Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok

Darwin schlägt Kant - Frank Urbaniok


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um dieses Gefühl zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Um Wahrheit, Differenzierung und Verhältnismäßigkeit geht es nicht. So ist auch die Sammelleidenschaft in der Gefahr, bis in einen Bereich des Absurden gesteigert und ausgeweitet zu werden. In der Regel sind Sammelleidenschaften aber harmlos, weil sie anderen Menschen nicht schaden. Das ist bei den meisten Ordnungen in Form von Regeln, Theorien, Konzepten und menschlichen Organisationsformen anders. Denn von ihren absurden Ausweitungen und Generalisierungen sind Umwelt oder andere Menschen oft elementar betroffen (vgl. Kap. 12).

      5.5Die menschliche Natur zeigt sich in allen Bereichen, die mit Menschen zu tun haben

      Wir haben uns mit Mechanismen der menschlichen Wahrnehmung, der Erkenntnisfähigkeit und Urteilsbildung sowie mit damit zusammenhängenden Verhaltensdispositionen beschäftigt. Zudem haben wir die menschliche Natur zwischen zwei Polen verortet: der egoistischen Selbstbehauptung bzw. dem Willen zur Macht auf der einen und dem vor allem durch Vernunft erheblich angereicherten Kooperationspotenzial auf der anderen Seite. Dabei gibt es eine große individuelle Spannbreite, in welchem Mischungsverhältnis diese beiden Triebkräfte bei einem bestimmten Menschen vorliegen.

      Beurteilungen und Handlungsweisen sind stark durch unsere Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten geprägt. Wir haben verschiedene Konstruktionsschwächen identifiziert, sofern man die klassischen aufklärerischen Ziele zugrunde legt. Unsere Vernunft stellt – zusammen mit intuitiven und emotionalen Verarbeitungsprozessen – zwar ein großes Potenzial bereit, die Wirklichkeit und die eigene Person differenziert zu erkennen und nach humanistischen Prinzipien zu handeln. Die Konstruktionsschwächen repräsentieren für diese Zielsetzung aber erhebliche Hindernisse und Fehlerquellen. Aus Sicht der Evolution handelt es sich aber nicht einmal um Konstruktionsschwächen. Denn die Evolution verfolgt keine aufklärerischen Ziele. In der Evolution geht es vorrangig um die Erhaltung und Steigerung der Reproduktionsmöglichkeiten einer Art, weshalb für den Erkenntnisapparat der Grundsatz gilt: besser falsch, dafür aber schnell und/oder eindeutig.

      Die hier noch einmal kurz zusammengefassten Überlegungen sind nicht nur auf Erkenntnisfähigkeiten und Handlungstendenzen einzelner Menschen anwendbar. Vielmehr finden sich diese Mechanismen in allen Bereichen, die in irgendeiner Weise mit menschlichem Handeln zu tun haben. Das heißt, die gleichen Mechanismen und die damit verbundenen Gefahren lassen sich in Konzepten, in Projekten, in Organisationen, ja in ganzen Gesellschaften, in der Wissenschaft oder in der Geschichte finden.

      So haben zum Beispiel Organisationen einen eigenen Charakter, der Ähnlichkeiten zu Eigenschaften aufweist, die auch bei einzelnen Individuen vorkommen können. Vor vielen Jahren habe ich sogenannte Prägnanztypen von Teams beschrieben. Damit sollten Charaktere von Teams dargestellt werden, die sich durch ein bestimmtes akzentuiertes Profil von anderen unterschieden. Demnach ist für ein manisches Team Überaktivität typisch. Es arbeitet diffus und unüberschaubar. Ihm fehlen Zielorientierung und Realitätsbezug. Die Kommunikationskultur ist ausufernd, diffus und ineffektiv. Es zeigt eine Vielzahl von Aktivitäten, denen aber der gemeinsame rote Faden fehlt. Wesentliches und Unwesentliches haben die gleiche Bedeutung und nehmen den gleichen Raum ein. Die Atmosphäre ist unruhig, irritierend und nervös.

      Hingegen bewegen sich zwanghafte Teams in einer streng geregelten Struktur von Abläufen, Zeiten und Verantwortlichkeiten. Sie haben Schwierigkeiten, sich auf neue Probleme oder Aufgabenstellungen flexibel einzustellen. Veränderung scheint diesem Team bedrohlich. Auf Patienten oder Kunden wirkt es erzieherisch ein und fördert oberflächliche Anpassung. Werden Regeln infrage gestellt, dann entwickelt das Team Angst. Kritik wird als Angriff empfunden und wütend abgewehrt. Zwanghafte Teams haben das Selbstbild einer »korrekt« arbeitenden Gemeinschaft. Konflikte bleiben unausgesprochen, unterschwellig sind Anspannung und Aggressionen spürbar. [Zusammengefasst in Anlehnung an 19, S. 58]

