"Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland. Wolfram Knauer
Barberina.
Tanzorchester spielten im Hotel Excelsior gegenüber dem Anhalter Bahnhof, das in den 1920er Jahren als größtes Hotel des Kontinents galt, oder im Hotel Adlon direkt am Brandenburger Tor, auf dem Dachgarten des Warenhauses Karstadt oder auch im El Dorado, einem Nachtclub in der Lutherstraße, der in den 1920er Jahren durch seine Travestieshows bekannt wurde. In der Kantstraße wurde 1928 direkt neben dem Theater des Westens der Delphi Filmpalast eröffnet, in dem bald die bedeutendsten Tanzorchester des Landes zu erleben waren.49 Die Eröffnungskapelle war die des britischen Saxophonisten und Klarinettisten Billy Bartholomew, in der neben deutschen auch weitere britische und amerikanische Musiker mitwirkten, etwa der Banjospieler Mike Danzi oder der Trompeter Nick Casti.50 Es gab den Wintergarten und die Scala sowie unzählige andere Theater und Vergnügungsstätten, die damals in ganz Deutschland bekannt waren.
In den diversen Kabaretts stand zwar das gesprochene Wort, der politische Spott im Vordergrund, die dargebotenen Chansons nahmen aber immer auch Anleihen aus dem Jazz, in den Texten, die sich auf die Moden der Gegenwart bezogen, genauso wie in der Musik, die mitunter dann wie eine Karikatur von Jazz wirken konnte. Mischa Spoliansky etwa war ein 1898 in Weißrussland geborener Komponist und Pianist, der seit 1914 in Berlin lebte und dort fürs politisch-literarische Kabarett sowie für Revuen komponierte – beispielsweise die Show Es liegt in der Luft von 1928, in der auch Marlene Dietrich auftrat. Bekannter noch waren die Komponisten Werner Richard Heymann und Friedrich Hollaender, die beide nach ihrer Emigration in Hollywood landeten und dort Filmmusiken schrieben.
Zwischen Charleston und Haller-Revue
Die Musik der Zeit lässt sich am besten anhand ausgewählter Musikerkarrieren und der Aufnahmen erschließen, die erhalten sind. Der Geiger Dajos Béla wurde 1887 als Leon Holzmann in Kiew geboren. Er hatte während des Großen Kriegs in der russischen Armee gedient und danach am Moskauer Konservatorium studiert. Als sein Bruder in den Nachwirren der Oktoberrevolution ermordet wurde, flüchtete er nach Berlin, wo er weiter studierte und sich das Studium als Stehgeiger und Geigenvirtuose verdiente. 1920 nahm ihn die Plattenfirma Lindström als Leiter ihres Studioorchesters unter Vertrag. Mit diesem machte er unter verschiedenen Namen unzählige Aufnahmen, die zwischen leichter Klassik (etwa Kompositionen von Johann Strauß), populären Tagesschlagern und am Jazz orientierter Tanzmusik variierten.
Werbung für Dajos Béla und sein Orchester, Berlin 1930
Sein »Waitin’ for the Moon (Foxtrot & Charleston)« von 1926 ist ein Beispiel für die Machart der Popmusik jener Jahre. Wir hören ein Ensemble mit zwei bis drei Trompeten, einer Posaune, drei Holzbläsern, einer Rhythmusgruppe aus Klavier, Banjo, Tuba bzw. Kontrabass und Schlagzeug sowie eine zweiköpfige Streichergruppe. Das Stück ist durcharrangiert, auch die solistischen Partien (etwa von Geige oder Saxophon) entfernen sich nirgends von der niedergeschriebenen Melodie. Formal besteht die Komposition aus einer 16-taktigen Einleitung, zwei 32-taktigen (AABA)-Themenchorussen – einmal von der Geige, einmal vom Saxophon angeführt –, einer Modulation in den schmissigeren Charleston-Chorus, worauf eine zurückmodulierende Überleitung in den Schlusschorus führt. Dramaturgisch lebt das alles vom durchgehenden Beat der Rhythmusgruppe, von den Klangwechseln zwischen Streicher-, Saxophon- und Trompetenstimmen sowie vom Kontrast des Foxtrotts mit dem Charleston-Teil. Keine Soli, keine Improvisation, und die synkopierten Passagen stehen exakt in den Noten: punktierte Viertel, die über den nächsten Taktschlag gehalten werden, um dann auf die nächste Synkope zu stoßen. Von der Lässigkeit amerikanischer Bands ist diese Art Musik weit entfernt, in Sachen Improvisationskunst hat sie gar nichts zu bieten.
»My Blue Heaven« von 1927 stellt derselben Machart einen Sänger vor, der den Text mit etwas übertriebenem Vibrato als Schnulze vorträgt. Ein Saxophonsolo soll das einleiten, was bei dem populären amerikanischen Bandleader Paul Whiteman so gut klappt, der in seiner Band voller exzellenter Blattspieler immer auch Musiker hatte, die für die Hot-Partien zuständig waren, doch springt hier weder improvisatorisch noch vom rhythmischen Feeling her der Funke wirklich über. An der Aufnahme ist immerhin bemerkenswert, dass der Arrangeur alles zur Verfügung hatte, was er brauchte, einschließlich eines Glockenspiels und eines Akkordeons.
