Muslimin sein. Carla Amina Baghajati
Aisha etwa, Mann und Frauen seien Zwillingswesen.19 Diese Kritik setzt am matn, am Inhalt des Hadith, an, der kontradiktorisch zum Koran ist – eine Methode, die, wie bereits aufgezeigt wurde, nicht von allen Muslimen gleichermaßen unbefangen angewendet würde.
So soll auch der Ansatz vom isnad, der Überlieferungskette, her versucht werden. Alle Versionen des „Rippenhadith“ gehen auf den Gleichen Tradenten Abu Hurairah zurück. Andere Personen, die das gleiche berichten, gibt es nicht. Abu Hurairah wurde bereits zu Lebzeiten trotz seiner großen Hingebung zum Propheten auch kritisch gesehen. An seinem Lebenswandel gefiel zum Beispiel nicht, dass er es ausschlug, eine Arbeit anzunehmen. Aisha, eine Gattin des Propheten, auf die viele Hadithe zurückgehen, reagierte sehr ungehalten, wenn er den Propheten in einer Weise zitierte, die offensichtlich nicht stimmen konnte. Oft ging es dabei um Themen, die Frauen betrafen, wobei Abu Hurairah angeblich an mangelndem männlichen Selbstwertgefühl litt und entsprechend zu einer gewissen Frauenfeindlichkeit neigte.20 Der große Gelehrte und Begründer der hanefitischen Auslegungstradition, Abu Hanifah, war darum vorsichtig bei der Heranziehung von Hadithen dieses Tradenten. Es soll auch nicht verschwiegen werden, dass bis in die Moderne ganze Bücher zur Verteidigung beziehungsweise Diskreditierung von Abu Hurairah geschrieben wurden, auch weil sich daran zusätzlich Trennlinien (schiitische contra, sunnitische eher pro) auftun. In diesem Fall wird es nicht leichter, zumindest was die „Fans“ von Abu Hurairah betrifft, den isnad, die Herkunft der Überlieferung, in Zweifel zu ziehen.
So bleibt für die nicht kleine Gruppe jener Muslime, die bei diesem Hadith den isnad nicht in Frage stellen und am matn nicht rühren wollen, nur die Möglichkeit, eine verträgliche Interpretation zu finden, die ihm seinen frauenfeindlichen Stachel zieht. An solchen Bemühungen haben vor allem jene Muslime großes Interesse, für die die klassischen Hadithsammlungen, etwa von Bukhari oder Muslim, einen Textkanon bilden, den sie prinzipiell nicht in Frage stellen würden. Dazu gibt es viele, sehr kreative Versuche. Er wird etwa als Beweis betrachtet, dass der Mann zur Rücksichtnahme gegenüber einer Frau verpflichtet sei und ihre spezielle Natur achten müsse. Ähnlich wie christliche Auslegungen weisen sie auch auf die damit gegebene Verbundenheit von Mann und Frau hin. Manche führen den Gedanken weiter und sagen, dass diese Rippe über dem Herzen liege und so auf die besondere emotionale Natur der Frau hinweise. Oft erfolgt aber gleichzeitig eine Essentialisierung weiblicher Eigenschaften in Richtung „gefühlsbetonte Frau“ gegenüber „verstandesorientierter Mann“. Es ist fragwürdig, wenn Frauen ein unveränderliches Wesen auf diese Weise zugeschrieben wird.
Wer sich an das Prinzip hält, dass koranische Aussagen die oberste Quelle in der Auslegung bilden, wird durch zahlreiche weitere Aussagen im Koran darin bestärkt, dass Frauenfeindlichkeit, ja nur ein patriarchalischer, bevormundender Ton, keinen Platz im Islam haben darf. „Siehe, ich lasse nicht verloren gehen das Werk des Wirkenden unter euch, sei es Mann oder Frau, die Einen von euch sind von den Anderen“21 dokumentiert einmal mehr, wie Mann und Frau nicht ohne einander bestehen können. Ihr Handeln zum Guten wird gleichermaßen gewürdigt und dafür eine Belohnung im Jenseits versprochen. Diese Verheißung kommt im Koran mehrfach vor, so auch hier: „Wer aber Rechtes tut, sei es Mann oder Frau, und er ist gläubig – jene sollen eingehen ins Paradies und sollen nicht um ein Keimgrübchen im Dattelkern Unrecht erleiden.“22 Bemerkenswert ist hier, dass beide Geschlechter dezidiert angesprochen werden, anstatt dass einfach ein Plural verwendet wird, bei dem die Frauen mitgedacht sind. Rechtes zu tun schließt die Bereitschaft und das Vermögen ein, Verantwortung zu übernehmen, und vor allem die Fähigkeit, sich mündig ein eigenes Urteil zu bilden. Männer können also nicht für sich in Anspruch nehmen, Frauen die eigene Entscheidung über ihr Handeln einfach abzunehmen. Dieser Punkt ist darum so wichtig, weil sich in vielen Traditionen Vorstellungen gehalten haben, Männer müssten das letzte Wort haben. Der Koran weist dies zurück: „O ihr Menschen, Wir haben euch von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Der Edelste (Angesehenste) von euch bei Gott, das ist der Gottesfürchtigste (Gerechteste) von euch. Gott weiß Bescheid und hat Kenntnis von allem.“23 Kriterium für das Ansehen bei Gott ist also, wie sich der und die Einzelne im Leben bewährt. Die Vielfalt der Geschlechter wie der Ethnien und religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen ist gottgewollt und soll den Austausch untereinander befruchten. Mann und Frau sollen als Partnerwesen agieren.
