EXIT. Michael Herl
und Schulen des Landes das Kruzifix anbringen. Im CSU-freundlichen Bayerischen Rundfunk achtet man auf ein grund-solides christliches Programm, auch wenn es sich um keinen Kirchenfunk, sondern um eine öffentlich-rechtliche Anstalt handelt – die mithin von allen Steuerzahlern, also auch von Konfessionslosen und Ungläubigen, finanziert wird. Staatliches Neutralitätsgebot? Mitnichten.
Beispiel »stille Feiertage«: An »Allerheiligen«, einem katholischen Feiertag, herrscht in Bayern Tanzverbot. Nach Artikel 3 des »Bayerischen Feiertagsgesetzes« sind dem Ernst des jeweiligen stillen Tages entsprechend öffentliche Tanzveranstaltungen verboten. Dazu zählen: der Volkstrauertag, der Buß- und Bettag, der Totensonntag, der Heiligabend, der Aschermittwoch, der Gründonnerstag sowie der Karfreitag und Karsamstag. Besonders restriktiv sind die Einschränkungen am Karfreitag, an dem die bayerischen Behörden keinerlei Ausnahmen zulassen: »In den meisten Musiksparten gibt es eine Auswahl stiller, ruhiger Titel, die zum Charakter des stillen Tages passen können«, lässt etwa die Stadt München auf ihrer Internetseite verlauten. Die Programm-Macher – nicht nur im Bayerischen Rundfunk – halten sich im vorauseilenden Gehorsam daran. Auch alle anderen ARD-Sender zügeln Sound und Rhythmus. Die Vorgabe: »Jazz ja, Hardrock nein!« Selbst Spielhallen müssen im christlichen Bayern an Karfreitagen geschlossen bleiben, wie im Übrigen generell während der Hauptgottesdienst-Zeit an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen von sieben bis elf Uhr.
Keine Real-Satire, sondern Realität in einem demokratischen Bundesland, das sich dem Neutralitätsgebot verpflichtet hat. Erst 2016 hat das Bundesverfassungsgericht das bayerische Feiertagsgesetz als »grundsätzlich verfassungskonform« bestätigt. Willkommen im Gottesstaat Deutschland.
Auch über Bayern hinaus wird das staatliche Neutralitätsgebot massiv und beständig missachtet. Ob Subventionen für Kirchentage, Finanzierung theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten, Kirchenredaktionen in Landes-Rundfunkanstalten bis hin zum wöchentlichen »Wort zum Sonntag« – einem der ältesten Fernseh-Formate des Deutschen Fernsehens. Jeden Samstagabend, meist nach den »Tagesthemen« und vor dem Spätfilm, gibt es für die christlich-abendländische TV-Nation vier Minuten geistige Durchlüftung. Immer im Wechsel, darf ein evangelischer Pfarrer mal über die Wohltaten Luthers referieren, mal ein katholischer Kollege die Jungfrau Maria loben. Rabbiner, Imame, Buddhisten und Atheisten haben kein Rederecht. Der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Nikolaus Schneider, sieht die Sendung als einen »niedrigschwelligen Berührungspunkt mit dem Evangelium«. Sie gleicht eher einem vierminutigen religiösen Frontalunterricht.
Das alles ist in unseren Rundfunkgesetzen geregelt. Diese verpflichten die Sender dazu, Gottesdienste, Morgenandachten und allerlei andere Kirchen-Botschaften auszustrahlen. Die Öffentlich-Rechtlichen produzieren und finanzieren diese Sendungen selbst – will heißen: mit Geldern aus GEZ-Gebühren, die alle bezahlen, auch Konfessionslose und Ungläubige.
Noch einmal: Deutschland ist ein säkularer Verfassungsstaat. Ob eine religiöse Gemeinschaft oder ein Einzelner dennoch Sonderrechte beanspruchen können, darüber herrscht mitunter Unstimmigkeit. Ist eine rituelle Genitalbeschneidung bei Jungen ein akzeptables religiöses Ritual oder eine schmerzhafte Körperverletzung?
So hatte das Landgericht Köln im Mai 2012 über einen operativen Notfall zu urteilen, bei dem es nach einer Beschneidung in Folge von Nachblutungen zu Komplikationen gekommen war. Nüchtern stellte der Richter fest: »Die operative Entfernung der Penisvorhaut des minderjährigen Patienten hatte ohne medizinische Notwendigkeit stattgefunden.« Und weil die Amputation eines gesunden Körperteils zwingend der Aufklärung und schriftlichen Einwilligung des Patienten bedarf, der in diesem Fall nicht einwilligungsfähig war, warf die Staatsanwaltschaft dem »Beschneider« vor, »eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt zu haben«. Oder deutlicher: Das Gericht bezeichnete die rituelle Beschneidung als Körperverletzung.