Dajos Béla war auch in Revuen aktiv, etwa in Weltgeschichte gefällig, aus der die Band 1928 das kabarettistische Stück »Einen großen Nazi hat sie« einspielte, in dem Jazzanklänge mit böhmischen Polkaklischees vermengt werden. Am jazzigsten wird Béla, wenn er sich an amerikanischen Vorbildern orientiert, etwa in Fred Ross’ »Deep Henderson«, einer Hommage an den amerikanischen Pianisten, Komponisten und Bandleader Fletcher Henderson. Während die Revuetitel und durchkomponierten Arrangements eher vor dem Hintergrund der Tradition amerikanischer Revuemusik gehört werden sollten, kommt in Aufnahmen wie dieser deutlich durch, dass den Musikern klar war, dass zum Jazz mehr gehört als Rhythmus, spezielle Instrumente und eine ungewöhnliche Instrumentenbehandlung, dass nämlich die Spannung vor allem aus den solistischen Beiträgen entspringt. Bélas Version ist im Anfangsthema sicher, fällt aber im Vergleich zum Original deutlich ab, was sich, nur um ein Beispiel zu nennen, etwa im Klarinettentrio bemerkbar macht, das hier nirgends die Leichtigkeit besitzt, die sich in der Umsetzung der Arrangements von Don Redman bei Henderson findet.
Der Pianist und Bandleader Julian Fuhs (geb. 1891) machte einen Monat vor Béla eine Aufnahme desselben Titels, die einen Vergleich lohnt. Wo Béla aufs Arrangement setzt, springt Fuhs sofort mit Instrumentalsoli ins kalte Wasser. Sicher, das von Saxophon und Klavier vorgetragene Thema verliert dadurch ein wenig von der Eindringlichkeit, die das arrangierte Thema bei Béla besaß, doch man ahnt: Fuhs hatte begriffen, dass das Bandarrangement mehr leisten muss, als Melodik, Rhythmik und Form eines Stücks zusammenzuhalten, nämlich im Idealfall interessante musikalische Ideen der Solisten gut in Szene zu setzen. Man hört solche im Verlauf der Aufnahme von Saxophon, Klarinette, Trompete und Posaune, in jeweils sehr unterschiedlicher Sicherheit im Umgang mit der Improvisation. Am überzeugendsten kommt dabei der Trompeter rüber.
Julian Fuhs’ Version des »Black Bottom« – auf dem einer der neben dem Charleston populärsten Tänze der 1920er Jahre basierte – nimmt sich ein Arrangement von Joe Candullo and His Everglades Orchestra zum Vorbild. Fuhs hatte in Berlin studiert, war 1920 in die USA gegangen und spielte, wie es später in Presseberichten über ihn hieß, in einem der zahlreichen Orchester Paul Whitemans, von dem an späterer Stelle noch ausführlicher zu sprechen sein wird. Nach seiner Rückkehr nach Berlin im Jahr 1924 trat er mit seiner Follies Band in der Madame Revue im Großen Schauspielhaus auf und nahm ab 1925 für das Label Homocord Platten auf. Offenbar hatte der Amerika-Aufenthalt sein Ohr geschult und ihm Kontakte eingebracht; jedenfalls gelang es ihm, etliche internationale Solisten für seine Band zu gewinnen, darunter den britischen Saxophonisten Billy Bartholomew und den amerikanischen Trompeter Mike Diamond. Das Arrangement, das Fuhs benutzt, ist übrigens dasselbe, das auch Dajos Béla in seiner Aufnahme spielt, und doch klingen die beiden recht unterschiedlich. Wenn man allerdings hören will, woher beide ihre Ideen auch für die Instrumentalbehandlung in den Solopartien nehmen, muss man eine andere Aufnahme heranziehen, die etwa zur selben Zeit gemacht wurde, deren Arrangement man damals aber überall in Europa auch live hören konnte: nämlich die der Band des New Yorker Pianisten Sam Wooding, der den Titel im September mit seiner Truppe Chocolate Kiddies in Berlin einspielte. Fuhs sah sich durch die Weltwirtschaftskrise gezwungen, sein Orchester aufzulösen. Er eröffnete ein Lokal in der Nürnberger Straße in Berlin, in dem er ab und zu mit der Hausband oder im Duett mit einem anderen Pianisten auftrat. Nachdem Braunhemden ihn aufgrund seiner jüdischen Abstammung mehrfach gewalttätig angegriffen und mehrere Anschläge auf sein Lokal verübt hatten, verließ Fuhs Deutschland. Er leitete in Paris noch kurzzeitig eine eigene Band und emigrierte dann 1937 in die USA, wo er als Verkäufer in Kaufhäusern arbeitete und als Vertreter für Konserven durchs Land reiste.
Die Berliner Szene war allmählich attraktiv genug, um Musiker aus ganz Deutschland wie auch aus dem Rest Europas und aus Amerika anzulocken. Teilweise kamen sie mit einer kompletten Band an, andere stellten sich in der an Musikern reichen Szene Berlins eine Besetzung zusammen oder stiegen als Solist in das bestehende Ensemble eines deutschen Bandleaders ein. Für viele von ihnen war Berlin