"Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland. Wolfram Knauer


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das etwas auf sich hielt, ließ in seinen Ballsälen größere Orchester oder in kleineren Cabarets Trios, Quartette oder Gesangsensembles auftreten.

      Der Historiker Ralf Jörg Raber hat die Frühzeit des Jazz in Essen erforscht und dabei dokumentiert, dass die Jazzmode abseits der Hauptstadt ähnlich vielfältig war wie in Berlin. Auch hier gab es ab Mitte des Jahrzehnts Besetzungen vom Trio bis zum großen Orchester, die in Cafés, Ballsälen, Cabarets oder den örtlichen Hotels auftraten. Vergleichbares ließe sich mit Sicherheit für jede andere größere Stadt in Deutschland feststellen. In Essen jedenfalls waren die meisten der großen deutschen Tanzorchester zu hören, Bernard Etté genauso wie Dajos Béla, Paul Godwin, Julian Fuhs, Efim Schachmeister, Marek Weber und andere. Ab Anfang der 1930er Jahre kamen Oskar Joost, Heinz Wehner oder die Weintraubs Syncopators zu Gastspielen in die Stadt.64

      Ein Fund in Rabers Recherchen aber lässt aufhorchen. Die erste US-amerikanische Band nämlich, für die er ein Konzert in Essen nachweisen konnte, waren die Bon John Girls, eine weiße Frauen-Jazzkapelle mit 11 oder 12 Musikerinnen aus New York, die 1929 auch in Berlin und anderswo in Europa zu hören war, über die aber leider sonst wenig bekannt ist. Und auch die zweite amerikanische Band in Essen war eine Frauenkapelle, nämlich die 12 Musical Ladies unter Leitung des in Hamburg geborenen amerikanischen Bandleaders Alex Hyde. Hyde war Ende 1923 nach London gegangen, hatte dann erste Erfolge in Deutschland und brachte 1925 eine eigens in New York zusammengestellte Kapelle nach Europa, mit der er etwa in Dresden, Eisenach, Baden-Baden und anderen Städten auftrat. Tatsächlich steckte Hyde sogar bereits hinter den Bon John Girls; sie waren nach seinem Bruder benannt, der bei der William Morris Konzertagentur für die Vermarktung von Kapellen zuständig war. Die 12 Musical Ladies (oder »Alex Hyde und seine Mädels«, wie Mike Danzi sich an die Truppe erinnert65) waren also seine zweite Damenkapelle, 1930 formierte er in New York seine 22 Modern Maids, und im Dezember desselben Jahres gastierten seine 12 Modern Girls im Berliner Wintergarten und im Kabarett der Komiker. Den Bon Jon Girls folgten in Berlin die Parisian Red Heads aus Kalifornien, und für Essen dokumentiert Raber sogar noch eine dritte Damenkapelle, die der tschechische Bandleader Leo Selinsky zusammengestellt hat: die Blue Jazz-Ladies, denen unter anderem die Trompeterin Clara de Vries angehörte und die 1932 in Essen die Vorstellung der Frühjahrs- und Sommermode im Dachgartenkaffee des Warenhauses Althoff begleitete.66

      Alex Hydes 12 Musical Ladies, um 1930

      Solche »Damenkapellen« waren damals der letzte Schrei. Doch so ausgefallen sie dem Publikum auch vorgekommen sein mögen, waren es durchaus professionelle Musikerinnen, die in ihnen mitwirkten. Sie fanden in der Regel nicht den Weg in die Jazzgeschichtsbücher, lange Zeit nicht einmal auf Schallplatte, so dass dieser Teil auch europäischer Jazzgeschichtsschreibung weitgehend unbekannt blieb, obwohl das von Raber recherchierte Phänomen natürlich nicht auf Essen und Berlin beschränkt war. In München etwa wurde ein breiteres Publikum Mitte der 1920er Jahre erst durch Louise Gouldemond und ihre Damenkapelle für den Jazz sensibilisiert.67

      Trotz der dürftigen Dokumentation bleibt festzuhalten: In den Anfangstagen des Jazz in Deutschland standen auch hier Musikerinnen auf der Bühne. Ein Beispiel ist die Pianistin Peggy Stone (geb. 1907), die in der Zeit der Weimarer Republik mit dem Klavierduo Lil und Peggy Stone auf den Kabarettbühnen Berlins erfolgreich war, 1933 erst nach Schweden, dann in die Sowjetunion ging, nach dem Krieg nach Rumänien, Israel und schließlich New York, wo sie 2009 im Alter von 102 Jahren verstarb. Stone wurde erst in den 2000er Jahren wiederentdeckt; im Jahr ihres Todes erschien ihre Biographie, die erzählt, dass die Emanzipation der Frau in den 1920er Jahren durchaus auch auf den Bühnen der Hauptstadt angekommen war. Bald aber wurde das moderne Frauenbild dieser Zeit durch die Indoktrination des Nationalsozialismus wieder zurückgedrängt, mit Auswirkungen, die bis in die 1970er Jahre hinein zu spüren waren.