Vor Gott sind Mann und Frau absolut gleichwertig. Auf diesem Fundament lässt sich ein Geschlechterverhältnis aufbauen, das von einem Umgang miteinander als ebenbürtige Partner getragen ist. Dieser Anspruch muss immer dann in Erinnerung gerufen werden, wenn das soziale Gefüge ein Ungleichgewicht zu Ungunsten der Frauen aufweist. Vor allem erscheinen Mann und Frau als Partner in ihrem Menschsein. Die Kategorie „Mensch“ verbindet Mann und Frau und legt ihnen gleichzeitig die gleiche Verantwortlichkeit nahe.
2. Gibt es Unterschiede in der religiösen Praxis zwischen Männern und Frauen?
Vor Gott sind Mann und Frau völlig gleichwertig. Demnach tragen sie auch die gleiche religiöse Verantwortung. Besonders deutlich tritt dies in folgendem Vers zutage: „Wahrlich, alle Männer und Frauen, die sich Gott ergeben haben, und alle gläubigen Männer und gläubigen Frauen und alle wahrhaft demütig ergebenen Männer und wahrhaft demütig ergebenen Frauen und alle Männer und Frauen, die ihrem Wort treu sind, und alle Männer und Frauen, die geduldig in Widrigkeit sind, und alle Männer und Frauen, die sich (vor Gott) demütigen, und alle Männer und Frauen, die aus Mildtätigkeit geben, und alle selbstverleugnenden Männer und selbstverleugnenden Frauen, und alle Männer und Frauen, die auf ihre Keuschheit achten, und alle Männer und Frauen, die unaufhörlich Gottes gedenken: Für (alle von) ihnen hat Gott Vergebung der Sünden und eine mächtige Belohnung bereitet.“24
Auffällig ist hier die durchgehende sprachliche Einbeziehung der Frauen, die geradezu an moderne, geschlechtergerecht formulierte Texte erinnert: „inna l-muslimīna wa-l-muslimāti“. Der Beginn wäre auch ohne Übertragung verständlich, werden hier doch die Muslime und Musliminnen direkt angesprochen. Er fungiert wie eine Art Überschrift, danach werden wesentliche Bereiche, die eine muslimische Identität ausmachen, konkret ausgeführt. Muhammad Asad überträgt statt „Muslime und Musliminnen“ mit „alle Männer und Frauen, die sich Gott ergeben haben“ und verwendet somit eine verbreitete Definition der Anhänger des Islams. Damit spielt er auch darauf an, was das Konzept des Muslimisch-Seins ausmacht: die starke Verschränkung von Glauben mit Handeln. Wer den Islam angenommen hat, also ein gottergebenes Leben führen möchte, der wird durch die von Gott im Koran und durch das Vorbild des Propheten Muhammad veranschaulichten gottesdienstlichen Übungen merken, dass das Ziel des Friedens in Gott eng verknüpft ist mit der Anstrengung, in Einklang mit den Mitmenschen und der Umwelt zu leben.
Gottesdienst ist nach muslimischer Vorstellung immer auch Menschendienst. Dieser Aspekt der Orthopraxie zeigt sich in der Verschränkung gottesdienstlicher mit sozialen Aufgaben. Mann und Frau tragen hier die gleiche Verantwortlichkeit in der Gesellschaft. Beiden wird schließlich die gleiche Erfüllung verheißen: Vergebung der Sünden und „eine mächtige Belohnung“, was auf die Vorstellung des Paradieses verweist.
Eine Art Tugendkatalog wird präsentiert, der gleichermaßen Männer und Frauen betrifft. An den Einen, Einzigen und Einzigartigen Gott zu glauben ist untrennbar verknüpft mit sozialen Aspekten. Aus „Mildtätigkeit geben“ wird in anderen Koranübertragungen auch mit „Almosen spendend“25 wiedergegeben. An Bedürftige vom eigenen Vermögen freigiebig abzugeben ist ein zentraler Bestandteil der muslimischen Glaubenspraxis. Unterschieden werden dabei sadaqa, das Almosen, und zakat, die sozial-religiöse Pflichtabgabe. Diese Pflicht bildet die dritte der so genannten fünf Säulen: Einmal im Jahr müssen 2,5 % des stehenden Vermögens an Bedürftige verteilt werden. Im Begriff zakat steckt das Wort „Reinigung“. So soll das persönliche Vermögen von jenem Teil gereinigt werden, der dem Gläubigen islamisch betrachtet gar nicht gehört, weil im Sinne der Umverteilung Bedürftige darauf Anspruch haben. Soziale Gerechtigkeit soll erreicht werden. Diese Pflicht wird so ernst genommen, dass theologisch betrachtet das Einbehalten dieser 2,5 % Diebstahl bedeutet.
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