Der Mensch und das liebe Vieh. Martin M. Lintner

Der Mensch und das liebe Vieh - Martin M. Lintner


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als eine negative Empfindung wahrnehmen kann; und es macht einen Unterschied, ob ein Lebewesen zu kognitiven Leistungen fähig ist, die auf Selbstwahrnehmung und Ich-Bewusstsein schließen lassen, oder nicht. So wissen wir heute beispielsweise, dass Fische sehr wohl schmerzempfindlich sind und physiologisch die Voraussetzungen dafür haben, Schmerzen auch subjektiv wahrzunehmen, und dass Tiere wie Primaten, Delfine, Wale usw. die soeben genannten kognitiven Fähigkeiten besitzen. Diese naturwissenschaftlichen und verhaltensbiologischen Erkenntnisse sind von eminent ethischer Relevanz, sie bestimmen nämlich mit, was es bedeutet, sich diesen hochentwickelten und hochsensiblen Tieren gegenüber verantwortlich zu verhalten. Dabei bleibt in besonderer Weise die Tatsache zu berücksichtigen, dass uns gerade die faszinierenden Erkenntnisse der gegenwärtigen Verhaltensbiologie zugleich deutlich machen, wie wenig wir noch über bestimmte Tiere wissen. Unser Umgang mit den Tieren steht deshalb immer unter einem gewissen Vorbehalt eines möglichen Nichtwissens von ethisch relevanten Aspekten. Dieser Vorbehalt mahnt zu Zurückhaltung und Vorsicht.

       c) Tiere als Mitglieder der moralischen Gemeinschaft

      Die Forderung, Tiere als moralische Objekte und damit als Adressaten moralischer Verpflichtung anzuerkennen, bedeutet, sie in die moralische Gemeinschaft einzuschließen. Die Auswirkungen des menschlichen Handelns auf die Tiere sind Teil der menschlichen Verantwortung und damit sittlich rechenschaftspflichtig. Wir Menschen sind verantwortlich für unseren Umgang mit Tieren, allerdings – und hier wird die angesprochene anthropologische Differenz wiederum deutlich – nicht vor den Tieren. Ein Tier kann vom Menschen nicht Rechenschaft einfordern, wie er seine Verantwortung für es wahrgenommen hat. Menschen hingegen sind nicht nur füreinander verantwortlich, sondern können auch voneinander Rechenschaft verlangen: Sie sind für den anderen verantwortlich, aber auch vor ihm. Ein Kind kann beispielsweise seine Eltern zur Rechenschaft ziehen dafür, wie sie ihrer Verantwortung für ihr Kind nachgekommen sind, d. h., dass die Eltern für ihr Kind und auch vor ihm verantwortlich sind.18 Tiere stellen im Unterschied zum Menschen keine moralische Instanz dar, vor der der Mensch zur Verantwortung gezogen werden kann, aber sie sind moralische Objekte, für die er Verantwortung trägt.

      In der vorliegenden Publikation wird an zentraler Stelle der tierethische kategorische Imperativ formuliert: Handle so, dass du die Tiere sowohl im einzelnen Individuum wie in der Gesamtgemeinschaft der Tiere nie bloß als Mittel zur Befriedigung eigener Interessen und Bedürfnisse brauchst, sondern ihnen zugleich auch entsprechend ihren je eigenen artspezifischen und individuellen Bedürfnissen, emotionalen Vermögen und kognitiven Fähigkeiten gerecht wirst.19 Sprachlich knüpft diese Formulierung an den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant an. Im vorliegenden Kontext ist die Anekdote interessant und erwähnenswert, dass Kant über den kategorischen Imperativ nachzudenken begonnen hat, nachdem er eine für ihn zunächst unerklärliche Beobachtung bei Schwalben gemacht hatte. Sein wissenschaftlicher Assistent Ehregott Andreas Ch. Wasianski überliefert, wie Kant bei einem Spaziergang am Boden tote Schwalbenjunge sah, die von den Elternvögeln aus den Nestern geworfen worden sind. Die Erklärung für dieses Verhalten fand er darin, dass die Schwalbeneltern aufgrund von Futtermangel die schwächeren Jungen aus den Nestern drängen, um die anderen ausreichend ernähren zu können. Fasziniert von diesem „verstandesähnlichen Naturtrieb, der die Schwalben lehrt, beim Mangel hinlänglicher Nahrung für alle Jungen einige aufzuopfern, um die übrigen zu erhalten“, begann er, über ein Gesetz nachzusinnen, das den Menschen ebenso sicher leiten kann wie die Instinkte die Tiere.20

