Der Mensch und das liebe Vieh. Martin M. Lintner
der zufolge sich Gen 1,28 auf alle Landtiere beziehen würde.38 Diese Argumentation macht u. a. den parallel gestalteten Aufbau des fünften und sechsten Schöpfungstages geltend, im Besonderen des Prokreations- und Mehrungssegens in V 22 und in der ersten Hälfte von V 28. Richtigerweise stellt sich die Frage, warum der Fruchtbarkeitssegen, der den Fischen und Vögeln zugesprochen wird, den Landtieren vorenthalten sein und sich unter jenen Lebewesen, deren Erschaffung am sechsten Tag genannt wird, allein auf die Menschen beschränken sollte. Der Segensspruch in V 22 bezieht sich auf alle am fünften Tag geschaffenen Tiere, deshalb wäre es nur folgerichtig, V 28 ebenso auf alle am sechsten Tag geschaffenen Lebewesen zu beziehen. Folgt man dieser Lesart, kann der Auftrag, sich die „Erde untertan zu machen“, nur als Nutzungsauftrag verstanden werden, und zwar in dem Sinne, dass alle Tiere wie die Menschen ein Anrecht darauf haben, die Erde zu bewohnen und zu bevölkern. Tiere und Menschen teilen sich die Erde als gemeinsamen Lebensraum. Einer anthropozentrischen Auslegung, wonach die Menschen das Recht hätten, ihren Lebensraum zu erweitern, indem sie jenen der Tiere zurückdrängen, oder die Erde als Lebensraum nur für sich sowie für die eigenen Interessen und Zwecke zu benutzen, wäre damit jede Grundlage entzogen. Im Gegenteil: Die Menschen haben bei jeder Form, wie sie die Erde bewohnen und mit ihr umgehen, zu bedenken, dass sie dabei nicht zugleich das Habitat der Tiere zerstören dürfen. Sie haben vielmehr die Verantwortung, auch den Tieren zu ermöglichen, dass sie das Land bewohnen und dem Fortpflanzungsauftrag nachkommen können. Es wurde weiter oben bereits darauf hingewiesen, dass in der sogenannten Aufgabenbestimmung in V 26 nur die Herrschaft über die Fische, die Vögel und die domestizierten Tiere angesprochen wird, nicht jedoch über die Wildtiere. Die Menschen dürften also die wilden Tiere nicht für sich nutzen, sondern hätten vielmehr die Verantwortung, den Lebensraum, den sie mit ihnen teilen, zu schützen bzw. ihnen den von ihnen benötigten Lebensraum – also ihr Habitat – zuzuerkennen. Das käme für die Menschen freilich einer nicht unbedeutenden Einschränkung gleich, sich die Erde anzueignen bzw. sie zu nutzen. Nachdem aber – immer der inklusiven Lesart folgend – auch den Wildtieren kein Verfügungsrecht über die domestizierten Tiere zuerkannt wird, sondern nur über die Fische, die Vögel und die Kriechtiere, könnte man indirekt das Recht der Menschen herauslesen, ihr Hausvieh bzw. die Nutztiere vor den Angriffen der Wildtiere zu schützen – mehr aber auch nicht39.
Allerdings geht diese inklusive Lesart von V 28 – wie soeben bereits angeklungen ist – davon aus, dass die im Herrschaftsauftrag neben den Fischen und Vögeln genannten Tiere nur die Kriechtiere sind, sodass der Auftrag sich auch an die wilden und domestizierten Tiere richtet.40 Beachtet man hingegen, dass sich die hebräische Formulierung „alle Tiere, die sich auf der Erde regen“, nicht nur auf die Kriechtiere bezieht, sondern auf alle tierischen Lebewesen41, stellt sich die begründete Frage, ob V 28 – speziell der Herrschaftsauftrag – sich nicht doch exklusiv an die Menschen richtet. Dafür könnten einige Gründe sprechen wie z. B. der bereits angedeutet dialogische Charakter, dass Gott „zu ihnen“ spricht. Die Auslegung, dass der Auftrag des Menschen sich auch auf alle Landtiere erstreckt, kann nun folgende Bedeutung haben. Zwischen den Tieren im Wasser und in der Luft auf der einen und jenen auf dem Land auf der anderen Seite gibt es in Bezug auf den Menschen einen wesentlichen Unterschied: Die Wasser- und die Lufttiere machen dem Menschen den Lebensraum nicht streitig, die Landtiere hingegen sehr wohl, denn sie können den Menschen unmittelbar bedrohen. Dem Menschen würde als sowohl das Recht zuerkannt, Haustiere zu halten, als auch sich vor den wilden Tieren zu schützen. Der grundlegenden Intention der oben beschriebenen inklusiven Lesart würde diese Auslegung damit inhaltlich nicht widersprechen, insofern der Herrschaftsauftrag an dieser Stelle inkludiert, die Erde als den gemeinsamen Lebensraum aller Tiere anzusehen, und lediglich die Erlaubnis beinhaltet, das von den Menschen bewohnte und bestellte Land sowie das Nutzvieh vor den Wildtieren zu schützen, nicht jedoch das Anrecht, dass die Menschen die Erde als Lebensraum für sich allein beanspruchen. Auch aus der exklusiven Lesart ergibt sich daher, dass „die Herrschaft über die (wilden) Tiere ein Tötungsrecht keineswegs einschließt. Erst dem nachsintflutlichen Menschen wird das Fleisch zur Nahrung geben (Gen 9,3), und erst daraus erfolgt der Schrecken aller Kreatur vor den Menschen (Gen 9,2; vgl. Sir 17,1–4)“42. Allerdings kann daraus kein generelles Tötungsverbot von Tieren vor der Sintflut abgeleitet werden, denn in Gen 3,21 wird ausdrücklich gesagt, dass Gott Adam und Eva mit Röcken aus Fellen bekleidete, und in Gen 4,4 bringt Abel ein Opfer dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett – beides, die Röcke aus Fell wie auch das Tieropfer, bedeutet die Tötung von Tieren.
