"Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland. Wolfram Knauer


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      Dass der Swing insbesondere die Jugend gefangen nahm, konnte einem System, dem daran gelegen war, seinen Nachwuchs möglichst straff und militärisch in Hitlerjugend und Bund Deutscher Mädel zu organisieren, genauso wenig recht sein. Die Modebewegung der Swingjugend, der Swingheinis oder wie immer sie hießen, war dabei weniger eine politische als vielmehr eine alltagskulturelle und gelebte Opposition gegen das nationalsozialistische Regime. Und das Interesse einer Verfolgung der Anhänger dieser Bewegung hatte mehr noch, als die Musik zu verbieten, zum Ziel, die subkulturellen Strukturen zu zerschlagen, die das System wegen ihrer Unkontrollierbarkeit für gefährlich erachtete. Es gibt zahllose Geschichten von Kontrolleuren der Reichsmusikkammer, die bei Tanzveranstaltungen auftauchten und die Band ermahnten, nicht »hot« zu spielen, also allzu jazzige, allzu wilde, allzu improvisatorische Ansätze bleiben zu lassen. Es habe sogar, erinnerten sich einige später, in vielen Lokalen Schilder gegeben, auf denen das Verbot schriftlich festgehalten war: »Swing tanzen verboten. Reichsmusikkammer«. Bei letzterem Detail zumindest handelt es sich allerdings um eine Geschichtsfälschung, wie der Jazzhistoriker Knud Wolffram 1992 herausfand.120 Tatsächlich war dieses Schild erst in den 1970er Jahren von Grafikern für das Cover einer Langspielplatte entworfen worden, die deutsche Tanzmusik der 1930er und 1940er Jahre enthielt. Von dem vermeintlich offiziellen Emailleschild wurden dann offenbar zahlreiche Exemplare hergestellt, die sich in Antikläden oder auf Flohmarkten gut verkauften und im Nachhinein sogar die Erinnerung von Zeitzeugen beeinflussten. In Wirklichkeit ist ein reichsweites Verbot des Swing-Tanzens bislang nicht belegbar. Es mag regionale Verbote gegeben haben, ansonsten aber konnte jeder Gastwirt selbst entscheiden, welche Tanzmusik er seinen Gästen präsentierte.121

      Das Beispiel zeigt, wie leicht sich der Umgang des nationalsozialistischen Systems mit Kultur in Schwarz-Weiß-Muster pressen lässt, die das komplexe Bild vereinfachen, dabei aber eben auch verfälschen. Es mag unter den Jazzanhängern auch Oppositionelle gegeben haben, aber die Tatsache an und für sich, Jazz zu hören, hatte zumindest mit politischer Opposition erst einmal reichlich wenig zu tun, sondern war mitunter nur ein – wenn auch mit Risiken behafteter – Modetrend oder Ausdruck eines festen Willens, den eigenen Geschmack über ein aufoktroyiertes Kulturverständnis zu setzen. Selbst die Reichsmusikkammer wusste darum, wie schwierig es war, ihre Beschlüsse umzusetzen.122 Letzten Endes gab es selbst unter den Nazis etliche, die Jazz und Swing als angenehme Unterhaltung begriffen. Der Pianist Georg Nettelmann etwa berichtet, dass sich unter den Fans im Dachgarten des Café Europa in Berlin auch Angehörige der Leibstandarte des Führers befunden hätten, die ihn sogar für ein Engagement in die Reichskanzlei vermittelten. Einzige Anweisung: »Die erste halbe Stunde ist der Führer anwesend, da müsse man sich zurückhalten. Wenn er gegangen ist, geht’s los.«123

      Die Absurdität der nationalsozialistischen Versuche, den Jazz einzudämmen, lässt sich am schlüssigsten anhand der Geschichten zeigen, wie findige Musiker allerorten die Kontrolleure der Reichsmusikkammer dadurch foppten, dass sie den amerikanischen Standards einfach deutsche Titel gaben: Aus dem »Tiger Rag« wurde »Schwarzer Panther« oder »Löwenjagd im Taunus«, aus »Dinah« das »Moosröschen« oder aus »Oh Joseph, Joseph« der »Große Lärm vom Kudamm«.124 Wenn die Kontrolleure sich allein durch Titeländerungen hinters Licht führen ließen, weil sie das alles musikalisch eh nicht beurteilen konnten, wie stand es dann tatsächlich mit dem gelungenen Kampf gegen Jazz, »undeutsche Musik« oder »verjudete Negerinstrumente«?

      Auch hier war es, wie bereits angedeutet, mit einem konsequenten und wirkungsvollen Verbot nicht weit her. Man kann sich den Widerspruch zwischen verbaler Ächtung und Praxis im Höreindruck auch ganz konkret vor Ohren halten, wenn man sich Musik- und Revuefilme der Zeit ansieht: Wann immer darin eine Tanzkapelle zu sehen ist, wird diese wahrscheinlich einen Saxophonsatz beinhalten, es werden die Blechbläser mit Dämpfern arbeiten, der Pianist wird swingende Anleihen bei Teddy Wilson machen, und der Bassist sein Instrument betont und fast perkussiv zupfen, um unter dem Orchester hörbar zu bleiben. 1935 wurde der Komponist Hans Felix Husadel ins Luftwaffenministerium berufen und erhielt den Auftrag, die Musik der Luftwaffe neu zu organisieren. Eine seiner Neuerungen war die Einführung eines fünfstimmigen Saxophonsatzes, der bald auch von anderen Abteilungen übernommen wurde. Musik, scheint es, war viel zu flüchtig, um nachhaltig verbannt werden zu können.

