Muslimin sein. Carla Amina Baghajati

Muslimin sein - Carla Amina Baghajati


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Brisanz.

      Den Islam von seiner Auslegung her dynamisch und nicht statisch zu begreifen, ist das entscheidende Kriterium, um die Glaubenspraxis nicht in Widerspruch zur Moderne zu bringen. Ja, es gibt in der Lehre Prinzipien und in der Glaubenspraxis Bestandteile wie Gebet, Fasten oder die Sozialabgabe zakat, die unverrückbar sind und daher auch die Säulen der Religion bilden. Doch gerade diese Sicherheit ist auch eine Einladung zu Offenheit, auf dieser authentischen Basis die jeweilige Lebenswirklichkeit zu überdenken und Fragen zuzulassen. Wer sich lieber in eine angeblich absolut heile Welt der Frühzeit des Islams hineinträumt, ist hier oft skeptisch. Bedeutet zu viel Flexibilität nicht letztlich einen Verrat an der überlieferten Tradition? Ist es nicht sogar gefährlich, andere kulturelle Gepflogenheiten anzunehmen? Würde nicht jedes Nachahmen „anderer“ Traditionen Schritt für Schritt zum Verlust der eigenen religiösen Identität führen?

      Für mich war die Erkenntnis, dass der Islam kein starres Korsett ist, sondern sogar verlangt, auf die jeweiligen Verhältnisse zu reagieren, auch ein Weg, die Frage nach dem Stellenwert der eigenen kulturellen Wurzeln zu lösen. Ich verstand, dass ich künftig nicht jede kulturelle Besonderheit des Orients aufgreifen müsse, um mich als Muslimin zu erfahren. Mein nichtmuslimisches Umfeld schien dagegen anderer Auffassung zu sein. Vor allem seit ich fünf Jahre nach der Konvertierung begann Kopftuch zu tragen, nahm man von mir wie selbstverständlich an, ich müsse automatisch eine Expertin für die Kultur des Orients sein. Vielleicht gefiel mir das anfangs sogar. Es schien ja meine selbstgewählte muslimische Identität zu bekräftigen. Die Trennlinien zwischen Kultur und Religion sind auch alles andere als leicht zu bestimmen. Vieles verschwimmt ineinander. Die Reinheitsgebote der Religion prägten zum Beispiel die Badekultur in muslimischen Ländern, die wiederum auf dem römischen Erbe aufbaute.

      Meine ursprüngliche Verkrampftheit in Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest illustriert besonders gut, wie es von der hiesigen Kultur geprägten Frauen geht, wenn sie muslimisch werden. Anstatt von vornherein die eigene Kultur in die neue Identität als Muslimin mitzunehmen, wird erst überprüft, ob hier auch kein „Verrat“ am Islam vorliegt. Was zusätzlich in die Quere kommen kann, ist die schon angeklungene Angst vieler frommer Muslime, in bid‘a zu fallen. Dieser Begriff benennt das Verbot „unzulässiger Neuerungen“, die den religiösen Kern verwässern könnten. Bei Menschen mit Migrationshintergrund ist diese Sorge oft noch ausgeprägter. In der Fremde wollen sie ihr religiöskulturelles Erbe erst recht ängstlich bewahren. Hier kann ein innermuslimischer Diskurs gerade mit den Konvertierten helfen, die Einordnung zu erleichtern und Hemmschwellen vor kulturellen Eigenarten des neuen Lebensmittelpunktes zu nehmen.

      In jeder Kultur gibt es viele Traditionen, die nicht unbedingt nur religiös begründet sind. Jahrelang trafen wir uns als Gruppe konvertierter Frauen am 24. Dezember zu der Zeit, wo in christlichen Familien die Bescherung stattfindet. Es war die Anregung einer Freundin, die offen das zugab, was auch andere beschäftigte: An einem so emotionalen Datum kamen die Erinnerungen hoch, wie schön das früher gefeiert worden war: Lebkuchen, Kerzenschein, der geschmückte Baum. Nicht, dass jemand am eigenen Glauben gezweifelt hätte. Vor sentimentalen Gefühlen waren wir trotzdem nicht gefeit. Jede brachte ein traditionelles Weihnachtsessen mit und wir genossen einen lustigen Abend.

      Heute backe ich in der Weihnachtszeit all die Kekse, deren Rezepte bei uns in der Familie überliefert worden sind, und verschenke sie auch gerne. Vanillekipferln zu backen oder zu essen ist kein Bekenntnis zum Christentum. Diesen Gedanken gebe ich gerne auch an Muslime weiter. Manchmal denke ich dabei an meine Klassenkameradin Mariam, damals, Anfang der 1980er-Jahre, die einzige Muslimin unter uns, die wir irgendwie bemitleideten, weil es für sie keine Geschenke zu Weihnachten gab. Sie sagte: „Bei uns ist es eigentlich besonders weihnachtlich. Wir haben keinen Stress davor und genießen es als Familie zusammen zu sein, zünden Kerzen an, essen gut und spielen und reden miteinander.“ Warum also nicht die spezielle Stimmung des Festes genießen? Noch dazu, wo Weihnachten theologisch die Möglichkeit bietet, sich mitzufreuen über Jesus. Denn für die Muslime ist er ein Prophet und die Geschichte seiner Geburt lässt sich sogar im Koran nachlesen.3

