Der Mensch und das liebe Vieh. Martin M. Lintner
Bei aller Differenz von Menschen- und Tierrechten, auf die weiter unten noch im Detail einzugehen ist56, wird jedem verletzbaren Lebewesen grundsätzlich das Recht zuerkannt, in seiner Vulnerabilität geschützt zu werden, d. h., dass ihm nicht Schmerzen oder Verletzungen zugefügt werden. Das nimmt den Menschen in die Pflicht, der als einziges Lebewesen in Freiheit, bewusst und willentlich einem anderen Lebewesen Schmerz und Leid zufügen oder Lebensräume zerstören kann. Albert Schweitzer (1875–1965) hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass wir uns als Menschen mitten unter Lebewesen vorfinden, die ebenso wie wir einen „Willen zum Leben“ haben. Ausgehend davon sowie von der Tatsache, dass wir als Menschen die Fähigkeit haben, diesen Lebenswillen aller Lebewesen wahrzunehmen und zu reflektieren, entwickelte er seinen Ansatz einer „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“. „Was ist Ehrfurcht vor dem Leben, und wie entsteht sie in uns? Die unmittelbarste Tatsache des Bewusstseins des Menschen lautet: ‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das Leben will.‘ Als Wille zum Leben inmitten von Willen zum Leben erfasst sich der Mensch in jedem Augenblick, in dem er über sich selbst und über die Welt um sich herum nachdenkt.“57 Für Schweitzer ergibt sich daraus die Verpflichtung für den Menschen, Leben zu erhalten und zu fördern.
Wie weiter oben ausgeführt worden ist, spiegelt der Herrschaftsauftrag das Wissen um die ambivalente asymmetrische Beziehung des Menschen gegenüber den Tieren wider, schreibt dem Menschen aber zugleich ins Stammbuch, diese Vormachtstellung nicht zu Ungunsten der Tiere auszunützen bzw. diese nur für eigene Interessen zu verzwecken. Aus der Vulnerabilität ergibt sich das Recht auf Schutz, welches jenen Lebewesen zur Pflicht wird, die um diese Verwundbarkeit wissen.
d) Eine verantwortungsethische Anthropozentrik
Wie bereits gesagt: Freiheit macht verantwortlich. Die Moralfähigkeit ist mit der Freiheit gegeben und erweist sich als „Rüstzeug“ dafür, dass der Mensch der ihm von Gott zugedachten Aufgabe gerecht werden kann. In dieser Hinsicht ist aussagekräftig, dass die Bibel die Moralfähigkeit unmittelbar mit der Gottebenbildlichkeit in Zusammenhang bringt: „Und Gott, der HERR, sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie einer von uns, zu erkennen Gutes und Böses“ (Gen 3,22)58. Die sittliche Verantwortung ist der Gottebenbildlichkeit eingeschrieben. Sie ist mit der Aufgabe verbunden, die Gott für die Menschen entsprechend Gen 1,26 vorgesehen und die er ihnen in Gen 1,28 übertragen hat. Sie kann allerdings nicht dahingehend anthropozentrisch ausgelegt werden, dass sich der Mensch als Mittelpunkt der Schöpfung ansieht und die Natur sowie die Tiere nach Belieben zu seinen eigenen Zwecken nutzen darf. Vielmehr bleibt er selbst eingebunden in die naturalen Abläufe und in die komplexen ökologischen Zusammenhänge und ist mit der Natur und den Tieren zu einer Schicksalsgemeinschaft verbunden. Ebenso ist ihm die Anerkennung des Eigenwertes aller Lebewesen, der sich z. B. in deren natürlichem Streben nach Erhaltung und Entfaltung des Lebens manifestiert, sowie aufgrund des Wissens um deren Vulnerabilität der Schutz der Lebewesen und des Ökosystems aufgetragen. Der verantwortungsethische Zugang, der sich aus der in diesem Kapitel vorgeschlagenen Interpretation des Herrschaftsauftrags in Gen 1,28 ergibt, wahrt die Differenz zwischen den Menschen und den Tieren, insofern sich nur der Mensch in jener Freiheit vorfindet, die ihn zugleich in die Verantwortung ruft bzw. in die Pflicht nimmt gegenüber den anderen Lebewesen.59 „Man kann vom Menschen nicht einen respektvollen Einsatz gegenüber der Welt verlangen, wenn man nicht zugleich seine besonderen Fähigkeiten der Erkenntnis, des Willens, der Freiheit und der Verantwortlichkeit anerkennt und zur Geltung bringt.“60 Zugleich unterstreicht er auch die enge Verbundenheit der Menschen mit den Tieren, weil alle Lebewesen, die die Erde als gemeinsamen Lebensraum bewohnen, eine Lebens- und Schicksalsgemeinschaft bilden. Eine verantwortungsethische Anthropozentrik betont die Verpflichtung der Menschen gegenüber den Tieren, sie in ihrem Eigenwert anzuerkennen und in ihrer Verletzbarkeit zu schützen. Den Tieren werden also von vornherein Rechte zuerkannt, noch bevor diese moralphilosophisch im Tier als „Rechtsträger“ begründet werden. Diese grundlegenden Rechte der Tiere, zu leben und nicht verwundet bzw. in ihrer Lebensentfaltung eingeschränkt zu werden, ergeben sich vielmehr aus jener Verantwortung, in der der Mensch sich vorfindet und über die er reflektiert.
