Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok

Darwin schlägt Kant - Frank Urbaniok


Скачать книгу
Gruppe von Fußballfans marschiert ist, im Karneval oder bei Konzerten in emotional gelockerter Stimmung wildfremde Menschen umarmt hat, der bekommt ein Gefühl dafür, wie schnell sich dieser Schalter bei uns umlegen lässt. Ein anderes Beispiel sind politische Massenveranstaltungen – sei es bei den Nationalsozialisten oder aktuell in der Türkei, wenn dem »Messias« gehuldigt wird. Menschen haben in diesen Situationen die Tendenz, in der Masse aufzugehen und die Grenzen der eigenen Individualität zu lockern. Das kann in vielen unterschiedlichen Situationen geschehen und ist von einem Moment auf den anderen sogar mit wildfremden Menschen möglich. Dies und dass das Aufgehen in einer Gruppe von einem starken positiven Gefühl getragen wird, sind deutliche Indizien dafür, dass wir es hier mit einem Programm zu tun haben, das die Evolution in der menschlichen Natur angelegt und tief verankert hat.

      Wenn Menschen eine Gruppenidentität annehmen und dabei ihre individuelle Identität relativieren, geschieht das durch eine starke Aktivierung des Kooperationspotenzials. Diese Aktivierung bleibt aber auf die jeweilige Gruppe beschränkt. So leben zum Beispiel politische oder religiöse Gruppen, Hooligans und andere Gangs davon, Gruppenidentitäten dadurch zu festigen, dass sie sich scharf von anderen Gruppen abgrenzen. Abgrenzung ist ein Element, das eng mit dem Identitätserleben am Pol egoistischer Selbstbehauptung verbunden ist: Hier bin ich und behaupte mich gegen den Rest der Welt!

      Abgrenzung ist generell ein Mechanismus, um Identitäten zu schaffen oder Identitäten zu schärfen. Es ist nicht der einzige Mechanismus, aus dem sich Identitätserleben speist, aber es ist ein sehr mächtiger, archaischer, allgegenwärtiger und oft auch gefährlicher Mechanismus. Um die zentrale Bedeutung dieses Mechanismus zu verdeutlichen, könnten wir eine Ursprungsgeschichte erzählen, in der die Schaffung von Identität durch Abgrenzung zum zentralen Prinzip erklärt wird:

      Nur durch Abgrenzung wird Identität geschaffen. Bereits der Beginn des Universums verdeutlicht dieses Prinzip. Denn am Anfang war das Nichts. Im Nichts gibt es keine Materie, kein Lebewesen, keinen Planeten, kein Atom, keine Zeit, keinen Raum … nichts, ganz und gar nichts. Vergegenwärtigt man sich diesen Zustand, dann ist die erste Materie, die das Nichts zerstört, nichts anderes als eine Abgrenzung vom Nichts. Die erste Materie ist eine Nicht-Nichts-Insel in einem Meer des Nichts. Die gesamte Weiterentwicklung kann man nun als eine Fortsetzung des Abgrenzungsprinzips verstehen. So ist das erste Atom eine Abgrenzung von diffuser Materie: eine Insel atomarer Materie in einer diffusen Materiesuppe. Der erste Planet ist eine Abgrenzung von atomaren Gaswolken (eine erste Planeteninsel im unendlichen Gasnebel). Das erste Sonnensystem ist eine Abgrenzung von einzelgängerischen Planeten (eine erste Sonnensysteminsel im Chaos umherfliegender Planeten) usw.

      Machen wir einen großen Sprung hin zur Entstehung des Lebens. Wieder begegnet uns Abgrenzung als zentrales Prinzip. Der Beginn des Lebens besteht darin, dass sich DNA-Bruchstücke von einer molekularen Ursuppe abgrenzen. Nach diesem Startschuss geht ein nicht enden wollender Kampf los: jeder gegen jeden. Bakterien, Viren, Fische, Schlangen, Ameisen, Löwen, Tiger, Affen … Nein, es geht nicht um Kooperation, nicht um friedliche Koexistenz. Die Devise ist vielmehr: Abgrenzung, fressen und gefressen werden.

      Auch in unserer eigenen Entwicklung ist dieses Prinzip feststellbar. Der Säugling erlebt sich noch zunächst als von seiner Umgebung unabgegrenzt. Seine Identitätsentwicklung besteht darin, dass er die Fähigkeit entwickelt, zwischen Ich und Nicht-Ich zu unterscheiden.

      Generell wissen wir aus der Wahrnehmungstheorie, dass Identität erst durch Verschiedenheit und durch Abgrenzung erkennbar wird. Eine weiße Schrift ist in einer weißen Umgebung nicht wahrnehmbar. Umso klarer sehen wir die weiße Schrift aber vor einem schwarzen Hintergrund. Abgrenzung begegnet uns überall und schafft permanent und flexibel auf unterschiedlichsten Ebenen Identität. Das persönliche Identitätserleben besteht darin, sich selbst als gegenüber allen anderen Menschen anders und abgegrenzt zu erleben (ich versus alle anderen Menschen).