      Für meine Mutter war es eine große Erleichterung, nach und nach zu erleben, dass gerade im kulturellen Bereich die Traditionslinien, die sie mir mitgegeben hatte, von mir gepflegt und an die eigenen Kinder weitergegeben wurden. Auch die Ängste, dass ich einer Gehirnwäsche unterzogen worden sei, legten sich, sobald sie merkte, dass ich „die Alte“ geblieben war. Als ich dann ungefähr ein Jahr nach der Konvertierung einen Muslim heiratete, wurde mein Mann sehr herzlich als Schwiegersohn aufgenommen. Dass wir eine partnerschaftliche Ehe führen, überwand Vorurteile und Befürchtungen. Die Tochter würde bezüglich ihrer Frauenrechte nicht wieder hinter das zurückfallen, was die Mutter in ihrer Generation erreicht hatte! Im Dialog mit Feministinnen wurde mir immer wieder klar, wie frisch die Errungenschaften der zweiten Frauenbewegung der 1970er-Jahre noch sind. Das erklärt die Angst, dass die zunehmende Präsenz des als streng patriarchalisch wahrgenommenen Islams diese Frauenrechte gefährden könnte.

      Aber ist der Islam wirklich patriarchal? Während ich nach und nach ein sehr entspanntes Verhältnis zu meiner eigenen kulturellen Tradition fand, war mir bereits früh aufgefallen, dass „Tradition“ in Zusammenhang mit dem Islam immer mehr zum Schlagwort wurde, um das Unbehagen angesichts frauenfeindlicher Zustände auszudrücken. Im Dialog mit Andersgläubigen wurde der Hinweis auf die „böse Tradition“ oft eine Art Joker, um im Gespräch die manchmal krassen Widersprüche zwischen islamischem Anspruch und der gelebten Realität zu begründen. Auch unter Muslimen erlebte ich den Rückzug auf die Position, Missstände der Tradition zuzuschreiben. Mich stimmte dies zunehmend unzufrieden. Denn es schien zu bequem, damit eine Art Sündenbock zu haben, um nicht weiter nachdenken zu müssen, ob die Religion – in Form frauenfeindlicher Auslegungstraditionen – nicht doch ihren Anteil an der Misere hat.

      Die islamische Theologie kann sich nicht davor drücken, eine kritische Sichtung gewisser Auslegungen vorzunehmen, die Frauen in starre Rollenbilder zwängen oder gar Menschenrechtsverletzungen Vorschub leisten. So kann das Ziel verfolgt werden, Argumente freizulegen, die Frauenrechte stärken und für Geschlechtergerechtigkeit plädieren. Der Islam genießt einen hohen Stellenwert in muslimischen Gesellschaften. Selbst Menschen, die ihn weniger praktizieren, wissen, dass Argumente auf dem Boden des Islams dringend nötige Bewusstseinsänderungen bringen können. In der Migration kommt der zusätzliche Bedarf an Orientierung hinzu, wie eine authentisch muslimische Lebensweise gelingen kann, ohne sich von der Gesellschaft abzukapseln. In jüngster Zeit sind Integrationsdebatten unter Muslimen mehr in Richtung Partizipation gegangen. Der Wunsch, endlich als lebendiger Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, macht Teilhabe notwendig. Der Dialog erhält so einen hohen Stellenwert.

      Zum Buch

      „Eine gute Frage ist die Hälfte der Wissenschaft“4: Dies begründet die vorliegende Form, die Kapitel mit Fragen zu überschreiben. In muslimischen Kreisen gehört manchmal Mut dazu, eine Frage zu formulieren, in der fundamentale Kritik an bestehenden scheinbaren Selbstverständlichkeiten steckt. Diese Fragen können somit einen Prozess in Gang setzen, der auch die Theologen in die Pflicht nimmt, stärker dem zutiefst islamischen Anspruch zu entsprechen und bei Berücksichtigung der Quellen Koran und Sunna die Lebenswirklichkeit der Gläubigen einzubeziehen. Die Angst, nur mehr zeitgeistig irgendwelchen Trends hinterherzulaufen und allerlei Meinungsmachern nach dem Mund zu reden, bremst hier leider oft. Offenheit für die Moderne ist aber eine theologische Notwendigkeit. Sonst ginge ein wesentlicher Anspruch des Islams verloren: „Erleichterung von der Bedrängnis“5. Darin steckt eine emanzipatorische Kraft, die gerade in der Frage der Durchsetzung von Geschlechtergerechtigkeit zu nutzen ist.

      Auch Fragen aus der Außensicht sind wertvoll, weil sie dazu einladen, Unterschiede zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung zu entdecken. Wer sich ehrlich auf eine Beantwortung einlässt, muss eigene Standpunkte überprüfen.

      Selbstverständlich kann es auf viele Fragen keine letztgültige Antwort geben. Die Beiträge verstehen sich als Teil eines spannenden Prozesses, in dem die Leserinnen und Leser selbst als Agierende angesprochen sind. Manchmal werden Fragen auch neue Fragen aufwerfen. Auf jeden Fall sollen die Texte aber Orientierung bieten, gewisse Erscheinungsformen gerade des Alltags und des Zusammenlebens besser einordnen


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