      Man schreibt über Jazz

      Man mag sich vorstellen, dass sich im Publikum von Sam Woodings Konzerten in Berlin, Stockholm, Kopenhagen und anderen Städten Europas etliche Musiker befunden hatten, die diesen Amerikanern staunend zuhörten, diesen Musikern, die so selbstverständlich mit den Vokabeln des jungen Jazz umgingen, egal ob es sich um arrangierte Partien oder um Solopassagen handelte, die eine instrumentale Virtuosität an den Tag legten und sich in den Ensembleteilen vom Notenblatt lösten, wie dies den europäischen Kollegen kaum möglich schien. Es steckte offenbar ein Geheimnis hinter dieser Art, Musik zu machen, und man wollte alles dafür geben, hinter dieses Geheimnis zu kommen.

      Der afro-amerikanische Weg des Lernens von Musik ist einer des Mitmachens, Nachahmens und Seine-eigene-Stimme-Findens. Es ist die Tradition der Kirchengesänge, des Call and Response, bei dem die Response keineswegs synchron daherkommen muss, sondern aus so vielen einzelnen Varianten bestehen kann, wie Mitglieder in der Gemeinde sitzen. Die europäische Musikerziehung setzte dagegen eher auf Lehrer und fundiertes Lehrmaterial. Und als immer klarer wurde, dass Jazz mehr als ein vorübergehender Trend der aktuellen Unterhaltungsmusik war, gab es dementsprechend bald die ersten Autoren, die seine Geheimnisse in Lehrbüchern zu enthüllen versuchten.

      1925 veröffentlichte Alfred Baresel (geb. 1893) Das Jazz-Buch. Anleitung zum Spielen, Improvisieren und Komponieren moderner Tanzstücke. Das 38-seitige Heft gibt Beispiele für Takt und Tempo, für verschiedene Formmodelle, für Übergänge und Breaks. Es enthält praktische Tipps für Musiker professioneller Tanzkapellen, um neben all den anderen Moden, die sie zu spielen hatten, eben auch die Mode des Jazz darbieten zu können. Besonders wird dies dort deutlich, wo Baresel rät, dass, wenn man eine normale Tanzkapelle auf Jazzband umstelle, doch am besten der Primgeiger das Saxophon zu übernehmen habe, nicht also der Klarinettist. Führende Geigen, schreibt er, »sind ein Merkmal der Wiener Tanzmusik, nicht des Jazz«.68 Baresel war einer der frühesten Apologeten des Jazz, er hatte in einem Artikel im Hannoverschen Kurier bereits im August 1925 eine Wende prognostiziert: »Die Zeiten, da Militärmärsche mit Hilfe von Autohupen, Kuhglocken und einem wahren Geschützpark an Schlagzeug von Unwissenden als ›moderne Tanzmusik‹ ausgegeben wurden, sind Gott sei Dank vorüber.«69

      Neugierige, ja sogar wertschätzende Artikel über den Jazz finden sich auch in einer Sonderausgabe der Zeitschrift Musikblätter des Anbruchs vom April 1925. Der Herausgeber Paul Stefan erwähnt im Vorwort all die bekannten Vorbehalte, argumentiert aber, dass vielleicht dennoch im Jazz »der Anfang einer Revolution sein« könne. Er hofft auf einen »Triumpf des Geistes, der durch eine neue Melodie, neue Farbe spricht«, auf den »Sieg der Ironie, der Unfertigkeit, Ingrimm der Höchstegüterwahrer«, auf die »Überwindung biedermeierischer Verlogenheit, die noch allzu gerne mit Romantik verwechselt wird: Befreiung also von der ›Gemütlichkeit‹«.70

      In einem der folgenden Essays wertet der amerikanische Komponist Louis Gruenberg den Jazz als »wichtigste[s] Element in der heutigen Musik Amerikas« und empfiehlt den Jazzkomponisten, sich vom Tanz zu lösen, ihn also von einer Funktions- zu einer Kunstmusik zu entwickeln.71 Der französische Komponist Darius Milhaud betont in Bezug auf die Jazzband die »Neuartigkeit ihrer Technik auf allen Gebieten«.72 Ihm immerhin ist bereits bewusst, dass Jazz auf musikalischer Kommunikation fußt und es deshalb wichtig ist, Musiker zu haben, die regelmäßig zusammenarbeiten, »wie beispielsweise eines unserer guten Streichquartette«. Milhaud war 1922 zum ersten Mal in den USA gewesen und hatte dort die ersten Jazzkapellen gehört. In seinem Artikel gibt er einen guten Überblick über das in Amerika erhältliche Lehrmaterial, beschreibt, was darin neben rhythmischen Feinheiten alles vermittelt wird. Er ist auch einer der wenigen jener Zeit, die das »improvisatorische Element« erwähnen, das der Tanzmusik »eine Lebendigkeit des Ausdrucks verleiht, wie wir sie nur bei den Schwarzen finden«.73 Der australische Komponist Percy Grainger schließlich gibt Entwarnung für all diejenigen, die im Jazz eine Gefahr sehen. Jazz, schreibt er, habe keine große Zukunft. Das Publikum liebe ihn vor allem »wegen der Kürze seiner Formen und der geringen geistigen Anforderungen an den Zuhörer«.74 Er wolle da nichts herabsetzen, die Welt brauche nun mal »volkstümliche Musik« – wie er noch jenes Phänomen bezeichnet, das wenig später Popmusik werden soll.

      Auch Paul Bernhards Jazz. Eine musikalische Zeitfrage von 1927 versuchte den Jazz in die musikalischen Diskurse


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