Der Mensch und das liebe Vieh. Martin M. Lintner

Der Mensch und das liebe Vieh - Martin M. Lintner


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Schriften zu untergraben. In einer der ersten Stellungnahmen zur Evolutionstheorie verteidigte das Lehramt der katholischen Kirche den traditionellen Schöpfungsglauben. Die Päpstliche Bibelkommission bestand noch 1909 auf dem historischen Charakter der drei ersten Kapitel der Genesis. Die katholische Exegese wurde auf die wörtliche Auslegung der biblischen Erzählungen rund um Schöpfung, Paradies und Sündenfall verpflichtet. Die Anfangskapitel des Buches Genesis würden „Erzählungen wirklich geschehener Dinge“ enthalten, die „der objektiven Realität und historischen Wahrheit entsprechen“.89 Zu diesen historischen Tatsachen zählte die Bibelkommission u. a. „die besondere Erschaffung des Menschen; die Bildung der ersten Frau aus dem ersten Menschen; die Einheit des Menschengeschlechtes; die ursprüngliche Glückseligkeit der Stammeltern im Stande der Gerechtigkeit, Unversehrtheit und Unsterblichkeit“ (Denzinger-Hünermann [= DH] 3514). 1948 wurde die Erklärung der Bibelkommission mit einer Auslegungsbestimmung versehen. Diese kann als vorsichtiger Versuch einer Selbstkorrektur interpretiert werden. Die Erklärung von 1909 habe, so verlautbarte der damalige Sekretär der Bibelkommission in einem Brief an Kardinal Suhard, „einer weiteren echt wissenschaftlichen Überprüfung dieser Probleme“ nicht im Wege stehen wollen (DH 3862). 1943 erhielt die moderne Exegese durch die Enzyklika Divino afflante Spiritu von Pius XII. Heimatrecht in der katholischen Kirche (vgl. DH 3825–3831). Vor allem mit der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum (1965) des Zweiten Vatikanischen Konzils (vgl. DH 4201–4235) wurde von katholischer Seite der „Anschluss an die seit dem 19. Jahrhundert ertragreich arbeitende religionswissenschaftliche und historisch-kritische Erforschung der biblischen Texte gefunden und eine wörtliche Auslegung der Erkundung des eigentlichen Aussagesinns des Textes untergeordnet“90.

      Damit war der Weg bereitet für eine Annäherung des kirchlichen Lehramtes an die Evolutionstheorie. Diese erfolgte 1950 unter Pius XII. in der Enzyklika Humani generis (vgl. DH 3875–3899). Der Papst würdigte in seinem Schreiben die Evolutionstheorie als eine wissenschaftliche Hypothese, „die nicht im Gegensatz stehe zu dem, was der Glaube über den Menschen sagt, solange man nicht die unmittelbare Erschaffung der Geistseele durch Gott bestreitet“91. Seit der Veröffentlichung der Enzyklika war es Katholiken nun offiziell gestattet, die Evolutionslehre „gemäß dem heutigen Stand der menschlichen Wissenschaften und der heiligen Theologie in Forschungen und Erörterungen von Gelehrten in beiden Feldern“ zu behandeln (DH 3896). Diese Aussage wurde als prinzipielle Anerkennung der Evolutionstheorie durch die katholische Kirche interpretiert. In der Anwendung auf den Menschen differenzierte das Lehramt jedoch. Der „Ursprung des menschlichen Leibes aus schon existierender und lebender Materie“ (DH 3896) wurde als wissenschaftliche Hypothese akzeptiert. In Bezug auf die Geistseele des Menschen bestand die Enzyklika jedoch auf der traditionellen Lehre: Die Seele werde unmittelbar von Gott erschaffen und dem Menschen eingestiftet (vgl. DH 3896).

      Der allgemeinen Akzeptanz der Evolutionstheorie(n) in der scientific community92 trug schließlich Papst Johannes Paul II. in einigen vielbeachteten Ansprachen Rechnung. In Anbetracht der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse dürfe die Evolutionstheorie nicht länger als eine bloße Hypothese (una mera ipotesi) angesehen werden.93 Recht verstandene Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube widersprechen einander nach Ansicht des Papstes nicht. „Evolution setzt Schöpfung voraus; Schöpfung stellt sich im Licht der Evolution als ein zeitlich erstrecktes Geschehen – als creatio continua – dar“94. Auf dieser Linie formuliert der Katholische Erwachsenenkatechismus: „Gott schafft die Dinge so, dass sie ermächtigt sind, bei ihrer eigenen Entwicklung mitzuwirken.“95 Das Wirken Gottes beschränkt sich dabei nicht auf den Anfang. Gott überlässt die von ihm geschaffene Werde-Welt nicht einfach sich selbst. Seine Vorsehung erstreckt sich auf die gesamte Schöpfung und somit auch auf den Evolutionsprozess. „Einen ungesteuerten Evolutionsprozess – der außerhalb der Grenzen der göttlichen Vorsehung fiele – kann es“, laut der Internationalen Theologenkommission, „einfach nicht geben, denn ‚die Ursächlichkeit Gottes, der der Erstwirkende ist, erstreckt sich auf alles Seiende‘“96. Es zeigt sich somit: An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert hat auch die katholische Kirche den Übergang „von einem mehr statischen Verständnis der Ordnung der Dinge zu einem mehr dynamischen und evolutionären Verständnis“ (Gaudium et spes 5; DH 4305) vollzogen. Die Theologie hat inzwischen erkannt und anerkannt, dass die biblischen Schöpfungstexte weder naturwissenschaftliche Abhandlungen noch historische Protokolle darstellen. Vorrangiges Anliegen der Texte ist somit nicht zu schildern, wie Gott die Welt und alles in ihr erschaffen hat. Im Zentrum steht vielmehr eine Glaubensaussage: Der eine und einzige Gott ist Schöpfer und Herr der ganzen Welt. Weil alles seinen Ursprung in Gott hat, sind die biblischen Autoren von der grundsätzlichen und ursprünglichen Güte bzw. Sinnhaftigkeit des Geschaffenen überzeugt. Wie die Welt entstanden ist und sich die Organismen entwickelt haben, kann hingegen von den Naturwissenschaften beantwortet werden, die ihrerseits jedoch keine Antwort auf die Frage geben können, weshalb es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts.

