EXIT. Michael Herl
Jacques de Saint Victor, Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Vincennes-Saint-Denis, vor einer wiederkehrenden Kriminalisierung der Blasphemie aufgrund dieser Verwechslung von persönlichem Glauben und religiöser Doktrin (»einer geistigen Konfusion«). Außer dem Schutz der Gläubigen dürfe der Staat nichts unternehmen. Die Beleidigung und Kritik jedweder religiösen Doktrin dürfe als der Preis betrachtet werden, der für den Vorzug der Freiheit zu zahlen ist.
Das müssen auch Allahs Religions-Funktionäre und allerlei beseelte Imame akzeptieren, die unter uns – und manchmal auch mit uns – leben. Mohammed, ihr Prophet, steht hierzulande nicht unter Denkmalschutz. Im siebten Jahrhundert geboren, hat er die Zeiten überdauert und ist vielen Muslimen bis heute ein moralisches, religiöses und mitunter auch politisches Vorbild. Ein Abgesandter Gottes.
Seine Worte geben Millionen Muslimen Orientierung, spenden ihnen Trost und Heil. Die überlieferten Beteuerungen und Verheißungen des Propheten haben Einfluss auf die politische Situation in mehreren islamischen Staaten und auf deren Gesetzgebung, sie bestimmen noch immer die Beziehung zwischen Männern und Frauen, auch zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen – also zwischen »Gläubigen« und »Un-Gläubigen«. Viele Moslems sind noch immer der Meinung, die Beleidigung des Propheten müsse bestraft werden. Allenfalls hinsichtlich der Härte der Strafe sind sie uneins. Satire missverstehen sie als Angriff auf ihre religiöse Identität.
Ob moslemische Gottes-Fanatiker, christliche Fundamentalisten, ob Hardliner des Vatikans oder alt-testamentarische Rabbiner – sie alle müssen zur Kenntnis nehmen: Wir leben in einem säkularen Verfassungs-Staat, alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben, der Staat aber ist in einer modernen Grundrechtsdemokratie gottlos. Jeder hat das Recht, sich über »Monty Python«-Filme zu erregen, Mohammed-Karikaturisten zu verurteilen oder den von mir so geschätzten Mr. Bean in die Hölle zu wünschen. Jeder hat das Recht, sich beleidigt zu fühlen. Doch das sollte er aushalten. Den Rest klärt in einem Rechtstaat die Justiz.
Um Religion geht es in diesem Buch. Zu mächtig, zu selbstherrlich und zu arrogant tritt sie allerorten auf. Zwar gehen ihrem Bodenpersonal die Rechtfertigungen aus, zwar verliert die Institution Kirche massiv an Glaubwürdigkeit und Deutungsmacht – und doch ist es ungebrochen vorhanden: das Verlangen nach einem Gott.
Woher aber kommt die Sehnsucht nach einem Gott, einer Religion, die stets etwas huldigt, das oberhalb und jenseits des irdischen Daseins steht? Woher der Glaube an eine heilige Jungfrau Maria, der »Unbefleckten«, woher der blinde Gehorsam gegenüber einem Gott, der den Menschen so sehr misstraut, dass er ihnen die Vernunft verbietet? Warum wird überall auf der Welt so andauernd und inbrünstig zu einem Gott gebetet, in dessen Namen gemordet und gemetzelt wird, einem Gott, der die Sünde erfindet, damit er die Vergebung versprechen kann, einem Gott, der niemanden neben sich duldet und schon gar nicht den Menschen? Ist es diese »Phantasma-Orgie aus Angst, Schuld und Himmelsglocken« (Andreas Altmann), seit Jahrtausenden verkündet in Kirchen, Moscheen und Synagogen? Ist es dieses immerwährende Glücksversprechen, flankiert von einer monströsen Angstmaschine, die den Menschen zum Gläubigen machen? Wohl beides.
Dass »es Religionen vor allem darum geht, die weltliche Ordnung zu zementieren«, darauf verweist Yuval Noah Harari. Religion sei eine angstbesetzte Übereinkunft. Wohlverhalten, Demut und Gottesfürchtigkeit: Nur wer Gott gehorcht (und seinen irdischen Verkündern und Verwaltern), der findet Aufnahme im Paradies, im Himmel oder in einem bislang unbekannten göttlichen Disneyland. »Gott existiert« – das ist Drohung, Rechtfertigung und Versprechen zugleich. Er befiehlt den Gläubigen, wie sie zu leben und sich zu verhalten haben. Wer sich ihm nicht unterwirft, wer sich weigert oder zweifelt, dem droht Ungemach und Verdammnis – die Hölle.
Monotheistische Religionen behaupten, nur der Mensch verfüge über eine unsterbliche Seele. Wer gibt da dem Himmel nicht den Vorrang? Sanftes »Seelenheil forever«, – eine grandiose Versprechung. Das alles ist kein Märchen aus der Kita, sondern ein äußerst wirkmächtiger Mythos, der auch Anfang des 21. Jahrhunderts noch das Leben von Milliarden von Menschen bestimmt. Die Überzeugung, Menschen hätten eine unsterbliche Seele, bildet noch immer den Überbau unseres rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Lebens. »Sie reden über die Glückseligkeit im Jenseits, wollen aber die Macht im Diesseits«, sagt Christopher Hitchens.
