Der Mensch und das liebe Vieh. Martin M. Lintner

Der Mensch und das liebe Vieh - Martin M. Lintner


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jene, dass die Tiernutzung radikal abgelehnt wird, sondern dass Tiere so gehalten und gepflegt werden, dass dies sowohl ihren artspezifischen als auch ihren individuellen Bedürfnissen und Vermögen auf der Empfindungs-, emotionalen und kognitiven Ebene gerecht wird.

      Eine neuralgische Frage ist und bleibt die nach der ethischen Vertretbarkeit der Tötung von Tieren. Es werden die Bedingungen herauszuarbeiten sein, unter denen die Schlachtung oder die Bejagung von Tieren ethisch vertretbar sein kann. Vertreten wird allerdings die (zu begründende) These, dass das prinzipielle Tötungsverbot über den Menschen hinaus auf bestimmte Tierarten auszuweiten ist, und zwar ohne die Mensch-Tier-Differenz aufzuheben und ohne von den betroffenen Tieren deshalb zu sagen, dass ihnen dieselbe Würde zukommt wie einem Menschen.

       b) Warum ein weiteres Tierethikbuch?

      Seit einigen Jahren ist der erfreuliche Trend festzustellen, dass immer mehr Menschen für tierethische Fragen sensibel werden und dass es viele diesbezügliche Diskussionen und einschlägige Publikationen gibt. Das vorliegende Buch wird einige dieser Ansätze kritisch diskutieren, erhebt aber nicht den Anspruch, die klassischen wie auch neuere tierethische Positionen systematisch darzustellen.3 Es wird eine Auseinandersetzung stattfinden mit den bio- und tierethischen Konzepten von Albert Schweitzer, Peter Singer, Tom Regan, Martha Nussbaum u. a. Zu Wort kommen werden auch Ethikerinnen und Ethiker wie Richard David Precht, Ursula Wolf, Anne Siegetsleitner, Leonie Bossert u. a. m. Auch in der Theologie wurden die Tiere mittlerweile als wichtiges Thema entdeckt. Eine wichtige Vorreiterrolle spielt der im deutschen Sprachraum wenig rezipierte anglikanische Theologe Andrew Linzey, der sich als Mitglied einer interdisziplinären Gruppe an der Universität Oxford in England gemeinsam mit namhaften Philosophen wie Peter Singer u. a. intensiv mit tierethischen Fragen auseinandergesetzt und schließlich eine eigene Tier-Theologie entwickelt hat.4 Er wurde zum ersten Inhaber eines theologischen Lehrstuhls für Tierethik und gründete 2006 das Oxford Centre for Animal Ethics, dessen Direktor er seither ist. Erwähnenswert ist auch das von Anton Rotzetter und Rainer Hagencord 2009 gegründete Institut für Zoologische Theologie in Münster, das sich eine wissenschaftlich fundierte theologische Würdigung des Tieres sowie die Erarbeitung und Förderung einer schöpfungsgemäßen Spiritualität zum Ziel gesetzt hat. Zudem haben sich theologische Ethikerinnen und Ethiker – wie Heike Baranzke, Michael Rosenberger, Eberhard Schockenhoff, Gerhard Marschütz, Kurt Remele, um nur einige zu nennen – intensiv mit tierethischen Fragen auseinandergesetzt und zum Teil eigene tierethische Ansätze vorgelegt.

      Die vorliegende Publikation reiht sich in diese Stimmenvielfalt ein. Sie versteht sich als Diskussionsbeitrag und möchte zugleich mit der verantwortungsethischen Begründung eines tierethischen kategorischen Imperativs einen originären Beitrag dazu leisten, dass die katholische Kirche und die Theologie das schwerwiegende Defizit überwinden können, das ihnen in Bezug auf die Tierethik anzulasten ist. Gerhard Marschütz ist recht zu geben, wenn er es als „ärgerlich“ bezeichnet, „dass kaum je christliche Einsprüche gegen die zunehmende Brutalisierung des heutigen Umgangs mit Tieren vernehmbar sind“5. Auf der theologisch-ethisch reflektierten und auf der praktischen Ebene hat die Kirche eine Bringschuld zu leisten, denn (auch das wird zu thematisieren sein) den Problemen und Anliegen der Tierethik wird weder die christlich-abendländische noch die diesbezügliche Position des Lehramtes der katholischen Kirche gerecht, wie sie beispielsweise im Katechismus der Katholischen Kirche nachzulesen ist. Es ist sehr zu begrüßen, dass Papst Franziskus in seiner Sozial- und Umweltenzyklika Laudato si’ (2015) diesbezüglich längst fällige neue Akzente gesetzt hat. Es geht dabei nicht zuletzt darum, das reichhaltige biblische Erbe neu zu entdecken und fruchtbar zu machen, angefangen von der Schöpfungstheologie bis hin zur Eschatologie, d. h. der Lehre von den Hoffnungen auf Vollendung nicht nur des Menschen, sondern der gesamten Schöpfung.