      Spezielle Charakteristiken lassen sich nicht nur Teams, sondern auch größeren Organisationen zuschreiben. Sie bewegen sich im gesamten Spektrum der Eigenschaften, die auch bei einzelnen Individuen anzutreffen sind. In ähnlicher Weise treffen auch die erkenntnistheoretischen und psychologischen Fehlerquellen bei Wahrnehmungen und Urteilen sowie darauf basierenden Handlungen nicht nur auf einzelne Menschen zu, sondern in gleicher Weise für ganze Organisationen. Auch Organisationen sind als System auf Selbsterhaltung und meist auch auf Wachstum ausgerichtet. Die Triebkraft egoistischer Selbsterhaltung ist in vielen Organisationen eine wesentliche oder gar dominierende Grundmotivation des Handelns. Dies jenseits aller Bekundungen, wonach der Kunde König sei, man dem Bürger mit seiner Verwaltungstätigkeit diene oder sich allein dem Wähler verpflichtet fühle. Das mag in manchen Organisationen zwar auch eine Rolle spielen. Es ist aber selten die primäre Handlungsmotivation. In ihren Handlungsstrategien sind Organisationen ebenso wie Einzelpersonen anfällig für alle Mechanismen des RSG-Modells.

      Niklas Luhmann würde aus seiner systemorientierten Perspektive davon sprechen, dass eine Organisation ein Teilsystem unter vielen anderen gesellschaftlichen Systemen mit autopoietischen – und somit sich selbsterhaltenden – Regelkreisläufen ist. Dem Menschen als handelndem Subjekt kommt in dieser Sichtweise keine Bedeutung zu. Das System konstituiert sich als eigenständiger Organismus durch Kommunikation. Dabei finden innerhalb des Systems Prozesse der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung statt, indem Handlungen interpretiert (zugerechnet) werden. Zentral ist das uns schon bekannte Phänomen der Abgrenzung (vgl. Kap. 4.5). Das System entsteht und besteht fort, indem es permanent zwischen System und Umwelt (System und Nicht-System) unterscheidet. [21]

      So kann man es sehen. Gemäß der in diesem Buch vertretenen Perspektive würde ich aber die Ähnlichkeit all dieser Mechanismen mit den zentralen Mechanismen der menschlichen Natur betonen. Soziale Systeme funktionieren nicht aufgrund abstrakter Prinzipien, in deren Vollzug zufällig – auch – Menschen Träger von Kommunikation und Handlungen sind. Soziale Systeme wie zum Beispiel Organisationen funktionieren aufgrund bestimmter Prinzipien, weil sie von Menschen geschaffen und aufrechterhalten werden. Sie sind daher in allen Fasern von der menschlichen Natur durchdrungen. Daher ist ihr Verhalten an ähnlichen Prinzipien orientiert wie das einzelner Menschen. Konkret finden wir in Organisationen die Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Handlungsdispositionen, die der menschlichen Natur entsprechen: Abgrenzung zur Schaffung von Identität als flexibel anwendbarer Mechanismus, Reduzierung von Komplexität und die Produktion von Begriffen, Erklärungen und Urteilen gemäß dem RSG-Modell. Auch sind Kooperationspotenzial und egoistische Selbstbehauptung in Organisationen von ebenso zentraler Bedeutung wie für einzelne Individuen.

      Das Gesagte gilt aber nicht nur für Organisationen. Vielmehr bilden sich in allen Bereichen, die mit Menschen zu tun haben, die Mechanismen der menschlichen Natur ab. Überall, wo der Mensch drinsteckt, gibt es ihn nur als Gesamtpaket mit all seinen evolutionären Programmen. Der Blick auf diesen naheliegenden Zusammenhang ist durch viele Theoretiker in der Philosophie, der Geschichte, den Gesellschaftswissenschaften, der Ökonomie, aber auch in Politik, Kunst und anderen Wissenschaften verstellt worden. Ein blinder Fleck, der an vielen Stellen weiterwirkt und gepflegt wird.

      Es ist erstaunlich, wie viele Wissenschaftler in ihren geschlossenen Theorien den Einfluss der menschlichen Natur oder individueller Persönlichkeiten ignorieren. Oft ist das nichts anderes als der Versuch, eine liebgewonnene, vertraute Theorie in ihrer Reinheit zu bewahren. Sie soll nicht durch so etwas Profanes wie die menschliche Natur mit all ihren Unzulänglichkeiten, Zufälligkeiten und Stereotypen verunreinigt werden.

      Ein typisches Beispiel ist die marxistische Idee, der zufolge das Sein das Bewusstsein prägt – und das selbstverständlich umfassend und ausschließlich. Deswegen gäbe es in der klassenlosen Gesellschaft auch keine Ausbeutung mehr, weil mit der Abschaffung des Privateigentums der Grund für die Ausbeutung weggefallen sei. Nur verhielten sich die Menschen leider nicht so, wie es die Theorie vorsah. Die Geschichte ist voll von klassenlosen Gesellschaften oder solchen, die sich auf dem Weg dorthin wähnten, in denen Unterdrückung, Massenmorde, Ausbeutung und alles das, was der Mensch an Schlechtem zu vollbringen weiß, in exzessiver Form zu beobachten sind. Unverkennbar: Es ist der Mensch, der am Ende auch in diesem Theater mit neuer Kulisse das gleiche, altbekannte Schauspiel darbietet.


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