c) „Macht euch die Erde untertan und herrscht über …“
Doch nun zurück zu den beiden Verben „untertan machen“ und „herrschen“: Was bedeuten sie im Detail? Der Herrschaftsauftrag in V 28 besteht aus zwei Teilen, wobei sich der erste auf die Erde und der zweite auf die Tiere bezieht. In Bezug auf die Erde wird das hebräische Verb kābaš, in Bezug auf die Tiere hingegen rādā verwendet.
Kābaš, welches mit „untertan machen“ übersetzt wird, meint ursprünglich „(be)treten“ bzw. „den Fuß setzen auf“.43 Dies kann eine höchste ambivalente Geste sein. Den Fuß auf etwas setzen kann zur Folge haben, dass etwas zertreten oder getötet wird. Ebenso kann es bedeuten, dass sich jemand das, worauf er seinen Fuß setzt, aneignet oder unterwirft, aber auch, dass er es in Schutz nimmt, weil er es als sein Eigentum deklariert, das zu verteidigen er bereit ist.44 Wenn ein Sieger seinen Fuß auf den Kopf des Besiegten setzt, der vor ihm liegt, dann wäre es ein Leichtes, ihn zu töten, ebenso liegt es aber auch in seiner Macht, das Leben des Besiegten zu schonen und ihn zum Untertan und zum Schutzbefohlenen zu machen. In sozialen Kontexten schwingt beim Verb kābaš immer die Konnotation von asymmetrischen Macht- und Gewaltverhältnissen mit, beispielsweise jemanden in den Dienst nehmen oder ihn versklaven.45 Die aufgezeigte Ambivalenz von kābaš darf nicht geleugnet, die damit verbundenen Gewaltaspekte nicht ausgeblendet werden. Vielmehr spiegelt sich darin eine zweifache Erfahrung wider. Erstens: Der Mensch hat in seiner Freiheit de facto die Möglichkeit, bewusst und willentlich mit seiner Umwelt entweder rücksichtslos und zerstörerisch umzugehen oder aber sie zu gestalten und zu pflegen. Zweitens: Auch die Urbarmachung von unbewohnter Wildnis ist zunächst ein Akt eines mehr oder weniger gewaltsamen Eindringens in ein funktionierendes Biotop, d. h. in einen biologisch intakten Lebensraum für Pflanzen und Tiere. Gerade durch die Entwicklung sowie den Gebrauch von Werkzeugen und Waffen haben sich die Menschen einen entscheidenden Vorteil gesichert, der ihnen ein Eingreifen in die Natur bzw. ein Gestalten der Umwelt ermöglicht, wie sie es allein mit den bloßen Händen nicht könnten, sowie eine Macht und Vorrangstellung gegenüber Tieren, denen sie sonst unterlegen wären. Aus dieser dem Menschen konkret gegebenen Möglichkeit ergibt sich nun aber die Verantwortung, dass er sie gerade nicht zerstörerisch missbraucht, sondern seine Fähigkeiten vielmehr so einsetzt, dass er die Erde nutzt. Er soll das Land entsprechend dem Segensspruch, fruchtbar zu sein und die Erde zu füllen, als Lebensraum besiedeln und gestalten, also seinen Fuß auf die Erde setzen wie der Landwirt, der den Acker bebaut und nicht verwildern lässt, oder der Gärtner, der seine Beete bepflanzt und nicht verwüstet. Dieser Bedeutungsgehalt wird in Gen 2,15 bestärkt, wo es heißt, dass Gott den Menschen in den Garten Eden setzte, damit dieser ihn „bebaue und bewahre“.
Auch das hebräische Verb für „herrschen“ (rādā) meint ursprünglich „treten“, „niedertreten“ und hat deshalb zunächst ambivalente Konnotationen.46 Herrschaft setzt immer Macht- und Gewaltverhältnisse voraus und ermöglicht Missbrauch von Macht. Deshalb ist es wichtig daran zu erinnern, dass dieses Verb bereits in V 26 verwendet wird, wo Gott die Aufgabe benennt, die er den Menschen zugedacht hat. Wie weiter oben bereits ausgeführt worden ist, besteht diese Aufgabe darin, dass die Menschen Gott in der Schöpfung repräsentieren bzw. vergegenwärtigen sollen. Aus dem gesamten Duktus des Schöpfungsberichtes wird deutlich, dass es viel zu kurz greifen würde, würde man den Herrschaftsauftrag lediglich so verstehen, dass der Mensch Tiere zu seinem eigenen Nutzen verwenden dürfe. Die gesamte Schöpfung ist vielmehr Ausdruck der kreativen Kraft und der schöpferischen Freude Gottes, der das Leben bejaht, die Welt durch den zeitlichen Rhythmus von Tag und Nacht sowie durch die Scheidung von Wasser und Land ordnet und somit zum Lebensraum