder als nützliche Ressource wahrgenommen werden, die eigene Macht zu festigen oder zu erweitern. Darum sind Beziehungen zu anderen Menschen in diesem Modus eher auf Kontrolle und Beherrschen ausgerichtet.
Nietzsche hat dem biologischen Prinzip der unbedingten Selbstbehauptung zu Recht eine Qualität des immerwährenden Fortschreitens, des Immer-weiter und Immer-besser zugeordnet. Egoistische Selbstbehauptung als Wille zur Macht ist eine Kraft, die keine Ruhe kennt. Sie ist – auch im positiven Sinne – durch ein Element der Unersättlichkeit gekennzeichnet. Die Dynamik des grenzenlosen Fortschreitens kann positiv wirken, wenn sie in einer zivilisierten Ausdrucksform wertvolle Leistungen ermöglicht. Zu denken ist z. B. an die Triebkraft, die Entdeckungen, Erfindungen, Kunstwerke oder ein geniales Handwerksstück hervorzubringen vermag. Aber mit dem Prinzip der egoistischen Selbstbehauptung ist auch großes Potenzial für Ausbeutung, Gewalt und Unterdrückung verbunden. Denn rücksichtsloser Egoismus und Unersättlichkeit sind Kernmerkmale dieses Prinzips. Im Fiktionalen verkörpern die Gegenspieler von James Bond Personen mit einem ungebremsten Willen zur Macht. Stets verfolgen sie das Ziel, zum Herrscher der Welt zu werden. Dafür ist ihnen jedes Mittel recht. Zu Ende gedacht, liegt das in der Logik des – nicht durch die Realität begrenzten – Prinzips egoistischer Selbstbehauptung. Aber es braucht keine Kunstfigur, um diese Prinzip zu veranschaulichen. Geschichte und Gegenwart sind voll von Personen, deren rücksichtsloser Egoismus und deren Unersättlichkeit zu unermesslichem Leid geführt haben.
Man kann also zusammenfassend sagen, dass unsere Wahrnehmungsund Erkenntnisfähigkeiten zwischen zwei zentralen evolutionären Prinzipien der menschlichen Natur positioniert sind. Diese sind das emotional durch Bindungsfähigkeit und die Fähigkeit zum Nachfühlen vermittelte Kooperationspotenzial auf der einen und das – potenziell grenzenlos fortschreitende – Prinzip egoistischer Selbstbehauptung auf der anderen Seite.
4.4Individuelle Zuspitzungen der basalen Evolutionsprinzipien der menschlichen Natur
Generell sind in jedem Menschen beide Prinzipien angelegt. Aber individuell gibt es große Unterschiede. So verkörpert das oben beschriebene Persönlichkeitsprofil der Kaltblütig manipulativen Persönlichkeit (KmP) eine individuell extreme Ausprägung beider Prinzipien: eine sehr geringe Ausprägung des Kooperationspotenzials auf der einen und eine extrem starke Ausprägung der egoistischen Selbstbehauptung auf der anderen Seite. Es ist klar, dass die individuelle Akzentuierung der egoistischen Selbstbehauptung häufig mit negativen Folgen für andere Menschen verbunden ist.
Es gibt auch das genaue Gegenteil. Das sind Menschen, die in übertriebener Weise an das Gute aller anderen Menschen glauben. Dadurch verkennen sie Risiken und neigen auf unkritische Weise zu einer naiven Gutmütigkeit. Besonders deutlich wird eine individuelle Übersteigerung des Kooperationspotenzials der menschlichen Natur auf Kosten der egoistischen Selbstbehauptung bei Personen mit einer Dependenzproblematik. Sie haben die Tendenz, ganz und gar in der sozialen Beziehung aufzugehen und die eigene Identität übertrieben stark zu relativieren. Darum besteht bei ihnen die Gefahr, dass sie anderen Menschen zu viel Macht über die eigene Person geben.
Dazu habe ich an anderer Stelle ausgeführt: »Von anderen Menschen abhängig zu sein und sich ihnen unterzuordnen, kann ein angemessenes Verhalten sein. So ist Abhängigkeit in der kindlichen Entwicklung normal. Neben einer bestimmten Lebensphase kommen Abhängigkeiten und Unterordnung auch kontextbezogen vor. Im Militär, als Patient im Krankenhaus oder als Mitglied eines Arbeitsteams können mehr oder weniger stark ausgeprägte Aspekte von Abhängigkeit und Unterordnung ein adäquates Verhalten sein. Demgegenüber gibt es aber Situationen, in denen die Unterordnung eigener Interessen und Bedürfnisse unter diejenigen einer anderen Person […] ein auffälliges Verhalten sein kann. Die Unangemessenheit eines unterordnenden und abhängigen Verhaltens stellt somit ein wichtiges Kriterium der Dependenzproblematik dar.«
Für die Diagnose einer dependenten Persönlichkeitsstörung gibt es folgende Kriterien:
1.»Bei den meisten Lebensentscheidungen wird an die Hilfe anderer appelliert oder die Entscheidung wird anderen überlassen.
2.Unterordnung eigener Bedürfnisse unter die anderer Personen, zu denen eine Abhängigkeit besteht, und unverhältnismäßige Nachgiebigkeit gegenüber den Wünschen anderer.
3.Mangelnde Bereitschaft zur Äußerung angemessener Ansprüche gegenüber Personen, zu denen eine Abhängigkeit besteht.
4.Unbehagliches Gefühl beim Alleinsein aus übertriebener Angst, nicht für sich allein sorgen zu können.
5.Häufige Angst, von einer Person verlassen zu werden, zu der eine enge Beziehung besteht, und auf sich selbst angewiesen zu sein.
6.Eingeschränkte Fähigkeit, Alltagsentscheidungen zu treffen ohne ein hohes Maß an Ratschlägen und Bestätigungen von anderen.
7.Zusätzlich können sich die Betreffenden selbst hilflos, inkompetent und nicht leistungsfähig fühlen (Weltgesundheitsorganisation 1999).« [13] zitiert nach [11, S. 236–237]
Die Zuspitzungen der beiden zentralen evolutionären Prinzipien der menschlichen Natur in Form individuell problematischer Persönlichkeitsprofile verdeutlichen, welches die positiven Aspekte des jeweils entgegengesetzten Pols sind. Durch eine individuell überdurchschnittliche Ausprägung der egoistischen Selbstbehauptung werden die Umwelt und vor allem andere Menschen geschädigt. Durch eine individuell überdurchschnittliche Ausprägung des Kooperationspotenzials erfährt vor allem die betroffene Person selbst Nachteile.
4.5Abgrenzung schafft Identität
Es wurde darauf hingewiesen, dass die Aktivierung des menschlichen Kooperationspotenzials häufig mit emotionalen Korrelaten