Der Mensch und das liebe Vieh. Martin M. Lintner

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die Zielgerichtetheit bzw. die Ausrichtung auf einen Zweck. „Ausgangspunkt dieser Argumente ist die Tatsache, dass manche Strukturen und Prozesse in der Welt so erscheinen, als seien sie durch einen intelligenten Planer eingerichtet worden.“73 Physikotheologen deuteten die Ordnung und Zweckmäßigkeit der Natur als Hinweis auf ihren göttlichen Urheber.74 „Verschiedenste Naturphänomene wurden als Beweis für die Existenz eines weisen göttlichen Weltenordners betrachtet, etwa die Regelmäßigkeit von Planetenbewegungen, Fisch- und Vogelzügen, der Feinaufbau und die Umwelttauglichkeit von einzelnen Organen oder ganzen Organismen, die soziale Organisation von Bienen- u. a. Insektenstaaten“75.

       b) Infragestellung klassischer Deutungsmuster

      Durch Darwin geriet die teleologische Argumentation ins Wanken. Die erstaunlich differenzierte Struktur der Organismen und ihre Angepasstheit an die Umwelt wird in der Evolutionstheorie nicht mehr auf den Einfluss eines intelligenten göttlichen Planers zurückgeführt, sondern durch rein natürliche Ursachen und Faktoren erklärt. An die Stelle einer theologischen Erklärung trat nun eine natürliche. Die bislang leitende Vorstellung einer übernatürlichen, göttlichen Erschaffung und Erhaltung der Organismen wurde ersetzt durch die Theorie einer natürlichen Abstammung und Entwicklung der Arten.

      Vor Darwin ging man in Physikotheologie und Biologie durchweg von der Konstanz der Arten aus. Man war davon überzeugt, dass die Arten der Organismen im Laufe der Naturgeschichte im Wesentlichen stabil geblieben seien und sich nicht grundlegend verändert hätten. Theologisch gedeutet hieß dies, dass Gott alle Arten einzeln bzw. unabhängig voneinander erschaffen und optimal in die jeweilige Umwelt eingefügt habe. Die Evolutionstheorie entwarf dagegen ein ganz anderes Bild der Wirklichkeit. Laut Darwin stammen die komplexeren Arten von früheren, weniger komplexen Formen des Lebens ab. Das Leben auf Erden habe sich allmählich durch einen natürlichen Mechanismus entwickelt. Gestützt auf Fossilienfunde und vergleichende Studien der physiologischen Merkmale skizzierte Darwin eine Abfolge der Arten, die von den einfachsten Bakterien bis hin zu hoch entwickelten Säugetieren verläuft. Alle Arten stammen von gemeinsamen Vorfahren ab, die sich schrittweise in verschiedene Richtungen entwickelt hätten. Darwin nannte diesen Vorgang Abstammung mit Abänderung durch natürliche Auslese (descent with modification). Als die maßgeblichen Antriebskräfte der Weiterentwicklung identifizierte Darwin Mutation und die nachfolgende Selektion in Kombination mit Umweltbedingungen, mit denen die Organismen in Wechselwirkung stehen. Mutation bezeichnet zufällige Änderungen im Erbgut, die Selektion meint den Fortpflanzungserfolg aufgrund von Umwelt- und Konkurrenzdruck. „Was evolutionär überlebt und was ausstirbt, hängt wesentlich von der Umwelttauglichkeit ab. […] Die Anpassung von Organismen an ihre Umwelt verliert damit ihre Bewunderungswürdigkeit; sie wird vielmehr […] aus ihrer evolutionären Erfolgsgeschichte heraus erklärbar.“76

      2.3 Vorbehalte und Öffnung des Christentums gegenüber dem Darwinismus

      Da Darwins Theorie die Annahme eines intelligenten göttlichen Planers bzw. Schöpfergottes überflüssig machte, erblickten viele Zeitgenossen darin einen Angriff auf den christlichen Glauben. Obwohl Darwin selbst sich vor weltanschaulichen Deutungen oder Folgerungen seiner Theorie hütete77 und die Evolutionstheorie nicht für unvereinbar mit dem Christentum ansah, konnte er nicht verhindern, dass die Evolutionstheorie rasch instrumentalisiert und gegen den religiösen Glauben ausgespielt wurde.78 Die Evolutionstheorie warf eine Reihe schwerwiegender theologischer und anthropologischer Probleme auf.

      An der raschen Verbreitung der Evolutionstheorie trugen in England Thomas Henry Huxley (1825–1895), auch bekannt unter seinem Spitznamen Darwins Bulldogge, und in Deutschland Ernst Heinrich Haeckel (1834–1919) entscheidend bei. Zur Verhärtung der Fronten zwischen den christlichen Kirchen und den Anhängern Darwins kam es vor allem deshalb, weil die Evolutionstheorie vielfach zur Begründung und Rechtfertigung einer materialistischen bzw. atheistischen Weltanschauung vereinnahmt wurde.

