Der Mensch und das liebe Vieh. Martin M. Lintner

Der Mensch und das liebe Vieh - Martin M. Lintner


Скачать книгу
stieg ich zum Kälbchen in die Box, um es zu streicheln und seine Wärme zu spüren. Die zur Mast bestimmten Stierkälbchen verbrachten ihr ganzes kurzes Leben in einer solchen Box. Mittlerweile wurde die Viehhaltung auf dem Heimathof nach den Richtlinien der biologischen Landwirtschaft auf die tierfreundliche und artgerechte Muttertierhaltung umgestellt, wo die Kälber bei der Mutterkuh und in der Herde verbleiben.

      Zum Leben auf einem Bauernhof gehört auch das Schlachten von Tieren. Wenn eine Kuh alt geworden ist und kaum mehr Milch gegeben hat, wurde sie zum Metzger gebracht. Während die übrige Herde auf die Weide gebracht wurde, blieb sie allein im Stall zurück. Um sie zu beruhigen, wurde ihr Futtertrog mit Heu gefüllt. So manches Mal stand ich als Kind nach einem solchen Abtransport am leeren Platz und sinnierte darüber nach, wo die Kuh nun sei und wie es ihr gehe. Miterlebt habe ich auch das Schlachten auf dem Hof, angefangen bei der Tötung von Kaninchen, die wir Kinder aufgezogen und gepflegt haben, von Hühnern oder von Schweinen. Eingeprägt hat sich mir das Bild eines besonders schönen Hahnes mit einem prächtigen schwarz-gelben Gefieder. Es muss früh an einem Morgen gewesen sein, der tote Hahn lag im noch taunassen Gras einige Meter vom Holzklotz entfernt, auf dem er geköpft worden war. Ich ließ die schönen glänzenden Federn traurig durch die Finger gleiten, während die Katze vom Blut schlecken wollte. Ich verscheuchte sie unsanft; mir war, als müsste ich den Hahn beschützen. In sicherer Entfernung blieb die Katze sitzen, wohl abwartend, dass ich weggehen würde und sie zu ihrer „Beute“ zurückkehren könnte. Ihr Blick zeigte wenig Verständnis für meine harsche Reaktion, wo ich sie doch sonst immer verhätschelt hatte. Verstörend wirkte auf mich jedes Mal die Schlachtung der Schweine. Sie wurde von einem Nachbarn, einem Jäger, fachkundig durchgeführt, aber das Quietschen der todgeweihten Tiere war für mich unerträglich und ich versteckte mich oft in einem fensterlosen Zimmer im Bauernhaus, in das kein Laut von außen hineindrang, und wartete dort so lange, bis ich annehmen konnte, dass die Schlachtung vorüber war.

      In der Jugendzeit schließlich verbrachte ich viele Stunden draußen in der Natur, in den Wäldern und auf den Bergen, um Wildtiere zu beobachten. Bis heute gehört die Balz von Auer- und Birkhahn oder die Brunft der Hirsche zu den schönsten und beeindruckendsten Erlebnissen, aber auch das Beobachten von Rehen, Gämsen, Murmeltieren, Bussarden, Adlern und vielen anderen Tieren war und blieb ein Hobby. Wie froh war ich immer, dass niemand in meiner Familie Jäger war, so sehr mich die Jagdtrophäen der Jäger in der Nachbarschaft auch beeindruckten und faszinierten. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich verdanke befreundeten Jägern, dass sie mir Balzplätze von Auer- und Birkwild oder gute Einstände von Rotwild „verraten“ haben – aber ein Tier zu töten, von dessen Schönheit und Anmut ich fasziniert bin, würde ich nicht über mich bringen.

      Die Liebe zu den Tieren und das Interesse an ihnen blieben in mir wach. So wollte ich später Verhaltensforschung studieren, doch mit der Entscheidung zum Theologiestudium nahm mein Leben eine andere Wendung. Während meines Studienbeginns in Innsbruck schätzte ich mich glücklich, mit dem Alpenzoo einen Tiergarten gleichsam „vor der Haustür“ zu haben, der sich dadurch auszeichnet, dass in weitgehend großflächigen Gehegen nur heimische Tierarten aus der Alpenregion gehalten werden. Aufgrund der artgemäßen und tierfreundlichen Haltung sowie der Erfolge in der Nachzucht und bei der Auswilderung von bedrohten und seltenen Tierarten der alpinen Region genießt der Zoo auf internationaler Ebene ein hohes Ansehen. Als Mitglied des Vereins der Freunde des Alpenzoos gehöre ich immer noch zu den regelmäßigen Zoobesuchern. In meiner 1999 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien eingereichten Diplomarbeit zum Thema „Zur wechselseitig kritischen Funktion von Soziobiologie und theologischer Ethik“ habe ich mich mit einigen Fragen der Tier-Mensch-Beziehung auf neue, wissenschaftlich reflektierte Weise auseinandergesetzt. Im Rahmen der Verfassung der Arbeit hatte ich damals die Möglichkeit zu interessanten Diskussionen mit dem Verhaltensforscher Kurt Kotrschal. Eine Vorlesung bei Rupert Riedl in der Konrad-Lorenz-Villa in Altenberg bei Wien über die evolutionäre Erkenntnistheorie bleibt mir als eine der interessantesten Lehrveranstaltungen meiner Studienzeit in Erinnerung. Die damals diskutierten Fragen „über Gott und die Welt“ beschäftigen mich weiterhin. – Des langen Vorworts kurzer Sinn: Mit diesem Tierethikbuch greife ich ein Thema auf, das mich seit jeher begleitet und mir sehr am Herzen liegt.

