"Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland. Wolfram Knauer


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beispielsweise wurde 1925 von der Puppenfabrik Clemens Claus AG in Thalheim im Erzgebirge gegründet.39

      Die Plattenindustrie war jedenfalls auf beiden Seiten des Atlantiks im Aufschwung, als der Erste Weltkrieg dazwischenfunkte und die Verkaufszahlen einbrechen ließ. Insbesondere in Deutschland litt sie unter den Nachwirkungen des Kriegs: Schellack, das aus den Ausscheidungen der vor allem im Orient verbreiteten Lackschildlaus gewonnen wird, wurde vor allem aus Südostasien importiert, so dass die Zufuhr bis Kriegsende völlig versiegte. Der Rohstoff war begehrt und wurde sogar recycelt. Tatsächlich gab es eine Weile die Regelung, dass man neue Schallplatten nur noch dann kaufen konnte, wenn man alte zurückgab.40

      Der Markt jedenfalls war eingebrochen: Wo die Deutsche Grammophon 1908 noch viereinhalb Millionen Platten gepresst und selbst während des Kriegs noch jährlich eine Million produziert hatte, waren es zum Ende des Kriegs gerade noch 400 000 Platten.41

      Es dauerte eine Weile, bis die Industrie sich erholte. Erst 1919 produzierten die Plattenfirmen in Deutschland wieder mehr als eine Million Tonträger im Jahr, versuchten dabei neben dem eigenen auch die ausländischen Märkte zu bedienen. Allerdings machte die beginnende und bald galoppierende Inflation zumindest den heimischen Markt schnell wieder kaputt: In einer Zeitungsannonce vom März 1921 werden für ein Standard-Grammophon 1500 Mark verlangt; Preiserhöhungen für Schallplatten (und fast alles sonst) gab es zur selben Zeit in fast monatlichem Turnus.42 Bei einem Durchschnitts-Jahreseinkommen von 9974 Papiermark (1921) und der durch die Hyperinflation des Jahres 1923 bedingten rasanten Abwertung der Mark waren sowohl Abspielgeräte wie Platten für die meisten Deutschen unerschwinglich. Seit 1922 vertrieb die Carl Lindström AG über ihr Label Odeon Aufnahmen der amerikanischen Firma Okeh, darunter sowohl Einspielungen weißer Bands wie der Original Dixieland Jazz Band als auch schwarzer Ensembles, etwa von King Oliver oder Mamie Smith. Die Produktion von Jazzplatten allerdings war nur zum Teil für den deutschen Markt gedacht; bis 1927 wurde die Hälfte der 10 000 täglich gepressten Jazzscheiben ins Ausland exportiert.43 Die Deutsche Grammophon ging eine ähnliche Partnerschaft mit dem amerikanischen Label Brunswick ein,44 seit 1925 produzierte die deutsche Filiale von His Master’s Voice unter dem Label Electrola, und 1929 wurde die Firma Ultraphon gegründet, die 1932 von der Telefunken übernommen wurde.45

      In den Vereinigten Staaten durchlebte die Plattenindustrie bereits ihre erste Krise, die sich allerdings als eine Scheinkrise herausstellte: Ab 1920 nahm die Anzahl der Rundfunkanstalten in den USA immer mehr zu, und viele sahen im Radio die Zukunft und die Schallplatte als Auslaufmodell. Diese Skepsis erreichte auch Deutschland. In den Plattenfirmen wähnte man das Ende der Produktion nahe, als am 29. Oktober 1923 die erste deutsche Rundfunksendung aus dem Vox-Haus in der Potsdamer Straße in Berlin mit den Worten »Achtung, Achtung!« begann.46

      Dass der Rundfunk die Platte nicht vollständig ersetzte, hatte zwei Gründe: Zum einen mussten die Sendeanstalten selbst auf Schallplatten zurückgreifen, um ihr musikalisches Programm, das sie nicht immer live produzieren konnten, bestreiten zu können. Zum zweiten aber hatte das Publikum schnell erkannt, dass es viel angenehmer war, Musik dann abspielen zu können, wenn man Zeit hatte, anstatt sich an die Sendepläne im Radio halten zu müssen.

      Schallplattengeschäft in Frankfurt am Main

      Ab Mitte des Jahrzehnts jedenfalls, erzählt der amerikanische Banjospieler Mike Danzi, der damals in Berlin lebte, habe es in der Stadt an Gelegenheiten zur Plattenaufnahme nicht gemangelt, insbesondere wenn eine Band als authentisch amerikanisch galt. Allein 17 Plattenfirmen hätten ihren Sitz in Berlin gehabt, erzählt er, die für den gesamten europäischen Markt und darüber hinaus für den weltweiten Export produzieren würden.47

      Die Goldenen Zwanziger – das Jazz-Zeitalter

      Mit der Einführung der Rentenmark Ende 1923 und der Reichsmark im Sommer 1924 war die Inflation dieser Jahre beendet. Ein neuer wirtschaftlicher Aufschwung Deutschlands konnte beginnen, und dieser Aufschwung erfasste auch die Kultur maßgeblich, die bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 das populäre Gesicht der »Goldenen Zwanziger« sein sollte.

