EXIT. Michael Herl
– Embryonen verfügen nachweislich nicht über personale Eigenschaften (etwa Ich-Bewusstsein), sie sind nicht einmal leidensfähig, haben daher auch keinerlei Interessen, die in einem Konflikt ethisch oder gar juristisch berücksichtigt werden könnten. Erst mit der 20. Schwangerschaftswoche beginnt die Entwicklung der Großhirnrinde, so dass wir es ab einer bestimmten Entwicklungsstufe des Fötus (nicht des Embryos.) mit einem empfindungsfähigen Lebewesen zu tun haben, dessen »Interessen« in einer Güterabwägung beachtet werden können.
Daraus ist zu folgern: Der Gesetzgeber kann zwar mit rationalen, evidenzbasierten, weltanschaulich neutralen Gründen verfügen, dass Spätabtreibungen nur in Ausnahmefällen zulässig sind, um entwickelten Föten Leid zu ersparen. Derartige Gründe liegen aber nicht vor, wenn der Staat bewusstseins- und empfindungsunfähigen Embryonen »ein eigenes Recht auf Leben« einräumt und dieses vermeintliche »Recht« gegen die Selbstbestimmungsrechte der Frauen ausspielt. Deshalb sind die aktuell geltenden Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland eindeutig verfassungswidrig – auch wenn das Bundesverfassungsgericht in den 1970er und 1990er Jahren von katholischen Lobbyisten so stark bedrängt wurde, dass es diesen klaren Verfassungsbruch nicht als solchen erkennen konnte bzw. wollte! Wenn also ungewollt schwangere Frauen weiterhin Zwangsberatungen über sich ergehen lassen müssen, wenn es dabei bleibt, dass der Schwangerschaftsabbruch als »prinzipiell rechtswidrig« eingestuft wird, so handelt es sich dabei um nichts anderes als um religiöse Schikane, die dem demokratischen Verfassungsstaat zwingend untersagt ist!
Was ich hier für die Frage des Schwangerschaftsabbruchs kurz skizziert habe, trifft in ähnlicher Form auf viele andere Bereiche unseres Lebens zu. Tatsächlich bestimmen nicht zuletzt irrationale, kontrafaktische, weltanschaulich parteiische (mit christlichen Glaubensvorstellungen begründete) Vorgaben darüber, was man uns in öffentlichen Bildungsinstitutionen beibringt, welche Rechte wir als Kinder haben, für welche Zwecke unsere Steuergelder ausgegeben werden, was in den öffentlichen Medien gesendet wird, was wir offiziell zu feiern haben, ja sogar, welche Drogen wir konsumieren dürfen und welche nicht. Auf all diese Punkte kann ich im Rahmen dieses Textes nicht eingehen. Springen wir stattdessen von der ersten Phase des Lebens zur letzten Phase.
Auch bei den Regelungen zur Sterbehilfe muss der liberale Rechtsstaat peinlich genau darauf achten, dass seine Gesetze die Pluralität der Würdedefinitionen seiner Bürgerinnen und Bürger berücksichtigen. So muss er es einem strenggläubigen Katholiken ermöglichen, den Überzeugungen von Papst Johannes Paul II. zu folgen, der meinte, man müsse als Sterbender das »Kreuz Christi« auf sich nehmen und das Leiden akzeptieren, da das Leben ein »Geschenk Gottes« sei, über das der Mensch nicht verfügen dürfe. Er muss es aber auch einem Anhänger der Philosophie Friedrich Nietzsches erlauben, »frei zum Tode und frei im Tode« zu sein.
Zwischen der Ächtung des Suizids bei Johannes Paul II. und dem Lob des Freitods bei Nietzsche gibt es ein breites Spektrum an unterschiedlichen weltanschaulich geprägten Wertehaltungen, über die seit Jahrhunderten gestritten wird. An diesem Streit darf sich selbstverständlich jedes Mitglied der Zivilgesellschaft beteiligen, der liberale Rechtsstaat muss sich dabei jedoch zurückhalten. Auf gar keinen Fall darf er sich – wie dies 2015 bei der Verabschiedung des »Sterbehilfeverhinderungsgesetzes« § 217 StGB (Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung) geschehen ist – zum Anwalt einer spezifischen, nämlich christlichen Weltanschauung machen und deren Werte zur allgemeinverbindlichen Norm erheben.
Man mache sich diese Ungeheuerlichkeit bewusst: Obgleich 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger (!) für eine Liberalisierung der Sterbehilfe votierten, beschlossen deren parlamentarische Vertreterinnen und Vertreter die Kriminalisierung, indem sie die ärztliche Freitodhilfe unter Strafe stellten. Die Parlamentarier folgten den Vorgaben der katholischen Amtskirche so weit, dass sie ein Gesetz verabschiedeten, das schwerstkranke Menschen katastrophalen Risiken ausliefert und ihnen die letzte Chance auf Selbstbestimmung nimmt, weil verantwortungsvolle Ärzte von nun an mit empfindlichen Strafen bedroht werden, wenn sie ihren Patienten in deren schwersten Stunden zur Seite stehen. (Falls Sie also irgendwann einmal qualvoll sterben müssen, wissen Sie, wem Sie das zu verdanken haben!)