Die wichtigsten Stützen für den Machterhalt sind nicht evolutionäre Fakten, auch nicht moralische Prinzipien (die am wenigsten), sondern Tatsachenbehauptungen, wie: »Gott existiert« oder »Der Papst ist unfehlbar« oder auch »Allah ist der Allmächtige«. Nicht wissen soll der Mensch (der Sünder), sondern glauben. Dieses Modell – man darf es Geschäftsmodell nennen – hat sich seit Jahrtausenden in allen Religionen bewährt. Die Macht der Kirche nährt sich seit Jahrtausenden vom schlechten Gewissen der Gläubigen.
Augenfällig ist: Für alles Schöne und Gute im Basar der Glückseligkeit reklamiert der Liebe Gott gerne die Urheber- und Patenschaft. Für Unglück, Katastrophen und Scheußlichkeiten jeder Art ist der sündhafte Mensch verantwortlich. Erdbeben, Überschwemmungen und Tsunamis gehen auf das Konto teuflischer Kräfte. Ein moderates Erklärungsmodell. Gott ist immer der Gewinner.
Immerhin: Der Einfluss schwindet. Wo die Religion einst durch völlige Kontrolle der Weltsicht in der Lage war, das Aufkommen der Rivalen, der Abtrünnigen und Zweifler zu verhindern oder zu bekämpfen – hat sie ihr Angst-Instrumentarium verloren. Ob Menschen, gerade geboren, durch das Entfernen der Vorhaut traktiert werden, andere sich auf den beschwerlichen Weg nach Lourdes machen, wieder andere in die richtige Himmelsrichtung beten oder eine Hostie zu sich nehmen, um »errettet« zu werden – es darf und sollte nur für den Einzelnen bedeutungsvoll sein. Für den Lauf der Zeit ist es völlig irrelevant. Der Glaube kann Gläubige im Sinne des Wortes glückselig machen. Er kann für Menschen etwas Wunderbares sein: als Privatsache.
Welche Rolle also soll die Religion heute spielen? So wenig wie möglich – wenn es nach den Autorinnen und Autoren dieses Bandes geht. So vielfältig die Themen, so unterschiedlich die Tonalität der Texte – es gibt eine große Übereinkunft: Wir brauchen weniger Religion in dieser Welt. Nach wie vor lehrt sie vor allem das Fürchten, steht für Gewalt, Intoleranz und Unterdrückung. Ungläubige und Gottlose werden in vielen Ländern noch immer verfolgt, bestraft, getötet. Der Irrsinn himmlischer Bodentruppen ist grenzenlos. Noch immer ist ihr Einfluss auf Politik und Gesellschaft stark und unheilvoll. Ob als autoritäre Staatsdoktrin oder gesellschaftliches Sinnstiftungsangebot – es braucht keine Religion für ein friedvolles Zusammenleben und einen furchtlosen Ausblick in die Zukunft. Die Welt dreht sich weiter – ohne Gott. Die Autorinnen und Autoren sind sich einig: Der Bürger kommt vor dem Gläubigen!
»Die Religion vergiftet alles«, konstatiert Christopher Hitchens. Die Texte auf den folgenden Seiten verstehen sich als Entgiftungs-Lektüre.
MICHAEL SCHMIDT-SALOMON
Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich
70 Jahre Grundgesetz – 100 Jahre Verfassungsbruch Warum wir die Kirchenrepublik überwinden müssen
Eineinhalb Jahrtausende waren Thron und Altar miteinander vermählt, seit 100 Jahren leben Staat und Kirche in Deutschland voneinander getrennt. Zumindest ist dies die offizielle Version. In Wahrheit jedoch wurden die Scheidungspapiere der beiden »Elitepartner« niemals unterzeichnet. Denn die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker haben es seit 1919 nicht gewagt, einen Schlussstrich unter die gescheiterte Beziehung von Staat und Religion zu ziehen und reinen Tisch zu machen. Dies ist der Grund dafür, dass der deutsche Staat noch immer Milliardenbeträge an die Kirchen zahlt, dass der Schwangerschaftsabbruch noch immer als »Unrecht« gilt und dass schwerstkranken Patienten die Chance verwehrt wird, selbstbestimmt zu sterben.
Fakt ist: Die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger werden noch immer in beträchtlichem Maß durch religiöse Normen beschnitten – und zwar von der Wiege bis zur Bahre, ja sogar darüber hinaus, nämlich vom Embryonenschutz bis zum Friedhofszwang. Dies wiederum geht zwingend mit einem Verstoß gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates einher – wodurch die beiden Jubiläen, die der demokratische Verfassungsstaat 2019 feiern kann,