      2.4 Das evolutionäre Weltbild und das Problem des Übels

      Die Übernahme des Entwicklungsgedankens stellt Kirche und Theologie vor große intellektuelle Herausforderungen. Die Probleme betreffen vor allem den Bereich des Handelns bzw. Wirkens Gottes in der Welt.97 Um nur einige zu nennen: Welchen Einfluss übt Gott auf die Entwicklung des Lebens aus? Steuert er den Evolutionsprozess? Und falls ja, auf welches Ziel lenkt er die Evolution hin? Welche Rolle spielt dabei der Zufall? Und wie lässt sich eine theologische Sicht des Evolutionsgeschehens mit der naturwissenschaftlichen Perspektive vermitteln?

      Im Folgenden wird aus diesem Problemkreis nur eine Fragestellung näher behandelt, die vielen Gläubigen existentiell unter den Nägeln brennt, nämlich das sogenannte Theodizee-Problem.98 Als Frage formuliert, lautet die Problemstellung: Warum gibt es in der Welt, die Christen als Gottes Schöpfung bekennen, so viele Übel? Weshalb lässt Gott zu, dass seine Geschöpfe Schmerzen empfinden und leiden? Im Rahmen eines evolutionären Weltbildes verschärft sich die Problematik: einerseits, weil der Evolutions-prozess selbst Übel verursacht. So erhöht etwa das unerbittliche Gesetz von Fressen und Gefressenwerden den „Leidensdruck“ im Tierreich. Dies wirft die Frage auf, weshalb Gott die Arten nicht anhand einer weniger leidvollen Methode erschaffen hat, „weniger leidvoll im Vergleich zu einer durch Ausrottung mangelhaft angepasster Lebewesen voranschreitenden Evolution“99. Andererseits stellt sich im Blick auf Dauer und Verlauf der Evolution die Frage, weshalb Gott die Organismen nicht unmittelbar erschaffen hat. Warum all die Umwege und Sackgassen, wozu das millionenfache Sterben und Verenden von Individuen und ganzen Arten in der Naturgeschichte? „Wenn Gott die Macht hätte, jede Spezies, einschließlich der menschlichen, ex nihilo zu erschaffen, fragt sich, aus welchen Gründen er die Welt über einen so immens langen Zeitraum hinweg erschaffen hat.“100

      Das evolutionäre Paradigma konfrontiert den christlichen Schöpfungsglauben mit zwei Herausforderungen: Weshalb bediente sich Gott bei seinem Schöpfungswerk des Mittels der Evolution? Und warum verhindert Gott die durch die Evolutionsmechanismen hervorgerufenen Übel nicht? Zur Beantwortung beider Fragen ist die Entwicklung einer christlichen Theologie der Evolution unverzichtbar, die in Ansätzen bereits vorliegt.101

      Christliche Versuche, Evolution und Schöpfung zusammenzudenken, sind m. E. gut beraten, von einem der Spitzensätze biblischer Theologie ihren Ausgang zu nehmen. Eine solche Fundamentalaussage der Bibel bildet die Bestimmung Gottes als Liebe. Gott ist Liebe (vgl. 1 Joh 4,16b).102 Wenn die Liebe das Sein Gottes ausmacht und bestimmt, und Gott stets seinem Wesen gemäß handelt, dann steht alles, was Gott tut und unterlässt, im Zeichen dieser Liebe. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb die kirchliche Lehrtradition von frühesten Zeiten an die These vertreten hat, dass Gott die Welt aus Liebe erschaffen hat (creatio ex amore).103 Da Gott „in sich und aus sich vollkommen selig und über alles, was außer ihm ist und gedacht werden kann, unaussprechlich erhaben ist“104, hat er in reiner Güte, ohne innere Nötigung noch äußeren Zwang (vgl. DH 3002) die Welt erschaffen. Nachdem Gott aus völlig freiem Entschluss das Nichtgöttliche ins Dasein gerufen hat, kann mit dem alttestamentlichen Buch der Weisheit behauptet werden:


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