Der Mensch und das liebe Vieh. Martin M. Lintner
wird, die Gott ihm als seinem Statthalter in der Schöpfung zugedacht (Gen 1,26) und aufgetragen hat (V 28)?
Jedenfalls soll am Schluss dieses Kapitels ein Zweifaches festgehalten werden.
Erstens: Die Vorrangstellung des Menschen gegenüber den Tieren, die im Letzten durch seine Moralfähigkeit bzw. – als Voraussetzung dafür – durch seine Vernunftbegabung und Freiheit begründet ist, rechtfertigt in keiner Weise einen willkürlichen Umgang mit den Tieren, sondern – ganz im Gegenteil – sie nimmt den Menschen in die Pflicht, Leben zu erhalten und zu fördern bzw. Leid zu verhindern und Leben nicht zu vernichten. In diesem Sinne betont Papst Franziskus, dass von uns Menschen ein respektvoller Einsatz gegenüber der Welt zu verlangen ist, weil man zugleich seine besonderen Fähigkeiten der Erkenntnis, des Willens, der Freiheit und der Verantwortlichkeit anerkennt und zur Geltung bringt.61 Alles andere würde einen falschen Anthropozentrismus bedeuten, den beispielsweise Papst Franziskus als „fehlgeleitet“ und „despotisch“ anprangert und ablehnt:62 „Wenn der Mensch sich selbst ins Zentrum stellt, gibt er am Ende seinen durch die Umstände bedingten Vorteilen absoluten Vorrang, und alles Übrige wird relativ.“63
Zweitens: Die Tiere von der Heilsgeschichte auszuschließen und sie damit gleichsam aus dem Heilsplan Gottes herausfallen zu lassen, widerspricht der biblischen Sicht von Schöpfung und dem biblischen Blick auf die Tiere. Das hat weitreichende Konsequenzen bis hin zur Frage, ob denn dann auch den Tieren so etwas wie eine ewige Vollendung oder ein Weiterleben nach dem Tod zuerkannt werden muss, vereinfacht gefragt, ob Tiere auch „in den Himmel kommen“. Auf diese Frage wird weiter unten noch näher eingegangen werden.64
Im folgenden Kapitel wird eine andere grundsätzliche Frage vertieft werden, die sich angesichts der vielfachen Formen von Leid und Übel stellt, denen wir in der Natur begegnen und die nicht vom Menschen zu verantworten sind. Denken wir nur an das bereits erwähnte „Gesetz“ des Fressens und Gefressenwerdens, an das evolutionsbiologische Prinzip der Elimination von schwachen Individuen oder an jenes des Überlebens der am besten angepassten Individuen. Kann die Schöpfung angesichts dieser Tatsachen als gut angesehen werden? Und überhaupt: Lässt sich das christliche Schöpfungsverständnis, das den bisherigen Ausführungen zugrunde liegt, mit den heutigen Erkenntnissen der Evolutionsbiologie in Einklang bringen? Oder stellt es nicht vielmehr ein Relikt eines archaischen und mythischen Versuchs einer Erklärung der Welt dar, auf die wir heute nicht mehr angewiesen sind und die wir überwinden sollten?
2.Ist die Schöpfung gut?
Zum Problem der Übel und des Leidens in der Natur
(Christoph J. Amor)
2.1 Stellenwert und Bedeutung des christlichen Schöpfungsbegriffs
Der Schöpfungsglaube, d. h. die Überzeugung, dass Gott Himmel und Erde gemacht hat (vgl. Gen 1,1), bildet das Eingangstor zur Bibel. Der exponierten Stellung innerhalb der biblischen Schriften korrespondiert die Wichtigkeit dieser Glaubensüberzeugung im Christentum. Die Zentralität des Bekenntnisses zu Gott als Schöpfer für den christlichen Glauben verdeutlicht u. a. das Apostolische Glaubensbekenntnis. In diesem Gebet, dessen Ursprünge in die Frühphase der christlichen Bewegung zurückreichen,65 werden von Gott nur wenige Eigenschaften ausgesagt. Umso bedeutsamer ist das Bekenntnis des Schöpferseins Gottes: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde“.66
Der Begriff „Schöpfung“ wird im Christentum unterschiedlich verwendet und weist mehrere Bedeutungen auf.67 Mit „Schöpfung“ beziehen sich Christen erstens auf den Akt bzw. den Prozess des Hervorbringens des Nichtgöttlichen durch Gott. Nach traditioneller Lehrauffassung hat Gott das Universum aus nichts erschaffen. Die Lehre von der Erschaffung aus nichts (creatio ex nihilo) bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass alles, was außer bzw. neben Gott existiert, von Gott entweder unmittelbar ins Dasein gerufen wurde oder seine Existenz indirekt dem anfänglichen Schöpfungsakt verdankt. „Schöpfung“ besagt zweitens die Erhaltung des Geschaffenen. Gott erhält das Geschaffene fortwährend im Dasein. Er sichert so den Fortbestand der Geschöpfe und verhindert, dass sie sich in nichts auflösen. Diese bewahrende Tätigkeit Gottes wird in der Tradition creatio continua oder conservatio genannt. Dass der erhaltende Einfluss Gottes nicht rein statisch, sondern dynamisch zu denken ist und das Entstehen von Neuem aus bereits Vorhandenem ermöglicht, betont die dritte Bedeutung. In der theologischen Fachsprache hat sich die Bezeichnung creatio evolutiva für diese besondere Art des innerweltlichen Handelns Gottes eingebürgert.