      Die spezifischen theologischen Fragestellungen werden im ersten (schöpfungstheologischen) sowie im vierten Teil (Schöpfungsspiritualität und Eschatologie) vertieft, während im zweiten (philosophischen) und dritten (anwendungsorientierten) Teil auf unmittelbare theologische Bezüge verzichtet wird. Der Grund hierfür liegt nicht darin, dass zwischen Theologie auf der einen und Philosophie sowie angewandter Ethik auf der anderen Seite Gräben gezogen werden sollen. Dahinter steht vielmehr die Überzeugung, dass tierethische Forderungen ohne Rekurs auf die Theologie für jeden Diskursteilnehmer nachvollziehbar und von allgemein akzeptierten Annahmen ausgehend begründet und vermittelt werden können, dass umgekehrt aber – wie auch Papst Franziskus eindringlich unterstreicht – die Glaubensüberzeugungen einen Reichtum für eine ganzheitliche Ökologie, eine tiergerechte Ethik und eine volle Entwicklung der Menschheit bieten können. Die Naturwissenschaften, die Philosophie und die Theologie nähern sich von unterschiedlichen Ansätzen aus derselben Realität und können bzw. müssen in einen intensiven und für alle Seiten produktiven Dialog treten.6

      In den folgenden Abschnitten der Einleitung sollen einige Grundannahmen hinsichtlich des Menschen-, Tier- und Weltbildes aufgezeigt werden, die für das Verständnis des Buches hilfreich sind.

      2.Von der Selbsterkenntnis des Menschen durch das Tier

      Im Juni 2016 kam der US-amerikanische Computeranimationsfilm Pets in die Kinos. Er erzählt vom geheimen Leben der Haustiere (so der englische Filmtitel The Secret Life of Pets) in Manhattan in New York. Über acht Millionen Einwohner zählt die Metropole. Durchschnittlich jeder vierte Einwohner – darunter besonders viele Singles – soll einen Hund halten, was die beeindruckende Summe von ca. zwei Millionen Vierbeinern ausmacht. Dazu kommen noch viele andere Haus- und Heimtiere: Katzen, Meerschweinchen, Kaninchen, Ziervögel, Fische … Die Tierliebe besonders von Menschen in Metropolen und Städten wird oft als stille Sehnsucht nach Wildnis und Ursprünglichkeit interpretiert. Manche deuten sie als Degenerationserscheinung des modernen Großstädters, der den Kontakt zur Natur verloren hat und durch die Haltung eines Heimtieres ein Stück Wildnis in seine Stadtwohnung holen möchte, obwohl manche noch nie in ihrem Leben einen Bauernhof besucht und eine Kuh, ein Pferd oder Schwein in echt gesehen oder Rehe, Hirsche usw. in freier Wildbahn beobachtet haben. Es werden auch Tiere gehalten, zu denen – etwa im Unterschied zu einem Hund oder einer Katze – keine wechselseitige emotionale Beziehung aufgebaut werden kann, z. B. Chamäleons, Geckos, Schlangen, Alligatoren, Käfer, Schildkröten usw. Zählt man die Wildtiere dazu, unter ihnen Nagetiere, Sing-, Greif- und Nachtvögel, Füchse, Kojoten, Alligatoren, Robben, ja sogar Bären, die sich bis in die Gärten der Vororte von New York vorwagen, und viele andere mehr, zeigt sich eine interessante Symbiose von Mensch und Tier, eine Durchmischung von Zivilisation und Wildnis, die nicht nur für die US-amerikanische Großstadt typisch ist.

      Doch zurück zum Film über das heimliche Leben der Haustiere. Er ist eigentlich kein Film über Tiere, sondern über Menschen, denn – so der in tierethischen Fragen bewanderte Journalist und Jäger Eckhard Fuhr – „Tiere sind ein Spiegel. Das waren Tiere für Menschen schon immer.“7 Deshalb erzähle der Film „von der Selbsterkenntnis des Menschen durch das Tier“8. Die sprechenden Pets sind vermenschlichte Tiere, die mehr den menschlichen Protagonisten entsprechen als ihren wirklichen Artgenossen und die mehr über das Verhalten und Innenleben des Menschen aussagen als über jenes von Tieren – über die Einsamkeit, das Bedürfnis nach Nähe bis hin zur menschlichen Verantwortungslosigkeit, verkörpert in einem Alligator und einer Schlange, die ausgesetzt worden sind und nun in der Kanalisation ihre neue Heimat gefunden haben. Auch der Tierethiker Herwig Grimm betont: „Wer über Tiere spricht, macht den Menschen zum Thema“9, und zwar deshalb, weil wir immer nur die Position des Menschen einnehmen bzw. von uns selbst als Erkenntnissubjekt ausgehen können. In ein Tier können wir letztlich nie hineinschauen. Trotz der Empathiefähigkeit, uns in die Lage eines Tieres einzufühlen bzw. sein körperliches Verhalten und Anzeichen seines emotionalen Empfindens wahrzunehmen, bleibt es letztlich eine Form von Deutung und Interpretation, was wir glauben, wie es einem Tier geht bzw. wie es das, was es empfindet, subjektiv wahrnimmt.

      Seit jeher leben Tiere und Menschen in einer engen Beziehung und Symbiose – und seit jeher ist unser Umgang mit den Tieren ambivalent und widersprüchlich.


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