Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok
Mechanismen. Man kann einige dieser Mechanismen gut am Beispiel des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier demonstrieren.
Die meisten Menschen empfinden sich als tierlieb. Zwar steigt seit einigen Jahren die Zahl derjenigen, die aufgrund dieser Haltung auf Fleischkonsum verzichten. Die Mehrheit isst aber Fleisch, ohne das als einen scharfen Widerspruch zur eigenen Einstellung wahrzunehmen. In einer sehenswerten Fernsehdokumentation des Schweizer Fernsehens wurden einige Personen porträtiert, bei denen dieser Widerspruch besonders deutlich zum Vorschein kommt. [14]
Zu diesen Personen gehörte ein passionierter Jäger, der das Töten von Tieren offensiv als wichtigen Teil seiner Identität vertrat. Gleichzeitig hatte er eine sehr innige Beziehung zu seinem Jagdhund. Dem hatte er einen Namen gegeben und vergötterte ihn fast ein wenig. Ein anderes Beispiel ist, dass sich die meisten Menschen über Länder empören, in denen Hunde und Katzen gegessen werden. Aber worin genau soll der Unterschied zu der Gewohnheit bestehen, Kälber und Lämmer zu verspeisen?
Die Beispiele zeigen, wie flexibel wir darin sind, zu Lebewesen einen persönlichen Bezug zu entwickeln und gleichzeitig einer Vielzahl eben dergleichen Lebewesen jede Daseinsberechtigung abzusprechen. Ein gutes Stück Fleisch auf dem Teller, leckere Hähnchenschenkel im Supermarkt. So nehmen wir im Alltag das Fleisch von Tieren wahr, so kategorisieren wir die Wirklichkeit. Es ist theoretisch nicht schwierig, sich durch den Verstand bewusstzumachen, dass es sich um Leichenteile von Tieren handelt. Vielleicht haben wir auch schon manchmal darüber nachgedacht und den Widerspruch zu unserer ansonsten empfundenen Tierliebe erkannt. Solche Momente sind aber eher selten und haben keine zwingende Konsequenz. Die alltägliche Kategorisierung entspricht einer drastischen Selektion von Information. Sie funktioniert problemlos weiter, obwohl wir vielleicht schon einige Male über den Widerspruch nachgedacht haben. Die Kategorisierung ist bequem. Denn sie ermöglicht ein problemloses Handeln (problemloses Essen), weil sie im Alltag keinen Raum für Ambivalenz lässt.
Manch einer reagiert aggressiv, wenn er auf diesen Widerspruch hingewiesen wird. Man wehrt sich dagegen, sich von anderen ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen. Es geht mir bei diesem Beispiel nicht darum, eine richtige oder eine falsche Haltung zu vermitteln. Es geht mir um den Umgang mit dem logischen Widerspruch. Das Beispiel verdeutlicht, wie flexibel wir darin sind, durch entsprechende Kategorisierung (implizite Theorien, Ideologien, Betrachtungsweisen, Überzeugungen) homogene Bilder zu produzieren und damit logische Widersprüche wegzudefinieren.
Die innige Beziehung zum eigenen Haustier, das einen Namen trägt, zeigt, dass wir ein genauso homogenes Bild als Grundlage unseres Verhaltens in umgekehrter Richtung produzieren können. Wir kennen den Mechanismus bereits. Es handelt sich um die variable Grenze zwischen »eigene Gruppe/eigene Familie« und »fremde Gruppe/fremde Familie«. Der Hund, der einen Namen trägt, erhält dadurch ein Gesicht und eine Identität. Das ist eine gute Basis, das ganze Spektrum des evolutionär angelegten Kooperationspotenzials abzurufen, das auf eigene Familienmitglieder angewendet wird. Dass damit ein Heer namenloser anderer, gleichartiger Lebewesen ausgeschlossen wird, ist subjektiv kein Widerspruch. Im Gegenteil ist das sogar das Kennzeichen dieses Prinzips. Es gibt einige Individuen im eigenen Kreis und viele außerhalb dieses Kreises.
So dürfte es auch am Beginn der Menschheitsgeschichte gewesen sein. Die mit der Bindung einhergehenden Gefühle (Sympathie, Freundschaft, Verbundenheit, Liebe etc.) sind evolutionär der Leim, der die sozialen Beziehungen zur eigenen Gruppe tragfähig und damit zumindest potenziell dauerhaft werden lässt. In diese Werkzeugkiste hat die Evolution gegriffen, um dem Menschen eine besonders gute Grundlage für die Gruppenkooperation zu geben. Eine wichtige Komponente dieses Leims ist eine in aller Regel stark ausgeprägte Tötungshemmung, die mit der Bindung und ihren typischen emotionalen Korrelaten einhergeht.
Das Gegengewicht gegen diesen starken Leim ist die Flexibilität in seiner Anwendung. Ob der Leim wirksam wird oder nicht, hängt von der Kategorie ab, in der das Lebewesen subjektiv erfasst wird. Wir haben diesen Mechanismus bereits anhand identitätsbildender Konflikte zwischen Fans des eigenen Fußballvereins und Fans eines anderen Fußballvereins oder den Einwohnern der eigenen und den Einwohnern einer Nachbarstadt kennengelernt. In andere Dimensionen gesteigert wirkt derselbe Mechanismus bei Kriegen und bei fundamentalistischen Ideologien. Die »Anderen« sind hier oft eine Kategorie, deren Individuen nicht mehr als Menschen betrachtet werden. Es ist der namenlose Feind, es sind die Ungläubigen, die den Tod verdienen, Angehörige einer Rasse, die keine Lebensberechtigung haben, etc.
