Muslimin sein. Carla Amina Baghajati
geht es um ein gemeinsames Ausloten von Möglichkeiten.
So soll das Buch Dialogerfahrungen nicht nur würdigen, sondern auch ein Stück erlebbar machen. Fragen – und gerade die „dummen“ oder provokanten Fragen – regen zu kritischer Selbstreflexion an und liefern wertvolle Denkanstöße. Der Dialog unter Frauen – sei es auf interreligiöser Ebene bereits seit den 1990er-Jahren, sei es zwischen der Frauenrechtsbewegung und Musliminnen – hat in Österreich wesentlich dazu beitragen können, mehr gegenseitiges Verständnis aufzubauen. Viele der nachfolgend aufgenommenen Fragen stammen daraus. Frauen können nicht nur viel voneinander lernen, sondern werden entdecken, dass bei der Vielfalt der Zugänge letztlich gemeinsame Interessen vorhanden sind. Das „Wir Frauen“ kann so neue Bedeutung in einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft gewinnen.
Dass auch Männer Partner in diesem Prozess sein können, ist von immenser Bedeutung. Sie können als Multiplikatoren ein wichtiges Sprachrohr sein, wenn sie etwa die Kanzel der Moschee nutzen, um Bewusstsein für Geschlechtergerechtigkeit zu wecken. Mit dem Begriff der Geschlechtergerechtigkeit tun sich viele Muslime, sowohl Frauen wie Männer, leichter als mit „Emanzipation der Frau“, weil er vermittelt, dass der Weg, beiden Geschlechtern gerecht zu werden, auch ein gemeinsamer ist. Gerechtigkeit als universaler Anspruch impliziert ein gemeinsames Interesse. Auch Männer erkennen darüber hinaus zunehmend den Bedarf, ihnen zugeschriebene traditionelle Rollenbilder zu hinterfragen.
Manche der Antworten mögen sehr „theologisch“ erscheinen. Eine seriöse Verankerung in den islamischen Quellen ist aber unumgänglich, wenn erfolgreich gegen verkrustete Haltungen angegangen werden soll. Zu oft wurden Forderungen nach Einstellungsänderungen mit dem Hinweis: „Nicht islamisch argumentiert!“ vom Tisch gewischt. Das betrifft den innermuslimischen Diskurs. Gleichzeitig ist es angesichts aktueller Debatten um die Vereinbarkeit des Islams mit Europa auch wichtig, nicht nur theoretisch zu behaupten, dass Muslime ihre Religion als dynamisch verstehen, sondern dies unter Beweis zu stellen. Das geht nur, wenn auch methodisch Einblick gegeben wird, wie zeitgemäße Auslegungen zugleich den Anspruch der Authentizität erheben können und somit für gläubige Muslime Relevanz gewinnen. Es ist zu hoffen, dass auch Nichtmuslime sich von einer theologischen Argumentation nicht abschrecken lassen, sondern, im Gegenteil, mit Interesse verfolgen, wie das betrieben werden kann. Viele praktische Beispiele sollen dabei helfen, dicht an der Lebensrealität zu bleiben und nicht in reine Theorie abzuschweifen.
Damit es leichter fällt, der Argumentation zu folgen und vielleicht sogar ein Stück vorauszudenken, auf welchem Wege wohl am schlüssigsten eine Beweisführung aufzubauen sein wird, hier einige Hinweise:
Koran und Sunna (Vorbild des Propheten) als Hauptquellen der Auslegung
Erste Quelle ist immer der Koran, für die Muslime Wort Gottes und daher erste Referenz. Als zweite Quelle tritt die Sunna hinzu. Damit ist die vorbildliche Lebensweise des Propheten Muhammad gemeint. Schon zu Lebezeiten galt sein konkretes Handeln als Referenz. Jahrzehnte nach seinem Tod wurden einzelne beispielgebende Geschehnisse von verschiedenen Sammlern systematisch aufgezeichnet. Die Sunna ist darum so bedeutend, weil sie praktische Hinweise liefert, wie konkret in dieser oder jener Angelegenheit vorgegangen wurde. Diese Berichte über das, was der Prophet Muhammad gesagt, getan und gebilligt hat, übersetzen also gewissermaßen das, was der Koran allgemein vorzeichnet, in die Glaubenspraxis. Ohne Zweifel wäre ohne die Sunna das rituelle Gebet in seinem Ablauf nicht ausgeprägt, da im Koran eher die allgemeine Bedeutung und einige Rahmenbedingungen geschildert werden. Der Hadith, der Bericht zur Sunna des Propheten, unterstützt also das Verständnis des Korans, vor allem, wenn es um die religiöse Praxis geht.
Historischer Hintergrund
Für die Koranexegese gibt es mit der Praxis des asbab an-nuzul seit Jahrhunderten eine Methode, die Begleitumstände der jeweiligen Offenbarung oder deren Anlass genau zu analysieren und so Aufschlüsse für das Verständnis zu gewinnen. Die Sunna dagegen bildet ein noch wenig bearbeitetes Feld der Überprüfung von historischen Begleitumständen. Zwar gibt es mit dem asbab al wurud (Anlass des Hadith) eine dem asbab an-nuzul (Offenbarungsanlass) vergleichbare Methode zur Untersuchung, die sich aber schwächer entwickelt hat. Interessant ist zum Beispiel die Erforschung, wann und in welchem Zusammenhang sich Personen aus dem Umfeld des Propheten an eine vorbildhafte Begebenheit erinnert haben, und nicht nur der Kontext, in dem diese stattfand.
