"Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland. Wolfram Knauer
waren die Weintraubs, wie sie allseits nur genannt wurden, in den großen Revuen der Stadt präsent, wirkten bei großen Bällen mit und spielten in der Operette Fräulein Mama als Sextett auf 24 Instrumenten die Musik, die eigentlich für ein 20-köpfiges Ensemble geschrieben war. Ab 1927 ging die Kapelle regelmäßig ins Studio, spielte Instrumentals wie Vokalstücke ein und war 1930 gleich in vier frühen Tonfilmen zu sehen, darunter im Liebeswalzer mit Lilian Harvey und Willy Fritsch sowie in Der Blaue Engel mit Marlene Dietrich und Emil Jannings.
Ende 1930 stieß der Trompeter Adi Rosner (geb. 1910) zur Band, der hinsichtlich Intonation, melodischem Einfallsreichtum und rhythmischer Sicherheit seinen Kollegen weit voraus war. Als Louis Armstrong Rosner 1934 in einem Club in Brüssel hörte, bezeichnete er ihn als den besten Trompeter, den er in Europa gehört habe. Auch die Weintraubs Syncopators nahmen viele Schlager auf, die vor allem auf den populären Markt schielten. Statt es aber bei der Effekthascherei witziger Texte oder jazziger Klischees zu belassen, gelangen ihnen Schallplatten, die geschickt mit den verschiedenen Genres spielten: dem Schlager, der Tanzmusik, der Schnulze, dem Kabarett-Song, dem Jazz.
Wer versucht, die Qualität dieser und anderer Bands nur anhand der überlieferten Plattenaufnahmen zu beurteilen, liegt leicht falsch. Die Plattenfirmen schielten auf den großen Markt und befürworteten im Zweifel immer den Schlager vor instrumentalen Jazzarrangements. Neben ihren großen Hits ist es daher aufschlussreich, in die Jazztitel der Weintraubs hineinzuhören, die sie ebenfalls einspielten. So orientieren sich etwa »Jackass Blues« oder »Up and at ’Em« (um 1928) beide deutlich an der Klanggestalt des afro-amerikanischen Jazz der frühen 1920er Jahre. Obwohl es rhythmisch noch etwas holpert und die Musiker in ihren Soli nicht wirklich wissen, wie sie eine überzeugende Melodielinie improvisieren sollen, ist der Gesamteindruck des Ensemblespiels weit überzeugender als der vieler anderer Tanzorchester der Zeit. Und in »Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln gehen« stimmt alles: der Unterhaltungswert, die Komik, das Arrangement und die solistischen Beiträge.
Die Weintraubs waren laufend auf Tournee und befanden sich gerade in Kopenhagen, als sie davon unterrichtet wurden, dass ihnen, größtenteils »nicht-arischen« Musikern, die Einreise nach Deutschland verwehrt werden würde. Sie flogen von Dänemark in die Niederlande, wo Adi Rosner die Band verließ, dann ging es nach Italien, Wien, Prag, in die UdSSR, nach Ungarn, Rumänien, 1936 bis 1937 sogar nach Japan, dann nach China, bis sie schließlich in Australien landeten, wo die Band, die inzwischen etliche Umstrukturierungen durchgemacht hatte und zum Schluss mit Weintraub selbst, dem Klarinettisten Horst Graf und dem Pianisten Leo Weiss noch drei deutsche Mitglieder hatte, bei Kriegsbeginn auseinanderbrach. Rosner floh 1939 erst nach Polen, dann nach Weißrussland und hatte in den 1940er Jahren großen Erfolg in der UdSSR, wo er die Leitung des staatlichen Jazz- und Unterhaltungsorchesters übernahm. 1946 versuchte er nach Polen zurückzukommen, wurde verhaftet, konnte aber auch in Lagern in Sibirien und Magadan weiter Musik machen. Nach Stalins Tod kam Rosner frei und begann eine zweite Karriere als Musiker und Bandleader. Anfang der 1970er Jahre durfte er nach acht erfolglosen Anträgen nach Deutschland ausreisen und verstarb 1976 verarmt in Berlin.
Mit den beginnenden 1930er Jahren war der Jazz endgültig in Deutschland gelandet: nicht nur als Modeerscheinung, nicht nur als exotisches Faszinosum, sondern als eine Musik, die Musikern genauso wie dem Publikum weit mehr bedeutete, die sie emotional traf, die einen anderen Weg ging als klassische Musik und Schlagermusik der Zeit – und die bei alledem enorm viel Spaß bereitete. Deutschland litt zwar wie alle anderen Länder unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise; im Jazzleben der frühen 1930er Jahre aber sind zugleich eine Aufbruchsstimmung und eine Hoffnung zu spüren, die leider nicht lange währen sollte.