Viele, die 2015 für das »Sterbehilfeverhinderungsgesetz« stimmten, begründeten dies mit ihrem »Gewissen« als Christen, wobei sie sich auf Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes beriefen, wo es heißt, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als »Vertreter des ganzen Volkes … an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen« sind. Tatsächlich aber zielt die »Gewissensformel« der Verfassung, die 1919 durch den jüdischen Sozialisten Oskar Cohn eingebracht wurde, keineswegs auf das private, womöglich gar religiös aufgeladene Gewissen des Abgeordneten ab, sondern auf das professionelle Gewissen eines Berufspolitikers, der seine Entscheidungen »nach bestem Wissen und Gewissen« treffen sollte.
Es geht hier also nicht um die religiöse »Verantwortung vor Gott«, sondern einzig und allein um die politische Verantwortung gegenüber den Menschen, deren Interessen im Parlament vertreten werden, sowie um die rechtsstaatliche Verantwortung gegenüber den Vorgaben der Verfassung, die bei jeder parlamentarischen Entscheidung zu berücksichtigen sind. Mit anderen Worten: Gerade gewissenhafte Politikerinnen und Politiker sollten sich der Tatsache bewusst sein, dass sie gar nicht das Recht besitzen, ihre privaten Glaubensüberzeugungen zur allgemeinen Rechtsnorm zu erheben, nach der sich Andersdenkende richten müssen. Gerade sie müssten dem Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates folgen – notfalls auch gegen anderslautende (weltanschaulich parteiische) Vorgaben der eigenen Fraktion.
Wie weit die Fangarme der »Kirchenrepublik Deutschland« tatsächlich greifen, zeigt der Umstand, dass man sich ihnen nicht einmal durch den Tod entziehen kann. Denn in Deutschland herrscht Friedhofszwang – auch dies ein Rückgriff auf die Gesetzgebung der Nazis, nämlich auf das von Adolf Hitler und Wilhelm Frick unterzeichnete Gesetz zur Feuerbestattung aus dem Jahr 1934. Daher dürfen Angehörige in Deutschland nicht tun, was in vielen anderen Ländern der Welt erlaubt ist, nämlich den Wunsch der Verstorbenen erfüllen, ihre Asche im eigenen Garten zu verstreuen. Theologischer Hintergrund des Friedhofszwangs ist die Vorstellung von der »leiblichen Auferstehung der Toten«, die bis zum Tag des Jüngsten Gerichts in »geweihter Erde« ruhen sollen. Wir sehen: Wie so viele andere Normen des Staates beruhen auch die Bestattungsgesetze auf einem weltanschaulich parteiischen, vordemokratischen Rechtsverständnis, das dringend der Korrektur bedarf.
Es ist Zeit für einen grundlegenden Wandel!
Nun fragt man sich vielleicht, wie es sein kann, dass so viele Gesetze gegen die Verfassung verstoßen, ohne dass dies einen Aufschrei beispielsweise in den Rechtswissenschaften hervorruft. Ich führe dies auf ein Phänomen zurück, das ich als »blinden Fleck des deutschen Rechtssystems« bezeichne. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Deutschland lange Zeit ein genuin christliches Land war, in dem deutlich mehr als 90 Prozent der Bevölkerung der katholischen oder evangelischen Kirche angehörten (1871: 98,6 Prozent, 1939: 95 Prozent, 1970: 93,6 Prozent). Vor dem homogenen Hintergrund einer christlich geprägten Gesellschaft fiel den meisten Rechtsexperten offenbar gar nicht auf, dass weder die Gesetze des Staates noch ihre juristische Auslegung dem Gebot der weltanschaulichen Neutralität genügten. Dies ist wohl erst jetzt in einer weitgehend säkularisierten, entchristlichten, weltanschaulich pluralen Gesellschaft erkennbar geworden, weshalb sich auch jetzt erst der Druck erhöht, grundlegende Reformen einzuleiten.
Fakt ist, dass in den letzten 50 Jahren ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel stattgefunden hat. Die Kirchen haben einen beträchtlichen Teil ihrer Mitglieder verloren, der Bevölkerungsanteil der »praktizierenden Gläubigen« ist auf magere 12 Prozent zurückgegangen. Inzwischen leben in Deutschland deutlich mehr konfessionsfreie Menschen als Katholiken oder Protestanten. In vielen Großstädten stellen sie bereits heute über 50 Prozent der Bevölkerung, und in absehbarer Zeit wird dies auf ganz Deutschland zutreffen. Politische Mehrheiten wird es daher in Zukunft nicht mehr gegen die Interessen der konfessionsfreien Menschen geben, sondern nur noch im Einklang mit ihren Interessen.
Daher ist nun endgültig der Zeitpunkt gekommen, um die Privilegien der Kirchen abzuschaffen. Sie sollten nicht mehr Rechte besitzen als andere gesellschaftliche