Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok
als die unkritische Generalisierung der Bewertung einer einzelnen Information auf viele weitere Aspekte, die mit der ursprünglichen Information gar nichts zu tun haben. Zahlreiche andere Mechanismen (z. B. Selektion von Informationen, Vermeidung widersprüchlicher Informationen, Ausrichtung der Informationen an einem eigenen, inneren Skript, das nicht infrage gestellt wird) sind ebenfalls sehr gut geeignet, Ideen oder Theorien auszuweiten, aufzupumpen und letztlich zu generalisieren.
Es kommt hinzu, dass die Generalisierung dem Pol der menschlichen Natur entspricht, der als egoistische Selbstbehauptung bzw. Wille zur Macht bezeichnet wurde. Die egoistische Selbstbehauptung als Wille zur Macht hat, wie bereits erwähnt, etwas Fortschreitendes und Grenzenloses. Sie ist mit einer Überbewertung der eigenen Perspektive und des eigenen unbedingten Wertes verbunden. Sie lebt vom Prinzip, die Umwelt und insbesondere andere Menschen zu kontrollieren, zu unterwerfen und zu beherrschen. Die mit der Generalisierung verbundene Ausweitung und Allgemeingültigkeit eigener Sichtweisen kommt all diesen Aspekten entgegen.
Die Generalisierungstendenz begegnet uns deshalb überall im Alltag. Aus einem punktuell richtigen Gedanken wird eine umfassende Theorie, aus einer Regel eine ausufernde Bürokratie, aus einer bequemen Sichtweise eine Ideologie oder Religion.
5.4Ordnungen
Begriffe, Erklärungen und Urteile sind in der Lage, uns Gefühle von Kompetenz und Sicherheit zu vermitteln. Es ist eine wesentliche Funktion der Subjektivierung, diese Wirkung zu erzielen. Um die positiven Gefühle aufrechtzuerhalten, stellen wir unsere Erkenntnisse nicht gerne infrage. Wir verstehen die Umwelt, wir durchschauen sie und können sie dadurch kontrollieren. So wirkt sie weniger bedrohlich.
Diese Effekte sind bereits mit Begriffen, Erklärungen und Urteilen verbunden. Sie gelten aber in ganz besonderer Weise für Ordnungen, die wir entwickeln oder die wir als gegeben zu erkennen glauben. Ordnungen gibt es in vielerlei Formen. Beispiele für Ordnungen sind Regeln, Konzepte, Theorien oder menschliche Organisationsformen. Sie ordnen die Wirklichkeit und schaffen so ein eigenes Abbild von dieser. Es ist eine Wirklichkeit, die sich uns in Form der genannten Ordnungssysteme präsentiert. Weil diese Abbilder der Wirklichkeit vollumfänglich durch Menschen gestaltet und kontrolliert werden können, sind sie für uns attraktiv. Denn Ordnungen sind besonders gut geeignet, Gefühle der eigenen Kompetenz, der Sicherheit und der Kontrolle zu vermitteln.
Allein deswegen sind Ordnungen in besonderer Weise anfällig für die vorangehend beschriebene Generalisierungstendenz. Sie wird durch die evolutionären Prägungen begünstigt, die mit Ordnungen seit Millionen von Jahren verbunden sind.
Ordnungen und speziell Regeln begegnen uns in der Evolution an allen Ecken und Enden. Schon immer sind sie fester Bestandteil evolutionärer Programmierung. Denken wir an molekulare Mechanismen, an das Wachstum oder die Organisation und Kommunikation von Zellen, dann gibt es einen fließenden Übergang von biologisch-physikalischen Regeln in die Struktur lebender Organismen. Diese Perspektive macht deutlich, dass Regeln (und Ordnungen allgemein) – so wie wir diese zu erkennen in der Lage sind – elementar bereits am Anfang der Evolution und letztlich am Anfang des Universums standen. Regeln und andere Ordnungen sind auch für das Verhalten von Tieren prägend. Fischschwärme, Vogelfamilien, Wolfsrudel, Affengruppen, Bienen- und Termitenstaaten – überall in der Natur begegnen uns ausdifferenzierte Regeln und Ordnungen. Wenn wir diese Regeln und Ordnungen im Verhalten von Tieren sehen, dann bedeutet das, dass deren Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Entscheidungsfunktionen auf diese Regeln und Ordnungen ausgerichtet sind. Das heißt, im Wahrnehmen und Denken der jeweiligen Tiere werden Regeln und Ordnungen priorisiert. Neil Shubin hat in seinem spannenden Buch »Der Fisch in uns« gezeigt, wieviel Fischbiologie als Reste unseres evolutionären Werdegangs noch in uns steckt. [20]
Wenn da noch so viel evolutionärer Fisch in uns steckt, dann wäre es ja haltlos anzunehmen, dass die elementaren Prinzipien von Regeln und Ordnungen, die an allen Ecken und Enden in der Evolution anzutreffen sind, spurlos an uns vorbeigegangen sind. Dem ist selbstverständlich nicht so. Zwar ist mit der Ausweitung der Vernunft beim Menschen die Möglichkeit, Regeln und Ordnungen zu erkennen, zu erfinden und weiterzuentwickeln, noch einmal deutlich gesteigert worden. Die elementaren Prinzipien wurden dadurch aber nicht außer Kraft gesetzt.