Ein Sturm der Entrüstung brach los – im Epizentrum die brisante Frage: Was wird in Deutschland höher bewertet – das Recht männlicher Kinder, die religiöse Eltern haben, auf körperliche Unversehrtheit oder das Recht religiöser Eltern, ihre Rituale auf ihre Söhne zu übertragen, auch wenn dies einen schmerzhaften Eingriff zur Folge hat. Kindeswohl contra Religionsfreiheit? Diese sahen die religiösen Eltern mit dem Kölner Urteilspruch in Gefahr und sie bekamen lautstarke Unterstützung von Seiten ihrer offiziellen Religions-Funktionäre – unisono, ob vom Zentralrat der Juden, moslemischen Gemeinden, Deutschen Bischöfen. Sie alle werteten das Urteil als eklatanten Angriff auf die Ausübung ihres Glaubens.
Jüdische Glaubensfunktionäre behaupteten, die ganze Welt akzeptiere die Beschneidungspraxis – nur die Deutschen nicht. Wer sich für das Kindeswohl einsetzte, galt schnell als Antisemit. Auch wenn es hier nicht um ein generelles Verbot der Beschneidung, sondern um ein Verbot der Zwangsbeschneidung von Minderjährigen ging – in den Gottes-Communities rumorte es kräftig.
Der Deutsche Bundestag verabschiedete im Rekordtempo auf Initiative der Bundesregierung (und mit Mehrheit) ein »Gesetz über den Umgang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes« und legalisierte damit rituelle Beschneidungen. Und so sind hierzulande nur Mädchen vor rituellen Genitalbeschneidungen geschützt, Jungen indes darf aus religiösen Gründen weiterhin straffrei die Vorhaut amputiert werden, auch wenn die Ausführenden keine Ärzte sind, sondern von Religionsgemeinschaften dazu intern ausgebildet wurden. Zwar heißt es in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die 1992 auch in Deutschland in Kraft trat, im Artikel 19: »Die Staaten treffen alle Maßnahmen, um Kinder vor jeglicher Form von Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung zu schützen« – die schmerzhaften Beschneidungen scheinen hier ausgenommen zu sein.
Tatsache ist: Was Religion ist und wie sie praktiziert wird, liegt nach Auffassung des Bundestags (und auch des Bundesverfassungsgerichts) stellenweise noch immer in der Definitionshoheit der Religionsgemeinschaften selbst. Man kann dieses expansive Verständnis von Religionsfreiheit – das einerseits die Standards unseres liberalen Verfassungssystems in Anspruch nimmt, andererseits auf Sonderrechte pocht – als Ausdruck einer konstanten Missachtung des staatlichen Neutralitätsbegriffs sehen.
Die Frage drängt sich auf: Wie säkular soll, ja muss die Justiz selbst sein? Wie viele religiöse Symbole verträgt die dritte Gewalt in einer multireligiösen Gesellschaft? Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit dem Urteil zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen 2003 angemahnt, die »Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität« strenger zu handhaben, um Konflikte zwischen den Religionen zu vermeiden.
Für Richterinnen oder Staatsanwältinnen ist die Rechtslage hier eindeutig: Landesgesetze, wie das Berliner »Weltanschauungssymbolgesetz«, schreiben vor, keine »sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole zu tragen«. In Hessen ist Musliminnen während der Referendarzeit das Tragen von Kopftüchern innerhalb von Dienstgebäuden untersagt, bei Schöffinnen mit Kopftuch zeigt sich die Justiz mal tolerant, mal ablehnend. Die Justiz reagiert eher hilf- und orientierungslos. Zwei Wege sind möglich: »Einübung in die Toleranz«, etwa das Aufeinandertreffen eines jüdischen Angeklagten mit Kipa, der vor einer muslimischen Schöffin mit Kopftuch im Gerichtssaal steht – unter einem christlichen Kreuz. Oder aber, wie im laizistischen Frankreich, das Verbot jeglicher religiöser Symbolik im Gerichtssaal – selbstredend auch Verzicht auf das obligate Kruzifix an der Wand.
Oder: Wie säkular soll, ja muss der Alltag in unseren Schulen sein? Religionsunterricht gibt es flächendeckend in staatlichen Schulen, zunehmend auch für moslemische Schüler, unterrichtet von eignes dazu ausgebildeten moslemischen Religionspädagogen. In den Kultusministerien sieht man darin ein zeitgemäßes Spiegelbild unserer multi-religiösen Gesellschaft. Der Psychologe Ahmad Mansour, Mitbegründer der »Initiative Säkularer Islam«, lehnt das ab. Er fordert: Kein Religionsunterricht, sondern Religionskunde. Dort könnten Kinder und Jugendliche erfahren, was es mit den Religionen auf sich hat, woher sie kommen, wie sie entstanden sind, wie sie unsere Gesellschaft, unseren Alltag geprägt haben und noch immer prägen. In einem Rundfunk-interview kritisierte Mansour, es sei nicht mehr zeitgemäß, an einem bekenntnisorientierten Religionsunterricht festzuhalten, getrennt nach religiöser Zugehörigkeit. »Ich halte es für hochproblematisch, dass wir Kindern schon mit acht