       Dank

      Es freut mich, dass zwei Kollegen an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen, Christoph J. Amor, Professor für Dogmatik, und Markus Moling, Professor für Philosophie, von diesem Buchprojekt angetan waren und spontan meiner Einladung gefolgt sind, daran mitzuwirken. Uns verbindet nicht nur eine große Naturverbundenheit, die in gemeinsamen Exkursionen und Wildbeobachtungen Ausdruck findet, sondern auch, dass uns philosophische, theologische und ethische Fragestellungen in Bezug auf die Tiere und die Tier-Mensch-Beziehung interessieren. Ich danke den beiden herzlich, dass sie jeweils zwei Beiträge beigesteuert haben, die im Inhaltsverzeichnis sowie im Textkorpus namentlich gekennzeichnet sind, sowie für die konstruktiv kritischen Rückmeldungen zu den einzelnen Abschnitten dieses Buches.

      Schließlich gilt mein Dank dem Tyrolia-Verlag für die Aufnahme dieses Titels ins Verlagsprogramm und Frau Brunhilde Steger für die engagierte Betreuung der vorliegenden Publikation.

       Widmung

      Widmen möchte ich dieses Buch meinem Vater, der aus Überzeugung und mit Herz Bergbauer war. Er ist an den Folgen eines landwirtschaftlichen Unfalls verstorben. Sein Leben und sein Schicksal zeigen, dass das Leben mit und in der Natur schön und erfüllend ist, aber auch rau und hart sein kann. Für eine romantisch-sentimentale Naturbetrachtung bleibt oft wenig Platz. Die Natur ist unser Lebensraum, aber sie ist uns nicht nur freundlich gesinnt. Diese Ambivalenz ist auch der Beziehung zwischen Mensch und Tier eingeschrieben. Darüber und über weitere spannende Fragen nachzusinnen will dieses Buch anregen.

Brixen / Innsbruck, im Frühling 2017 Martin M. Lintner

      EINFÜHRUNG

      1.Zielsetzung und Aufbau dieses Buches

       a) An wen wendet sich das Buch?

      Das vorliegende Tierethikbuch richtet sich an einen möglichst großen Personenkreis. Es will auf wissenschaftlichem Niveau und zugleich auf verständliche Weise in die komplexe und interessante Thematik der Tierethik einführen.

      Tierfreundinnen und Halter1 von Nutz- oder Haustieren finden viele Hintergrundinformationen zu ethischen und philosophischen Fragestellungen sowie einen Einblick in die aktuellen Debatten in Bezug auf die Tier-Mensch-Beziehung. Es werden Fragen vertieft wie: Welchen moralischen Status haben Tiere? Soll man von der „Würde des Tieres“ sprechen bzw. was kann man darunter verstehen? Welche ethische Relevanz haben die Unterschiede zwischen den verschiedensten Tiergattungen und -arten, welche hingegen die Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen Menschen und Tieren? Ist der Mensch nichts anderes als ein Tier oder ist er ganz anders als ein Tier?2 Sind die Tiere die besseren Menschen und Menschen die schlechteren Tiere? Warum geht der Einsatz für und die Liebe zu den Tieren oft einher mit einer gewissen misanthropischen Grundhaltung? Eingegangen wird auch auf die schwierige, für Tierliebhaber oft schmerzliche Frage, wieso Tiere leiden müssen – und zwar auch unabhängig vom Handeln des Menschen –, oder was wir für die Tiere nach ihrem Tod erhoffen dürfen: Macht es Sinn, Tiere zu beerdigen? Und kommen auch Tiere in den Himmel?

      Das Buch möchte aber über die Personengruppe hinaus, die einen direkten Umgang mit Tieren pflegt, eine möglichst breite Leserschaft erreichen, und zwar deshalb, weil die meisten Menschen in unserer Gesellschaft tierische Produkte bzw. Produkte mit tierischen Inhaltsstoffen konsumieren – angefangen von Nahrung, Bekleidung, Haushaltstextilien … bis hin zu Kosmetika, Medikamenten, Klebstoffen, Schaumstoffen usw. Deshalb wirken sich ihr Konsumverhalten sowie ihr Lebensstil auf das Leben von Tieren, auf deren Haltungs- und/oder Schlachtungsbedingungen aus. Das Buch will dafür sensibilisieren, dass jede und jeder als Konsumentin bzw. Konsument eine Mitverantwortung


Скачать книгу