— 3 —
Jazzdämmerung
Das Jazzleben stand Anfang der 1930er Jahre eigentlich in seiner vollen Blüte. Ja, die Wirtschaftskrise war mittlerweile eine Weltwirtschaftskrise geworden, aber Deutschland, meinte man, hatte die tiefste Talsohle schon durchschritten. Die Erfahrungen der ersten Nachkriegszeit allerdings, die vermeintliche Schmach, den Krieg verloren zu haben und von den Siegern gedemütigt worden zu sein, saß durchaus in den Köpfen vieler. Und so sehr man auch feierte in Berlin – in der Bevölkerung lauerte die Unsicherheit, ob die Krise Deutschland nicht endgültig in den Abgrund stürzen würde. Adolf Hitler und seine Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei hatten scheinbar einfache Antworten. Die Schuld, befand er, lag überall, nur nicht bei den Deutschen. Man möge mit Stolz auf die eigene Vergangenheit und Größe blicken statt furchtsam auf die Schwäche der ausländischen Wirtschaft. Dabei beschwor Hitler eine Stärke Deutschlands, die paradoxerweise gerade aus der entspannten Atmosphäre der Weimarer Republik heraus erst möglich schien.
Im Rückblick wirkt die Fröhlichkeit, die sich im Unterhaltungsgewerbe der frühen 1930er Jahre abbildet, in den Theatern, Cabarets, Clubs und Ballsälen, in der Musik von Ensembles, die immer professioneller wurden, wie der sprichwörtliche Tanz auf dem Vulkan. So hieß ein Film von 1938, in dem Gustaf Gründgens die Hauptrolle spielte und für den Theo Mackeben Hits wie »Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da« und »Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami« schrieb. Der Ausbruch, auf den Deutschland allerdings 1933 zusteuerte, war weit mehr als ein Ausbruch von übersteigertem Nationalismus, verbunden mit dem Verlust elementarer Bürgerrechte und einer totalitären Übernahme des Staats, die sich auf alle Facetten des gesellschaftlichen wie kulturellen Lebens auswirkte. Er signalisierte den Beginn eines verbrecherischen Systems, das vom Großteil der Bevölkerung getragen wurde und dem Millionen Menschen zum Opfer fielen.
Der Jazz spielt in den Jahren des Nationalsozialismus durchaus eine Rolle, anhand seiner Rezeption lässt sich gut erkennen, als wie gefährlich die politische Sprengkraft eingeschätzt wurde, die in seiner Emotionalität und Individualitätsästhetik steckte. Wobei den Machthabern zugleich klar war, dass eine Musikrichtung, die so populär war, nicht einfach beiseite gedrängt werden konnte, sondern dass man versuchen musste, sie zu kontrollieren und für die eigenen Zwecke einzusetzen.
Some of These Days
Seit den 1920er Jahren unterschied man Musiker in Tingler, also Künstler und Bands, die jedes beliebige Engagement annehmen mussten, und jene, die das nicht nötig hatten, weil sie sich einen Namen gemacht hatten und/oder einfach gut genug waren, sich auszusuchen, wo sie auftraten. Eric Borchard, der bereits mit seinen Aufnahmen von 1924 beeindruckt hatte, sei, wie der Trompeter Fred Clement berichtet, kein Tingler gewesen, »obwohl er viele Engagements annahm, die seinem Können nicht angemessen waren«.93 Nach der Entlassung aus dem Gefängnis, wo er zehn Monate für die fahrlässige Tötung einer Freundin verbracht hatte, stellte Borchard eine neue Band zusammen und spielte im September 1932 »Some of These Days« ein, einen amerikanischen Hit, den die Revuesängerin Sophie Tucker bekannt gemacht hatte. Borchard singt das Thema und das daran anschließende Scatsolo. Es folgt ein Chorus des Saxophonsatzes, dann einer, in dem Blech und Saxophone sich abwechseln, ein Chorus, der ein anscheinend ursprünglich improvisiertes Solo für den gesamten Saxophonsatz ausschreibt – wobei die Melodie zwar Anklänge an typische Armstrong-Soli enthält, allerdings nicht der Armstrong-Aufnahme des Stücks entstammt, so dass es sich gut und gerne um eine künstlerische Annäherung des Arrangeurs an Armstrongs Stil handeln mag –, schließlich ein swingender vollhändiger Ensemblechorus einschließlich dynamisch zurückgesetzter Bridge. Außer der ungewöhnlichen Scateinlage kein Solo, aber von vorn bis hinten ein antreibendes Ensemblearrangement. Andere Titel Borchards aus den Jahren vor seinem Tod 1934 bestätigen den Eindruck, der »Bugle Call Rag« etwa oder »Georgia on My Mind«: Das Ensemble hatte ein entspanntes Zusammenspiel entwickelt; der Rhythmusgruppe gelang ein vorwärts gerichteter Schub; die Arrangements bestanden keinesfalls bloß aus thematischen Wiederholungen, sondern bauten Spannungswechsel ein, machten auch von der besonderen Instrumentierung der Bigband Gebrauch, und Borchards Vokalinterpretationen der Schlager zeigten, dass er die Entwicklung des amerikanischen Jazz durchaus verfolgte, ob durch Schallplatten im Original oder mittelbar beispielsweise durch die britische Rezeption desselben.
Der Hass wird lauter
Am 14. September 1930 führte die Wahl zum 5. Reichstag