      Was verboten werden konnte, waren etwa Schallplattenaufnahmen oder Notenveröffentlichungen jüdischer Komponisten, zu denen im Jazzbereich ja auch George Gershwin, Irving Berlin oder Jerome Kern gehörten.125 Doch letzten Endes ging es selbst mit diesen Verboten nicht so einfach, wie Peter Köhler recherchierte: »Um die Exportchancen der deutschen Schallplatten- und Filmindustrie nicht zu gefährden, sahen sich die Nazis gezwungen, einmal geschlossene Verträge zu respektieren und einzuhalten. So kam es, daß bis in den Krieg hinein eine große Zahl amerikanischer Jazzschallplatten in jedem größeren Musikgeschäft zu haben [war].«126 Und dass die Jazzliebe nicht nur im Verborgenen beziehungsweise in einer Art alternativen Untergrundszene vorherrschte, ist an zwei später gern zitierten Beispielen festzumachen: einem Foto, das den Oberleutnant der Luftwaffe und lebenslangen Jazzfan Dietrich Schulz-Köhn (geb. 1912) Anfang der 1940er Jahre im besetzten Paris in Wehrmachtsuniform Arm in Arm mit Django Reinhardt und Mitgliedern seiner Band zeigt, sowie den Mitteilungen, einer vom selben Schulz-Köhn, Gerd Pick und Hans Blüthner herausgegebenen Postille, die ab 1943 hektographiert in wenigen Exemplaren unter Jazzfreunden in Deutschland herumgeschickt wurde.

      Schulz-Köhn hatte bereits als Gymnasiast begonnen, Schallplatten zu sammeln, war 1932 Mitglied der Jazzklasse an Dr. Hoch’s Konservatorium in Frankfurt gewesen, entschied sich dann aber lieber für ein Studium der Wirtschaftswissenschaften. Er pries sich selbst als Gründer (oder Mitgründer) von drei »Rhythmusclubs« in Berlin, Königsberg und Magdeburg; und er arbeitete seit 1934 neben dem Studium für die Deutsche Grammophon, für die er den Brunswick-Katalog mit Jazz- und Swing-Schallplatten betreute. 1935 machte er seinen Abschluss als Diplomvolkswirt und promovierte 1939 über Die Schallplatte auf dem Weltmarkt. Außerdem schrieb er regelmäßig Artikel, etwa für die schwedische Jazz-Zeitschrift Orkester Journalen. 1933 war Schulz-Köhn bereits der SA beigetreten, 1938 wurde er Mitglied in der NSDAP; im Krieg brachte es der Soldat schnell zum Oberleutnant, während er sich auch als Komponist der Lieder »Wer kennt die Soldaten im grauen Kleid?« und »Wir tragen nicht Schmuck und nicht Orden schwer« hervortat, die 1941 in der Liedersammlung Volk in Waffen veröffentlicht wurden. Als Offizier der Luftwaffe gehörte er zu den Besatzungstruppen in Frankreich, wo 1942 eben jenes berühmte Foto entstand, auf dem er in Uniform neben Django Reinhardt zu sehen ist. Seine Jazz-Interessen, sagte Schulz-Köhn später, hätten ihm in seiner Militärlaufbahn nicht geschadet. Das Foto, auf dem außerdem noch vier schwarze Musiker und ein französischer Jude, der sich verstecken musste, zu sehen sind, kommentierte Schulz-Köhn später so: »Erstaunlich. Hier bin ich, in Uniform, mit einem Zigeuner, vier Negern und einem Juden.« 127

      Nach dem Krieg betonte Schulz-Köhn, dass seine Aktivitäten für den Jazz doch irgendwie auch gegen das System gerichtet gewesen seien, und gerade seine Mitwirkung an den Mitteilungen lässt sich durchaus so verstehen. Im Vorwort zur ersten Ausgabe spricht er davon, dass Swing- oder Hot-Musik doch genauso eine Berechtigung hätten wie die Kompositionen von Debussy und Tschaikowsky oder die Novellen von Balzac oder Stendhal. Und er hegt die Hoffnung, dass es nach dem Krieg – und implizit gemeint ist dabei: nach dem deutschen Sieg – möglich sein sollte, eine Art europäisches Netzwerk der Hot-Clubs zu gründen. Ein wenig schizophren klingt das alles schon. Nach dem Krieg landete Schulz-Köhn in französischer Gefangenschaft, in der er mit anderen Interessierten einen kleinen Hot-Club gründete und Vorträge über die Musik hielt. Nachdem er 1947 freikam, arbeitete er für die Decca, war regelmäßig als »Dr. Jazz« im Westdeutschen Rundfunk zu hören und setzte sich für seinen Traum einer Vernetzung der Jazzszene – jetzt zumindest in Westdeutschland – ein.

      Die Bandbreite zwischen dem, was offiziell verpönt und über was gehetzt wurde, und dem, was nach wie vor möglich war (wenn auch mehr und mehr im Verborgen, im Subkulturellen – wenn man diesen Begriff für die Nazizeit überhaupt anwenden mag), ist also bemerkenswert groß. Werfen wir im Folgenden daher einen Blick auf die Musik selbst und auf die Wahrnehmung dessen, was diese Musik für die Fans bedeutete.

      Von »White Jazz« bis »Delphi


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