1.4 Ergebnissicherung und Ausblick
Der Herrschaftsauftrag in Gen 1,28 bildet nach wie vor eine neuralgische Stelle im Verständnis der Mensch-Tier-Beziehung. Dieser Vers ist und bleibt ambivalent, weil er nämlich eine bleibend ambivalente Erfahrung des Menschen reflektiert: dass er als einziges Lebewesen konkret die reflektierte Möglichkeit bzw. die Freiheit hat, sich der Umwelt und den Tieren gegenüber entweder bewusst lebensdienlich oder aber zerstörerisch zu verhalten. Zugleich birgt der Schöpfungsbericht – besonders die Perikope der Erschaffung der Tiere und der Menschen sowie der Herrschaftsauftrag – ein intuitives Wissen darum, dass die Menschen diese Möglichkeit nicht despotisch missbrauchen dürfen. Vielmehr erfahren sie sich in die Pflicht genommen, die Welt als Lebensraum für alle Lebewesen zu wahren. Aus dem Eigenwert aller Geschöpfe ergibt sich ein fundamentales Lebensrecht, aus der Verletzbarkeit das Recht, dass ihnen nicht Wunden oder Schmerzen zugefügt werden. Weil die Menschen darum wissen, werden diese Rechte für sie auch zur Pflicht. Darin erkennt der biblische Autor gleichsam einen göttlichen Auftrag, der den Menschen vorgegeben ist und den sie sich nicht selbst gegeben haben. Zugleich ist es eine Erfahrung von Menschen zu jeder Zeit und an jedem Ort, dass sie sich in gestörten Beziehungen vorfinden – sowohl untereinander als auch zu den Tieren und der Umwelt. Dass Adam den Ackerboden im Schweiße des Angesichts bebauen und unter Mühsal von ihm essen muss (vgl. Gen 3,17–19), wird ebenso als Folge der Sünde angesehen wie die Tatsache, dass auf allen Tieren Furcht und Schrecken vor den Menschen liegen (vgl. Gen 9,2). Der Segensspruch, den Gott nach der Sintflut zu Noah und seinen Söhnen spricht, ist in dieser Hinsicht unmissverständlich: Der Fruchtbarkeits- und Prokreationssegen sowie der Auftrag, die Erde zu bevölkern, werden wiederholt, der Herrschaftsauftrag allerdings weicht der nüchternen Warnung, dass die Tiere den Menschen fürchten sollen, denn ihm sind sie ausgeliefert:
„Und Gott segnete Noah und seine Söhne und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch und füllt die Erde! Und Furcht und Schrecken vor euch sei auf allen Tieren der Erde und auf allen Vögeln des Himmels! Mit allem, was sich auf dem Erdboden regt, mit allen Fischen des Meeres sind sie in eure Hände gegeben.“ (Gen 9,1–2)
Dieser Vers klingt nüchtern. Spiegelt sich in ihm die bittere Einsicht wider, dass der Mensch seiner ihm anvertrauten Aufgabe nicht nachgekommen ist? Die Freiheit, dem Leben zu dienen und es zu fördern – und zwar im Namen Gottes – oder es zu zerstören, hat er missbraucht. Deshalb macht sich Gott selbst zum Garanten für das Leben der Menschen und der Tiere. In den Bund, den er mit Noah und seinen Söhnen schließt, sind die Tiere ausdrücklich eingebunden:
„Und ich, siehe, ich richte meinen Bund mit euch auf und mit euren Nachkommen nach euch und mit jedem lebenden Wesen, das bei euch ist, an Vögeln, an Vieh und an allen Tieren der Erde bei euch, von allem, was aus der Arche gegangen ist, von allen Tieren der Erde. Ich richte meinen Bund mit euch auf, dass nie mehr alles Fleisch ausgerottet werden soll durch das Wasser der Flut, und nie mehr soll es eine Flut geben, die Erde zu vernichten.“ (Gen 9,8–11)
Im Noahbund wird über die geschöpfliche Schicksalsgemeinschaft zwischen Tieren und Menschen hinausgehend auch eine heilsgeschichtliche Verbundenheit begründet. Die Tiere sind in den Bund Gottes mit den Menschen und damit auch in die Heilszusage hineingenommen. An dieser Stelle soll noch daran erinnert werden, dass auch der Apostel Paulus davon überzeugt ist, dass den Tieren und der gesamten außermenschlichen Schöpfung Hoffnung auf Heil zugesagt ist:
„Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes. Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen worden – nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat – auf Hoffnung hin, dass auch selbst die Schöpfung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei gemacht werden wird zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt.“ (Röm 8,19–22)
Wer sind diese „Söhne