      Dass Darwins natürliche Erklärung der Entwicklung der Organismen als Infragestellung des christlichen Schöpfungsglaubens empfunden wurde, war jedoch auch bestimmten zeitbedingten Ansichten der Theologie geschuldet. „Die Evolutionstheorie stand im Widerspruch zum Wortlaut biblischer Schöpfungstexte. Denn bei wörtlicher Auffassung von Gen 1 und 2 ist die Welt durch einzelne, getrennte, unmittelbare Schöpfungsakte Gottes entstanden und in statischer Ordnung abgeschlossen.“79 Aus heutiger Sicht wurde in der damaligen Theologie nur unzureichend zwischen Form und Inhalt der biblischen Schöpfungstexte unterschieden.80 „Die Theologen […] meinten, mit dem geistigen, transzendenten Schöpfergott und der Fundamentalaussage von der Erschaffung alles Nichtgöttlichen ‚aus Nichts‘ auch zugleich das statische, urtümliche Weltbild der Bibel verteidigen zu müssen.“81 In der Theologie herrschte damals die Überzeugung vor, dass es „so viele Arten [gibt], wie der unendlich Eine Gott am Anfang als verschiedene Formen hervorgebracht hat“82. Fatal für das Gespräch mit der Evolutionstheorie erwies sich – vor dem Hintergrund eines starren Gottesbegriffs – die Gleichsetzung von Artkonstanz und Schöpfungsbegriff. Sie stellte die Theologie vor ein unnötiges Dilemma: „entweder Artkonstanz und Schöpfungsglaube oder Artenwandel ohne Schöpfungstätigkeit Gottes.“83

      Auf erbitterte Ablehnung stieß die Evolutionstheorie auch deshalb, weil sie das Selbstbild des Menschen nachhaltig veränderte. Ein weit verbreiteter Vorwurf gegen Darwin lautete, er habe den Menschen, die Krone der Schöpfung, das Ebenbild Gottes (vgl. Gen 1,27), zum Affen degradiert. Den Menschen als Produkt eines blinden, dem Zufall unterworfenen Evolutionsprozesses zu begreifen, stellte für viele Zeitgenossen Darwins die größte Beleidigung der Menschheit dar. In evolutionärer Perspektive erschien der Mensch weder als Zentrum der Schöpfung noch als ihr Zweck.84 In der erhitzten Debatte wurde jedoch leicht übersehen, dass Darwin dem Menschen sehr wohl eine graduelle evolutionäre Sonderstellung zugestanden hatte. Der Mensch unterscheidet sich nach Darwin zwar nur graduell und nicht grundsätzlich vom Tier. Dennoch nimmt er aufgrund seiner gesteigerten geistigen Fähigkeiten, der verbalen Sprache und der Moralfähigkeit eine Sonderstellung in der Natur ein.

      Zu den Ressentiments aufgrund der zugefügten anthropologischen Kränkung85 gesellten sich gesellschaftspolitische Bedenken. Es wurde befürchtet, dass die Verbreitung des Darwinismus mit einem moralischen Zerfall der Gesellschaft einhergehen werde. „Sobald Menschen damit beginnen, sich als Tiere zu verstehen, werden sie sich auch wie Tiere verhalten.“86 In weiten Kreisen der USA ist diese Besorgnis bis in die Gegenwart hinein eines der Hauptmotive, die Evolutionstheorie abzulehnen.87 Diese Sorge war im 19. Jahrhundert angesichts der unheilvollen Allianz von Evolutionstheorie und Sozialdarwinismus88 nicht unbegründet. Im Namen eines (vermeintlich) wissenschaftlichen und aufgeklärten Weltbildes plädierten manche Darwinisten dafür, das Recht des Stärkeren im Verdrängungswettbewerb nicht nur im Tierreich zu respektieren, sondern auch in der Gesellschaft. Konkurrenz und Selektion wurden zur Grundlage des gesellschaftlichen Fortschritts erklärt. Die Theorie der natürlichen Auslese bereitete zusammen mit dem vom Ökonomen Thomas Malthus geprägten Motto des Kampfes ums Dasein und dem auf Herbert Spencer zurückgehenden Ausdruck survival of the fittest (Überleben der Bestangepassten) den ideologischen Nährboden für allerlei Utopien der Menschenzüchtung. Den traurigen Höhepunkt erreichte diese brandgefährliche Entwicklung im nationalsozialistischen Rassenwahn im 20. Jahrhundert.

      Dass die christlichen Kirchen ebenso wie einige Naturwissenschaftler der Evolutionstheorie anfangs kritisch bis ablehnend gegenüberstanden, hatte auch mit ihrem wissenschaftstheoretischen Status zu tun. Anfangs waren die empirischen Belege für die Evolutionstheorie noch teilweise lücken- und mangelhaft. Die Evolutionstheorie stand zwar im Ruf, eine revolutionäre Hypothese darzustellen, sie war in der wissenschaftlichen Zunft aber noch umstritten. Erst durch den empirischen Erkenntnisfortschritt erlangte sie allmählich ihren heutigen Rang einer allgemein anerkannten wissenschaftlichen Theorie und gilt inzwischen als das erfolgreichste wissenschaftliche Paradigma, um die Artenvielfalt zu erklären.

      Die langanhaltenden Vorbehalte des Christentums gegenüber dem


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