      Doch zurück zum tierethischen Ansatz, der in der vorliegenden Publikation entfaltet und begründet wird: Das Wissen, das wir über Tiere haben, macht Sinnwerte einsichtig, die auch in die Wirklichkeit von Tieren eingeschrieben sind und die es zu achten gilt. Es wird entsprechend dem oben eingeführten Ethikverständnis für den Menschen in dem Moment ethisch relevant, in dem er Kenntnisse über die artspezifischen und individuellen Bedürfnisse, die emotionalen Vermögen und kognitiven Fähigkeiten von Tieren erlangt und sobald sein Handeln und Verhalten sich auf Tiere auswirkt, sei es im direkten Umgang mit den Tieren, sei es indirekt durch den Konsum von tierischen Produkten. Verantwortlichkeit bedeutet, dass jemand die unterschiedlichen Aspekte, Umstände, Folgen usw. seines Handelns bedenkt und in seinen Entscheidungen berücksichtigt. Tierethische Forderungen ergeben sich in diesem Sinne zuallererst aus der Moralität menschlichen Handelns, sodass sie weder im Tier als solchem noch in den Interessen bzw. Zwecksetzungen des Menschen zu begründen sind. Auch wenn auf die tierethisch intensiv diskutierten Fragen einzugehen sein wird, ob (manche) Tiere als Personen angesehen werden können, ob bzw. in welchem Sinn sie als Rechtsträger gelten können, ob bzw. in welchem Sinn Tiere eine Würde haben usw., liegt der Akzent des hier zu entfaltenden Ansatzes auf der sittlichen Verantwortung des Menschen, den in der Wirklichkeit von Tieren vorfindbaren Sinnpotentialen gerecht zu werden. Dieser Ansatz knüpft damit weniger an die unterschiedlichen Tierrechtstheorien an, denen zufolge die Pflichten des Menschen gegenüber den Tieren in Rechten oder im moralischen Status von Tieren zu begründen sind,21 sondern an den Anliegen des Tierschutzes, der sich am Tierwohl orientiert22 und – wie schon gesagt – die Pflichten des Menschen gegenüber den Tieren in der Moralfähigkeit des Menschen begründet. Diese Verhältnisbestimmung von Tierethik und Tierschutz durchzieht die vorliegende Publikation wie ein roter Faden. Etwas vereinfacht formuliert: Die Begründungslast, wie der Mensch Tiere behandeln und mit ihnen umgehen soll bzw. dass er dem Tierwohl nicht schaden, sondern es fördern soll, liegt nicht bei den Tieren, sondern beim Menschen und seiner Moralität.

      Mit der Betonung, dass es um die Berücksichtigung von artspezifischen und individuellen Aspekten seitens der Tiere geht, denen der handelnde Mensch gerecht werden soll, wird auch deutlich, dass es „die“ Tierethik nicht gibt. Es gibt nämlich nicht „das“ Tier, sondern es gibt eine enorme Vielfalt von unterschiedlichsten Tierarten, die untereinander sehr divergent sein können, sodass der Unterschied zwischen Menschen und einigen Tierarten geringer ist als zwischen vielen Tierarten. Bei der Frage der Ähnlichkeit geht es nicht nur um die stammesgeschichtliche Verwandtschaft zwischen Menschen und einigen Tierarten, sondern auch um die evolutionsbiologische Entwicklung von vergleichbaren Verhaltensweisen sowie emotionalen und kognitiven Fähigkeiten aufgrund von sozial strukturierten Interaktionen bzw. der Anpassung an strukturierte Sozialsysteme. Ebenso ist das einzelne Tier nicht nur als ein Vertreter seiner Art zu sehen, sondern als Individuum mit einem individuellen Eigenwert und – je nach Stufe der organischen und psychischen Entwicklung einer Art – mit einem eigenen Temperament und Charakter bis hin zur Fähigkeit eines rudimentären Ich- und Identitätsbewusstseins.23

      Tierethik wird schließlich nicht nur als „Bereichsethik“ der angewandten Ethik verstanden. Wie schon angeklungen ist, geht es in ihr auch ganz grundsätzlich um das Selbstverständnis des Menschen sowie um die Grundfragen der Ethik. Wie sich im Lauf des Buches zeigen wird, betrifft sie auch die unterschiedlichsten Bereiche von Ökologie, Ökonomie, Medizin usw. bis hin zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit.24

      4.„Weh dem, der vor dem Leid eines Tieres die Augen verschließt …“

      Insgesamt versteht sich dieses Buch als eindringlicher Appell zu einem humaneren Umgang mit den Tieren und zu einem bewussteren Konsumverhalten und Lebensstil hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Tiere. Die Einleitung abrundend, soll nochmals der Bogen zur theologischen Motivation gespannt werden. Oft wird argumentiert, dass den Tieren und den Fragen der Tierethik in Theologie und Kirche nicht zuletzt deshalb zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde und wird, weil zumal im Neuen Testament den Tieren kein besonderer Stellenwert zukommt. Abgesehen davon, dass diese Annahme so nicht zutreffend ist (wie aufzuzeigen sein wird), gibt es in apokryphen Texten, d. h. in Schriften aus der frühchristlichen Zeit, die nicht in den biblischen Kanon aufgenommen worden sind, Überlieferungen, in denen Jesus als Freund, Heiler und Befreier nicht nur der Menschen, sondern auch der Tiere dargestellt wird. Stellvertretend für viele solche Erzählungen soll eine Perikope koptischen Ursprungs angeführt werden. In ihr kommen einige zentrale tierethische Forderungen und Anliegen zur Sprache, wie: Misshandle kein Tier und füg ihm keine Schmerzen zu! Ein Tier ist keine Sache, und über es zu verfügen


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