Methodisch hat sich sehr rasch eine für die damalige Zeit sehr ausgereifte Wissenschaft zur Überprüfung entwickelt, ob ein Bericht als authentisch in eine Hadithsammlung aufgenommen werden könne. In deren Zentrum steht vor allem die Kontrolle der Überlieferungskette (isnad). Hadithe, also die vielen einzelnen Überlieferungen der Sunna, wurden klassifiziert in verschiedene Kategorien (stark, schwach etc.), die anzeigen, wie relevant ein Hadith zu nehmen ist, je nachdem, wie viele Überlieferer unabhängig voneinander das Gleiche gesagt haben und wie verlässlich deren Charakter und Persönlichkeit eingestuft werden. Die Konzentration auf die Überliefererkette bei der Einordnung eines Hadith sollte ein möglichst neutrales Kriterium zur Bewertung der Hadithe an die Hand geben. Hier schien man Subjektivität eher ausschließen zu können als bei einer Untersuchung des Inhalts eines Hadith.
Denn es entwickelte sich eine Scheu, den Inhalt eines Hadith in Frage zu stellen. Wenn dieser sorgfältig von Überlieferer zu Überlieferer bis auf den Propheten zurückverfolgt werden kann – wie könnte man sich anmaßen, damit vielleicht an einer Aussage des Propheten zu zweifeln? Diese Skrupel bewogen viele Gelehrte im Fall, dass der Inhalt (matn) „eigenartig“ wirkt, dazu, diese Eigenartigkeit im eigenen mangelnden Verständnis zu suchen. Entsprechend wurde an Interpretationen getüftelt, die den Hadith doch im Rahmen des allgemeinen muslimischen Religionsverständnisses einbetten sollten. Schon früh gab es aber auch Stimmen, die ein Hadith, das sich inhaltlich im Widerspruch zum Koran befindet, dann als Beleg für die Beantwortung einer religiösen Frage ausschließen.
Jonathan Brown zeigt diese zwei Ansätze in der Geschichte islamischer Gelehrtentätigkeit auf und schält dabei besonders heraus, dass es sehr wohl auch eine am matn ansetzende Hadithkritik unter namhaften Gelehrten gab, die sich aber gegenüber der vorsichtigen, einzig am isnad orientierten Richtung nicht wirklich durchsetzen konnte.6 Der ägyptische Gelehrte Muhammad Al Ghazali (gest. 1996) belebte diesen Ansatz, den Inhalt (matn) zu analysieren, in seinem viel diskutierten Buch „al-Sunna al-nabawiya bayn ahl al-fiqh wa ahl al-hadith“ (Die Sunna des Propheten zwischen Leuten des Rechts und Leuten des Hadith). Der arabische Titel verrät besonders gut, dass es dem Autor auch um die Schaffung eines Gegengewichts zu der literalistischen Hadithauslegung der ultraorthodoxen Wahabiten beziehungsweise Salafiten (ahl al hadith) ging. Sie würden den Inhalt eines Hadith nicht in Frage stellen und zudem möglichst buchstabengetreu bei der Auslegung vorgehen. Muhammad Al Ghazali stellt die Frage: „Was ist der Wert eines gesicherten isnad bei einem schwachen Text?“7 Als starken Beleg für die Vorgangsweise, einen Hadith abzulehnen, wenn er sich im Widerspruch mit dem Koran befindet, nennt er die Gattin des Propheten Aisha. Sie regte sich auf, als ihr ein Hadith vorgetragen wurde, demzufolge eine verstorbene Person dafür bestraft würde, wenn die Hinterbliebenen um sie weinen. Sie zitierte den Koranvers: „Keine Seele trägt die Last einer anderen.“8 Der Widerspruch zum Koran ließ sie den Hadith zurückweisen. Al Ghazali merkt kritisch an, dass der Hadith trotzdem noch immer in manchen Sammlungen zu finden sei.
Die Kernaussage eines Hadith ist jedoch herauszuschälen und zu trennen von mitgelieferten Begleitumständen. Der Prophet bewegte sich schließlich in einem historischen Kontext, der von vielen vorislamischen Sitten und Gebräuchen bestimmt war. Die Sunna ist so auch eine ergiebige Quelle für die Erforschung des damaligen Zeithintergrunds. Neben der eigentlichen Aussage des Propheten oder seiner Handlung wird er mitüberliefert. Hier gilt es darauf zu achten, dass nicht Gepflogenheiten, die in einem Hadith vielleicht eher beiläufig als Rahmen der Erzählung überliefert wurden, zum noch heute gültigen Maßstab erhoben werden. Dies kann vor allem dann leicht geschehen, wenn eine schwärmerische Sehnsucht nach einer Wiederbelebung der Zeit besteht, in der der Prophet lebte.
Hadithe wurden gefälscht und es gibt eine schon früh einsetzende eigene