      Berlin also war der hauptsächliche Schauplatz dieses ersten deutschen Jazzjahrzehnts. Hier gab es genügend Theater, Cabarets und Ballsäle; hier gab es reichlich Arbeit für Musiker in Revuen und Shows; hier waren die wichtigsten Plattenfirmen zu Hause; hier fand man ein neugieriges, aufgeschlossenes und vergnügungsfreudiges Publikum.

      Berlin war mit mehr als vier Millionen Einwohnern die größte Stadt Europas, ein Verkehrsknotenpunkt zwischen Ost und West, besaß mehrere Opernhäuser, über 40 Theater, unzählige Clubs, Tanzlokale und Varietés. Mehr noch als in anderen Metropolen Europas stand der Jazz in Deutschland dabei für eine durchaus nicht nur negativ bewertete Dekadenz, für die Abkehr vom Althergebrachten, für eine ungewisse Zukunft. Klaus Mann beschreibt all dies in seinem Lebensbericht Der Wendepunkt:

      Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin im Jazz-Delirium. Der Tanz wird zur Manie, zur idée fixe, zum Kult. Die Börse hüpft, die Minister wackeln, der Reichstag vollführt Kapriolen. Kriegskrüppel und Kriegsgewinnler, Filmstars und Prostituierte, pensionierte Monarchen (mit Fürstenabfindung) und pensionierte Studienräte (völlig unabgefunden) – alles wirft die Glieder in grausiger Euphorie. Die Dichter winden sich in seherischen Konvulsionen; die ›Girls‹ der neuen Revuetheater schütteln animiert das Hinterteil. Man tanzt Foxtrott, Shimmy, Tango, den altertümlichen Walzer und den schicken Veitstanz. Man tanzt Hunger und Hysterie, Angst und Gier, Panik und Entsetzen. […] Ein geschlagenes verarmtes, demoralisiertes Volk sucht Vergessen im Tanz. Aus der Mode wird die Obsession; das Fieber greift um sich, unbezähmbar, wie gewisse Epidemien und mystische Zwangsvorstellungen des Mittelalters. Die Symptome der Jazz-Infektion, die Zeichen der hüpfenden Sucht lassen sich im ganzen Land bemerken; am gefährlichsten betroffen aber ist das schlagende Herz des Reiches, die Hauptstadt.48

      Wohin in Berlin?

      Wo also hörte man in der Hauptstadt Musik? Es gab im Berlin der 1920er Jahre Veranstaltungsorte mit den unterschiedlichsten Schwerpunkten, die Übergänge waren fließend: Es gab Revuetheater, Hotels mit angeschlossenen Tanz- oder Ballsälen, Cafés mit Musik- und Tanzprogrammen, Nachtclubs, Bars und Kabaretts. Die Besetzungen variierten je nach Spielort, es fand sich alles vom solistischen Barpianisten übers Trio bis zum großen Orchester. Der Admiralspalast an der Friedrichstraße war 1911 als Vergnügungsstätte eröffnet worden, die eine Eislaufbahn, mehrere Restaurants, Bäder, Kegelbahnen, ein großes Café, ein Lichtspieltheater und diverse große Säle beinhaltete. Aus der Eisbahn wurde Anfang der 1920er Jahre ein Varieté-, kurz darauf ein Revuetheater mit über 1000 Plätzen, in dem die größten Revuen der Hauptstadt aufgeführt wurden.

      Postkarte, Femina Ballsaal, Berlin, um 1930

      Das Ballhaus Femina wurde Ende der 1920er Jahre an der Nürnberger Straße eröffnet und bot in mehreren Sälen und Bars Platz für mehr als 2000 Gäste. Das Gebäude im Stil der Neuen Sachlichkeit beherbergte auch in späteren Jahren wichtige Musikspielorte, etwa die Badewanne, die in den 1950er und 1960er Jahren Berlins wichtigster Jazzclub war, oder den Dschungel, eine Diskothek, in der in den späten 1970er, frühen 1980er Jahren auch David Bowie ein- und ausging. Heute befindet sich in dem Gebäude das Hotel Ellington, dessen Jazzbezug nicht nur im Namen vorhanden ist, sondern auch in den Fotos von Jazzgrößen der deutschen Fotografin Susanne Schapowalow, die überall im Haus hängen.

      Das Haus Vaterland wurde 1928 am Potsdamer Platz als Großgaststätte eröffnet und beherbergte diverse thematisch ausgerichtete Restaurants. Anzeigen aus den frühen 1930er Jahren werben mit »12 Kapellen, 24 Girls, 50 Attraktionen«, und in Fotos aus den diversen Sälen erkennt man, dass in fast jedem von ihnen eine Bühne für Bands vorhanden war. Das Kakadu am Kurfürstendamm hatte bereits 1920 eröffnet und bestand aus einer Bar, einem – für damalige Zeiten außergewöhnlich – vegetarischen Restaurant und einem Kabarett, das jeden Abend ein fünfteiliges Programm bot und davor oder danach Tanz


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