EXIT. Michael Herl
Persönlichkeit« zum Inhalt hat)
– das Prinzip der Egalität, das mit dem Wort »gleich« angedeutet wird. Es verbietet jegliche Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung. (Im Grundgesetz wird dies in Artikel 3, der »Gleichheit vor dem Gesetz«, abgehandelt.)
– das Prinzip der Individualität, welches mit dem Begriff der »Würde« einhergeht. Denn die unantastbare Menschenwürde, deren Achtung und Schutz nach Artikel 1 des Grundgesetzes »Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« ist, kann nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg definiert werden. Vielmehr gilt: Die Würde des Einzelnen ist dadurch bestimmt, dass der Einzelne über seine Würde bestimmt – nicht der Staat oder eine wie auch immer geartete Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft.
Aufgrund dieser Verfassungsvorgaben darf der Gesetzgeber nur dann in die bürgerlichen Freiheiten eingreifen, wenn er hierfür eine rationale, evidenzbasierte und weltanschaulich neutrale Begründung vorlegen kann. Was heißt das? Nun, der Staat muss bei jeder Rechtsnorm nachweisen können, a) dass diese widerspruchsfrei aus der Verfassung abgeleitet wurde (würde der Gesetzgeber aus der »Gleichheit vor dem Gesetz« die Ungleichbehandlung von Mann und Frau folgern, wäre dies nicht »rational«), b) dass ein unterstellter Sachverhalt auch empirisch feststellbar ist (wenn keine Belege dafür vorliegen, dass eine angeblich justiziable Handlung reale Interessen verletzt, ist das Eingreifen des Staates nicht »evidenzbasiert«) und c) dass die Rechtsnorm nicht auf spezifischen weltanschaulichen Überzeugungen beruht (wenn ein Gesetz nur vor dem Hintergrund der »katholischen Sittenlehre« verständlich erscheint, ist es nicht »weltanschaulich neutral«). Gelingt dem Gesetzgeber ein solcher dreifacher Nachweis nicht, so darf er die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger in keiner Weise einschränken.
So weit, so klar. Leider aber wird diese Verfassungsvorgabe häufig ignoriert. Tatsächlich wird der Rechtsgrundsatz »In dubio pro libertate« (»Im Zweifel für die Freiheit«) in Deutschland oft in ein »In dubio pro ecclesia« (»Im Zweifel für die Kirche«) umgemünzt. Aus diesem Grund sind vor dem deutschen Gesetz auch längst nicht alle Menschen gleich. Denn das Gesetz ist in vielen Fällen parteiisch zugunsten der Vertreterinnen und Vertreter überholter christlicher Sittlichkeitsvorstellungen – zwar nicht mehr so offenkundig wie noch in den 1950er Jahren, als das Bundesverfassungsgericht (!) die staatliche Verfolgung der Schwulen mit dem »christlichen Sittengesetz« begründete, aber dennoch in einem Ausmaß, das atemberaubend ist. Eine Folge dieser weltanschaulichen Schieflage des Staates ist, dass Richter mitunter gezwungen sind, Menschen zu verurteilen, deren Anliegen sie eigentlich teilen, und denen Recht zu geben, die nach rationalen Kriterien objektiv im Unrecht sind.
Freiheitsbeschränkungen von der Wiege bis zur Bahre
Letzteres wurde mir wieder einmal bewusst, als ich im Herbst 2018 den Prozess gegen die Ärztin Kristina Hänel im Landgericht Gießen verfolgte. Hänel war in erster Instanz verurteilt worden, weil sie auf ihrer Webseite darauf hingewiesen hatte, sie würde Schwangerschaftsabbrüche durchführen, was nach § 219a Strafgesetzbuch (Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft) bis Anfang 2019 strikt verboten war. (Übrigens folgte die Bundesrepublik Deutschland auch hier der Nazigesetzgebung, nämlich dem »Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften« vom 26. Mai 1933). Der Richter machte in der Berufungsverhandlung deutlich, dass er große Sympathien für das Anliegen Kristina Hänels hege und dass der Staat in gravierender Weise in die Grundrechte von ÄrztInnen und ungewollt schwangeren Frauen eingreife. Dies sei aber nach herrschender Rechtsmeinung (Urteile des Bundesverfassungsgerichts in den 1970er und 1990er Jahren) dadurch legitimiert, dass bereits der Embryo »Menschenwürde« besäße und Träger von Grundrechten sei, weshalb das Urteil der ersten Instanz bedauerlicherweise nicht aufgehoben werden könne.