      Dekliniert man dieses Prinzip weiter, dann entsteht eine Familienidentität dadurch, dass sich Familienmitglieder als gegenüber Nicht-Familienmitgliedern abgegrenzt erleben (Familie versus Nicht-Familienmitglieder). Manchmal erleben sich die Bewohner eines Stadtviertels (Quartiers) als eine Gemeinschaft. Hier grenzen sich die Bewohner des eigenen Viertels gegenüber den Bewohnern anderer Viertel ab (Quartierbewohner versus Nicht-Quartierbewohner). Ein gängiges Phänomen ist es, dass sich vor allem Nachbarstädte gegeneinander abgrenzen. Diese Abgrenzung besteht häufig in einer zugespitzten Rivalität und wird auf verschiedenen Ebenen geradezu zelebriert (eigene Stadt versus fremde Stadt).

      Familienmitglieder, Quartierbewohner und unzählige Bewohner aller möglichen Städte werden aber dann rasch unter einer anderen Perspektive zu einer homogenen Identität, wenn Inländer gegenüber Ausländern abgegrenzt werden. Hier entsteht eine Identität und Verbundenheit mit den Bewohnern des eigenen Landes gegenüber den Bewohnern aller anderen Länder (Inländer versus Ausländer). Die Konkurrenz, die vielleicht gerade noch bei einem Fußballspiel zwischen zwei Ländern sehr ausgeprägt war, kann in einer neuen Identität – theoretisch – aufgelöst werden, wenn ein Spiel zwischen verschiedenen Kontinenten angesetzt würde. Würden nun die Konkurrenten von eben zum Beispiel in einer Europaauswahl gegen eine Auswahl des amerikanischen Kontinents antreten, würden wir den noch kurz zuvor als feindlich erlebten Konkurrenten ob seiner großen Qualitäten freudig in unserer eigenen kontinentalen Mannschaft begrüßen. Wir könnten uns mit der neu geschaffenen Mannschaft in ähnlicher Weise identifizieren, wie wir es zuvor mit der Ländermannschaft getan haben. Wenn wir dieses Prinzip noch eine Stufe weitertreiben, dann könnte man theoretisch das Szenario eines Kampfes der Menschheit gegen Außerirdische konstruieren. In diesem Fall würden wir uns stark mit der gesamten irdischen Menschheit identifizieren, die zum Kampf gegen die Außerirdischen antritt. Alle Abgrenzungen und Unterschiede, die zuvor in allen möglichen Facetten dazu geführt haben, viele andere Menschen als fremd, anders und sicher nicht zu unserer Gemeinschaft gehörig anzusehen, wären mit einem Schlag verschwunden oder zumindest zeitweise erheblich relativiert.

      Wir erkennen an diesen Beispielen, wie flexibel wir sind, die jeweiligen Abgrenzungen und Zugehörigkeiten anzupassen. Zentral bleibt aber immer ein Prinzip: Abgrenzung und das Erleben von Unterschiedlichkeit schaffen Identität. Wer zu einer eigenen Identität bzw. einer eigenen Gruppe gehört und wer nicht, hängt davon ab, unter welchen Kategorien wir die jeweiligen Personen subsumieren. Die Flexibilität besteht darin, dass wir problemlos sehr enge oder aber sehr weit gefasste Kategorien mit einem eigenen Identitätserleben und dem entsprechenden Gefühl von Verbundenheit koppeln können. Diese Fähigkeit ist Teil unseres Kooperationspotenzials, das uns die Evolution als ein Standardprogramm mitgegeben hat.

      Ein häufig praktizierter Mechanismus, um sich positiv zu identifizieren, ist es übrigens, die anderen, von denen man sich abgrenzt, zu disqualifizieren. Es ist z. B. weit verbreitet, über andere (Mitglieder einer anderen Abteilung, einer anderen Berufsgruppe, einer anderen Firma, Angehörige einer anderen Rasse, Bewohner einer anderen Stadt, Vertreter einer anderen Überzeugung etc.) schlecht zu reden. Jeder kennt Alltagssituationen, in denen das zu beobachten ist. Gemeinsam über andere Personen schlecht zu reden, ist gut für das eigene Selbstwertgefühl. Weil die anderen Idioten sind, steht man selbst besser da – denn man ist ja anders. Gemeinsam über andere schlecht zu reden, erzeugt ein wohltuendes Gemeinschaftsgefühl. Es ist zudem eine gute Strategie, Konflikte in der eigenen Gruppe, in der eigenen Familie zu verdecken. Sie vermittelt bequeme Erfolgserlebnisse, ohne dass man eine eigene Leistung dafür erbringen muss. Andere Menschen zu diskreditieren, erzeugt in diesem Sinne Sicherheit: Wir sind auf der richtigen, der stärkeren Seite etc.

      4.6Das Verhältnis Mensch – Tier: Ein Beispiel für die Aktivierung und Deaktivierung des Kooperationspotenzials

      Wir haben gesehen, dass unsere Vernunft durch eine Reihe psychologischer Mechanismen verdünnt und zurechtgebogen wird, um aus evolutionärer Sicht nicht mehr zu schaden, als sie nutzt. Ihrem Prinzip »Besser falsch, dafür aber schnell und/oder eindeutig« kann man noch hinzufügen, dass die Aufrechterhaltung einer stimmigen Identität ebenfalls ein wichtiges Ziel darstellt. Da soll uns weder die Vernunft in die Quere kommen, noch sollen uns alltägliche Handlungen zu sehr erschwert werden. So ist auch die Aktivierung oder die Deaktivierung des Kooperationspotenzials in vertraute und


Скачать книгу