2.2 Die Evolutionstheorie
Die Glaubensaussage von der Schöpfertätigkeit Gottes ist in der Neuzeit unter Druck geraten. In unserer stark naturwissenschaftlich geprägten Gesellschaft gilt der christliche Schöpfungsglaube vielfach als überholt bzw. widerlegt. Eine starke Erschütterung erfuhr er im 19. Jahrhundert. 1859 veröffentlichte der englische Naturwissenschaftler Charles Darwin (1809–1882) sein Hauptwerk On the Origin of Species by Means of Natural Selection (dt.: Über die Entstehung der Arten). Mit dieser epochemachenden Schrift, in der die sogenannte Deszendenz-, d. h. Abstammungslehre entfaltet wird, schuf der englische Naturforscher die Grundlagen für die moderne Biologie und die heutige Evolutionstheorie.68 1871 wandte Darwin in seinem Buch The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex den Entwicklungsgedanken auf den Menschen an. Mit der Eingliederung des homo sapiens in die Evolutionskette löste er eine heftige akademische Debatte in Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie aus. Schon bald wurde seine Deszendenztheorie auch in der breiten Öffentlichkeit diskutiert und spaltete die Gesellschaft in zwei Lager. Befürworter und Gegner Darwins bekämpften sich bisweilen erbittert. Die Heftigkeit der Grabenkämpfe rührt nicht zuletzt von den damaligen wissenschaftstheoretischen und weltanschaulichen Hintergrundannahmen her.69
a) Moderne Naturwissenschaft und Physikotheologie
Darwin veröffentlichte seinen Grundgedanken von der Entwicklung des Lebens aus einer Wurzel in einer Zeit des wissenschaftlichen Auf- und Umbruchs. Die noch junge Naturwissenschaft, deren Anfänge ins 17. Jahrhundert datieren, befand sich im 18. Jahrhundert kontinuierlich auf dem Vormarsch. Zeitgleich erlebte auch die natürliche Theologie in Gestalt der sogenannten Physikotheologie einen regelrechten Boom in Westeuropa. Die experimentelle Naturbetrachtung stand damals vielfach unter einem religiösen Vorzeichen. Theologie und Naturwissenschaft waren noch nicht strikt voneinander getrennt. Die Erforschung der Natur, die wissenschaftliche Betrachtung der Dinge diente aus Sicht der Physikotheologie einem dreifachen Zweck: Sie sollte den Menschen erstens für das Wunder des Lebens sensibilisieren. Die Komplexität und Schönheit des Geschaffenen sollte ihn zum bewundernden Staunen bewegen. Vom aufmerksamen Lesen im Buch der Natur erhoffte man sich zweitens Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des Schöpfers. Die wissenschaftliche Welt- und Selbsterfahrung diente drittens der menschlichen Selbsterkenntnis und der Verwirklichung des rechten Gottes- und Weltverhältnisses. „An allem, was sich in dieser Welt findet und alltäglich vorgeht, soll dem Menschen die Zuwendung seines Gottes aufgehen und ihn zu Ehrfurcht, Lob und Dank bringen.“70
In der Physikotheologie des 17. und 18. Jahrhunderts kam es zu einer gegenseitigen Befruchtung von Theologie und Naturwissenschaft. Der empirische Erkenntnisfortschritt warf nicht nur die Frage nach Gott auf, sondern stärkte den Glauben an den Schöpfergott. „In dem Maß, in dem die Natur enträtselt und einsichtig wurde, wuchs auch die Überzeugung, darin unmittelbar den Gedanken des Schöpfers und Erhalters zu begegnen.“71 Die wissenschaftliche Hinwendung zur Natur war dabei von der religiösen Überzeugung getragen, dass die Geschöpfe Gottes eine verständliche und klare Sprache sprechen. Da sie aus der Hand des weisen Schöpfergottes hervorgegangen war, wurde die gesamte Wirklichkeit als grundsätzlich erkennbar, als intelligible Größe aufgefasst.72
Eine wichtige