Jetzt, da ich dies schreibe (Ende Januar 2019), hat die Bundesregierung einen »Kompromiss« ausgehandelt, um die Proteste zu entschärfen, welche die Verurteilung Kristina Hänels ausgelöst haben. Danach dürfen Ärztinnen und Ärzte zwar darüber informieren, dass sie Abtreibungen vornehmen, müssen sich dabei aber auf amtliche Informationen beschränken. Ansonsten bleibt alles beim Alten: Der Schwangerschaftsabbruch soll weiterhin als »rechtswidrig« gelten und die betroffenen Frauen müssen sich weiterhin einer Zwangsberatung unterziehen, in dessen Zentrum der »Schutz des ungeborenen Lebens« steht, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Legitimiert werden diese Eingriffe in die Selbstbestimmungsrechte der Frauen weiterhin mit der »herrschenden Meinung«, dass schon der Embryo »Menschenwürde« besäße.
Womit aber lässt sich diese »herrschende Meinung« begründen? Der Verweis auf Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes »Die Würde des Menschen ist unantastbar« gibt dies nicht her. Im Gegenteil! Denn die »unantastbare Würde« des Menschen wird hier mit den »unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten« in Verbindung gebracht. In Artikel 1 der Menschenrechtserklärung steht aber klar und deutlich, dass alle Menschen mit gleicher Würde und gleichen Rechten geboren sind – mit gutem Grund heißt es dort nicht, dass sie mit gleicher Würde und gleichen Rechten gezeugt wurden.
Sucht man nach der eigentlichen Quelle für die merkwürdige deutsche Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch und Embryonenschutz, so landet man nicht bei der UN-Menschenrechtserklärung, sondern bei einem der größten Verächter der Menschenrechtsidee: Papst Pius IX. Dieser als besonders rückständig bekannte Pontifex hatte 1869 das Konzept der »Simultanbeseelung« (Beseelung im Moment der Befruchtung der Eizelle) zur unhinterfragbaren »Glaubens-Wahrheit« gemacht. Zuvor waren Katholiken oft von dem alternativen Konzept der »Sukzessivbeseelung« ausgegangen, welches besagt, dass sich die »Seele« in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten erst entwickelt, was Abbrüche bis zu diesem Zeitpunkt erlaubte.
Theologisch begründet war die Entscheidung des Papstes durch ein besonders obskures Dogma, das er bereits 15 Jahre zuvor erlassen hatte, nämlich das »Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariens«, wonach nicht nur der »Heiland«, sondern schon dessen Mutter »erbsündenrein« empfangen wurde. Offenkundig litt Pius IX. nach der Verkündigung dieses Dogmas im Jahre 1854 sehr unter dem Gedanken, dass die »sündenfrei« empfangene Gottesmutter nach dem Konzept der »Sukzessivbeseelung« in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten »vernunft- und seelenlose Materie« gewesen sein könnte. Also erhob er 1869 zu Ehren der »Heiligen Jungfrau« die »Simultanbeseelung« zur verbindlichen »Glaubens-Wahrheit« – eine Posse, über die man schmunzeln könnte, würde sie nicht noch heute die Gesetze des angeblich »säkularen Staates« bestimmen!
Indem der deutsche Gesetzgeber das katholische Glaubensdogma der »Simultanbeseelung« (wenn auch in leicht abgeschwächter Form) zur allgemein gültigen Norm erhebt (nämlich in den Paragraphen 218 bis 219b Strafgesetzbuch/StGB, die den Schwangerschaftsabbruch regeln), verstößt er in empfindlicher Weise gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität. Er privilegiert Menschen, die mit den Vorgaben der katholischen Amtskirche übereinstimmen (zweifellos nur eine kleine Teilmenge der Kirchenmitglieder) und diskriminiert all jene, die diese Überzeugungen nicht teilen – nicht nur die vielen Menschen, die religiöse Konzepte per se ablehnen, sondern beispielsweise auch gläubige Juden (für die das menschliche Leben erst mit der Geburt beginnt) oder Muslime (für die der Fötus erst ab dem 120. Tag der Schwangerschaft beseelt ist).
Wie müsste demgegenüber eine Gesetzgebung aussehen, die den auch grundlegenden Anforderungen einer rationalen, evidenzbasierten, weltanschaulich neutralen Begründung genügt? Nun, zunächst einmal müsste sie die empirischen Fakten zur Kenntnis nehmen, die für die ethische und juristische Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs relevant sind. Interessant sind dabei unter anderem die folgenden beiden Punkte:
– Erwiesenermaßen geht etwa die Hälfte der befruchteten Eizellen spontan wieder ab, was nur in knapp 20 Prozent der Fälle überhaupt bemerkt wird. Angesichts dieser Häufigkeit des natürlichen Aborts ist es geradezu absurd, dass der Gesetzgeber die Folgen des künstlichen Aborts, also des Schwangerschaftsabbruchs, derart dramatisiert, dass er den betroffenen Frauen eine »zumutbare Opfergrenze« (§ 219 StGB) abverlangt. (Nebenbei bringt diese empirische Tatsache auch die Anhänger der »Simultanbeseelung« in Bedrängnis: Denn warum sollte »Gott« jedem