Viele Lebewesen verwenden Regeln als Leitlinie für ihr Verhalten, zum Beispiel im Dienst der Orientierung. Der Stand der Sonne, Anordnungen von Bäumen, Wasserstellen und unzählige weitere Merkmale, die in der Natur anzutreffen sind, können dazu verwendet werden, die Umgebung zu strukturieren, sie damit zu ordnen, um sich so orientieren zu können. Regeln, die das Verhalten prägen, gibt es u. a. als soziale Ordnungen, indem zum Beispiel Reviere abgegrenzt werden, oder in Form von Rangordnungen. Funktions- und Rangordnungen finden sich bei allen Lebewesen, die in Paaren oder Gruppen leben.
Wenn man die Ordnungen in der Natur betrachtet, dann erkennt man leicht, dass es nicht um Flexibilität, um irgendwelche Rechte des Einzelnen oder um größtmögliche Partizipation an der Gemeinschaft geht. Im Gegenteil sind soziale Regeln meist außerordentlich rigide und strikt funktional auf das Überleben der Gruppe oder der Nachkommenschaft ausgerichtet. Oft werden sie durch Rangkämpfe festgelegt. Ein neu inthronisiertes Löwenmännchen beißt häufig die Jungen seines Vorgängers tot – quasi als erste Amtshandlung. Aus evolutionärer Sicht ist das ein sinnvolles Vorgehen, weil damit die Reproduktion der eigenen genetischen Substanz sichergestellt wird. Aus humanistischer Perspektive ist das Verhalten aber nicht sympathisch. Es findet sich hier ein Motiv, das uns schon mehrfach begegnet ist. Eine Regel ist dann eine gute Regel, wenn sie eindeutig ist und damit eine klare Handlungsgrundlage schafft. Sei es, dass man sich im Gelände gut orientieren kann, sei es, dass ein Individuum einen festgelegten Platz in einer sozialen Ordnung einnimmt oder dass die eigene Reproduktionsmöglichkeit verbessert wird. Die in der Natur erkennbaren Ordnungen und Regeln zeichnen sich nicht durch die differenzierte Erfassung der Umwelt, soziale Implikationen oder Flexibilität aus. Typische Kennzeichen sind Rigidität, Automatismen und die möglichst ausnahmelose Anwendung. Das aber sind Elemente, die einen fließenden Übergang zu ungehemmter Generalisierung schaffen. Immer oder nie, entweder/oder und alles oder nichts kennzeichnen den Charakter solcher Ordnungen und Regeln.
Differenzierungen und auf den Einzelfall bezogene Beurteilungen sind unter dem Gesichtspunkt evolutionärer Zielsetzungen (Überleben und Reproduktion) nicht gefragt. Dieser Geist prägt auch unser Verhältnis zu Regeln und begünstigt Fehlentwicklungen.
Fatal sind Rigidität und Automatisierung, weil alle menschlichen Ordnungsversuche in besonderer Weise die Tendenz haben, ausgeweitet und generalisiert zu werden. Eine spezielle Ausdrucksform der menschlichen Ordnungsdynamik kann man bei Sammlern beobachten. Viele Menschen sammeln irgendetwas. Bei einigen ist das Sammeln auf eine bestimmte Lebensphase beschränkt. Nicht wenige pflegen ihre Sammelleidenschaft aber ein Leben lang. Die menschliche Sammelleidenschaft kann sich an jedes Thema und jeden Gegenstand heften. Das geht weit über Briefmarken oder Bierdeckel hinaus. Manche Menschen sammeln Unmengen von Fotos und kategorisieren sie. In vielen alltäglichen Beschäftigungen ist die gleiche Sammeldynamik am Werk, die einen Briefmarkensammler antreibt, auch wenn das subjektiv nicht so eingeordnet wird. Da die Tendenz zum Sammeln so weit verbreitet ist, liegt es nahe, sie als ein Element der evolutionären Grundausstattung der menschlichen Natur zu betrachten. Da fällt einem zunächst das ein, was bereits generell zu den wohltuenden Funktionen aller menschlichen Ordnungen gesagt wurde. Denn auch das Sammeln führt subjektiv dazu, sich eine eigene Welt zu erschaffen. Es ist eine geordnete und klar strukturierte Welt. Einige Phänomene der Welt in eine eigene Ordnung zu bringen, bedeutet, sie berechenbarer zu machen und ihnen einen subjektiven Sinn zu verleihen. Sie können damit im Rahmen der eigenen Ordnung kontrolliert werden, wodurch ein Gefühl der Sicherheit entsteht.
Etwas verstehen, ordnen und kontrollieren zu können, sind die potentesten Fähigkeiten, um uns in einem existenziell unsicheren und vergänglichen Leben Gefühle der Sicherheit und Stabilität zu vermitteln. Wir erinnern uns. Das war ein wichtiger Stoßdämpfer der Evolution gegen die Gefahren, die von einer gewachsenen Vernunft ausgehen können. Die gesteigerte Vernunft könnte Unsicherheit, Zweifel und Handlungsunfähigkeit hervorrufen. Dagegen sind starke subjektive Überzeugungen und vor allem das Gefühl, verstehen, ordnen und kontrollieren zu können, wichtige