Konnten KZ-Aufseher treusorgende Familienväter sein? Ja, selbstverständlich. Denn das, was uns von außen als logischer Widerspruch erscheint, muss subjektiv keiner sein. Die Arbeit im KZ oder bei Erschießungskommandos im Feindesland wurde vielleicht sogar gerade aufgrund ihrer abstoßenden Qualität subjektiv als besonderer Dienst für das eigene Land kategorisiert. Sicher fehlen in der vorherrschenden Kategorisierung der Opfer aber die Aspekte, die das Kooperationsprogramm auslösen können (Bindung). Durch die Kategorisierung findet eine Entmenschlichung statt. Dadurch wird die mit dem Kooperationsprogramm einhergehende Tötungshemmung hinfällig. Das alles hat dann aber in der eigenen Wahrnehmung selbstverständlich nichts mit der eigenen Familie oder gar den eigenen Kindern zu tun. So wie das Stück Fleisch auf dem Teller nicht als ein verhaltensrelevanter Widerspruch zur eigenen Tierliebe empfunden wird oder der eigene Jagdhund vergöttert werden kann, ohne dass ein subjektiver Widerspruch zum Abschlachten vieler anderer Tiere in einem anderen Kontext entsteht.
Wir gehen Ambivalenzen nach Möglichkeit aus dem Weg und sind bestrebt, kognitive Dissonanzen zu vermeiden. Besonders große Hemmungen, bequeme und vertraute Sichtweisen infrage zu stellen, bestehen, wenn sie eng mit dem eigenen Selbstbild verknüpft sind. Da leisten die dargestellten Mechanismen im Alltag gute Dienste. Sie ermöglichen eine Kontinuität in der Lebensführung, eine Stabilität des eigenen Selbstbildes und schaffen dadurch eine klare Handlungsgrundlage. Logische Widersprüche, die wir mit der Vernunft erkennen können, führen nicht auf direktem Weg zu Einstellungs- oder gar Verhaltensänderungen. Im Gegenteil. Denn das Credo lautet: besser falsch, dafür schnell und/oder eindeutig. Das heißt auch: Die gefühlte, bequeme Wahrheit schlägt oft die unbequeme, kognitive Wahrheit.
5Das RSG-Modell
Wir haben verschiedene Mechanismen betrachtet, die dem Menschen im Wege stehen können, wenn es darum geht, die Wirklichkeit differenziert zu erfassen und darauf aufbauend vernünftig und human zu handeln. Basale erkenntnistheoretische Limitationen betreffen in gewisser Weise das Betriebssystem unserer Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit. Diese grundlegenden erkenntnistheoretischen Begrenzungen können in einer übergeordneten Perspektive als existenzielle metaphysische Aspekte eines im Universum existierenden Lebewesens aufgefasst werden. Auch auf dieser grundlegenden Ebene spielt bereits die Projektion von Strukturen und Mechanismen unseres Erkenntnisapparates in die Außenwelt eine Rolle. Damit ist die Gefahr verbunden, Ordnungsprinzipien, die wir in die für uns wahrnehmbaren Erscheinungen hineinprojizieren, als objektive Eigenschaften der Dinge zu interpretieren. Diese Dinge sind für uns aber nur durch ihre »Erscheinungen« wahrnehmbar, also durch die Art, in der sie uns »erscheinen«. Subjektiv determinierte Wahrnehmungs- und Erkenntnisstrukturen in die Außenwelt hineinzuprojizieren, ohne sie als fehleranfällige Projektion zu erkennen, ist auch auf den beiden nachfolgenden Ebenen ein zentrales Phänomen.
So findet sich auf der nächsten Ebene eine Vielzahl psychologischer Mechanismen, die als gravierende Schwachstellen unserer Erkenntnisfähigkeit anzusehen sind. Jedenfalls muss man es so sehen, wenn man das Ziel verfolgt, die Wirklichkeit differenziert zu erfassen und darauf aufbauend in humanistischer Tradition vernünftig zu handeln. Ist es nicht irritierend, dass unsere Vernunft so viele psychologische Konstruktionsmängel hat? Sind wir ein Montagsauto der Evolution, das man umtauschen sollte, wenn man es nur könnte? Nun haben wir aber bereits gesehen, dass es einen einfachen Grund für die scheinbaren Konstruktionsmängel gibt: Aus Sicht der Evolution geschah die Weiterentwicklung der Vernunft gar nicht mit dem Ziel, die Wirklichkeit differenziert abzubilden. Das Ziel der Evolution war beim Menschen wie auch bei allen anderen Organismen, Überlebens- und Reproduktionsvorteile für die gesamte Art zu schaffen. Vorangehend wurden viele Mechanismen im Detail dargestellt, die man unter dem Motto »Besser falsch, dafür schnell