Europas Stunde. Torsten Riecke

Europas Stunde - Torsten Riecke


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Wir können also nicht mehr hundert Prozent sicher sein, dass der Nuklearangriff wirklich stattfindet.« Was nun? Noch zwei Minuten bis zum Einschlag der Raketen, die es womöglich gar nicht gibt. Ich entscheide, einfach abzuwarten – in der Hoffnung, dass dies alles nur ein digitaler Albtraum ist.

      »Das war’s«, sagt Sharon Weiner und nimmt mir die schwere Virtual Reality (VR)-Brille mit den Kopfhörern vorsichtig aus den Händen. Der digitale Albtraum ist zu Ende. »Wir wollten Ihnen zeigen, in welch unmöglicher Stresssituation sich ein amerikanischer Präsident heute bei einem Nuklearangriff befinden könnte«, erklärt mir die Professorin von der American University in Washington. Sie arbeitet für »Global Zero«, eine internationale Organisation für die Abschaffung der Nuklearwaffen. Die VR-Simulation eines Nuklearangriffs auf Amerika soll mit dazu beitragen, dass der öffentliche Druck auf die Atommächte wächst, ihre Vernichtungswaffen zu strecken. Ich verlasse den schmucklosen Raum auf der Empore des Münchner Luxushotels »Bayerischer Hof« und tauche mit einem mulmigen Gefühl in die Schar aus Politikern, Wissenschaftlern und Militärs der »Munich Security Conference« (MSC) ein: Zwar hatte ich Szenen eines nuklearen Showdowns schon in einigen Katastrophenfilmen wie »War Games« gesehen. Erschreckt hat mich jedoch, wie sich hier die Risiken der alten Atomwaffen des 20. Jahrhunderts durch eine virtuelle Cyberattacke des 21. Jahrhunderts potenzieren. Der erste Kalte Krieg trifft quasi auf den neuen kalten Technologiekrieg. Eine Bemerkung von Ren Zhengfei, dem Gründer des umstrittenen chinesischen Hightech-Konzerns Huawei, über die kommende, fünfte Generation der digitalen Mobilfunktechnik (5G) kommt mir in den Sinn: »Für Amerika ist das eine Art neue Atombombe.«

       Der andere Kalte Krieg

      Für Kai-Fu Lee ist der neue »Rüstungswettlauf« bereits entschieden. Der 57-jährige Chinese gibt Europa keine Chance mehr. Und das macht er mit einer Selbstverständlichkeit, die kaum Zweifel am Urteil des Technologie-Gurus zulässt. Die Europäer, so Lees Kassandra-Ruf, könnten im globalen Wettrennen um die Zukunftstechnologien am Ende sogar »leer ausgehen«. Es ist Ende Januar 2019 und die Mächtigen und Möchtegern-Mächtigen der Welt gönnen sich beim »World Economic Forum« (WEF) im tiefverschneiten Davos ihre alljährliche Denkpause. Grund dafür gibt es mehr als genug: Handelskriege, Bürgerkriege, Währungskriege und jetzt auch noch ein »Tech War«. Die Welt ist ziemlich in Unordnung geraten. Und der technologische Wandel spielt dabei eine zentrale, womöglich sogar die entscheidende Rolle. Lee gehört auf dem Davoser Jahrmarkt der Eitelkeiten zu den gefragtesten Hellsehern der Welt von Morgen. Dass ausgerechnet er ein vernichtendes Urteil über Europa fällt, hat durchaus symbolische Bedeutung: Lee ist in Taiwan geboren, hat für die US-Giganten Apple, Microsoft und Google Pionierarbeit bei der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) im Silicon Valley geleistet und sucht heute mit seinem Risikokapitalfonds »Sinovation Ventures« in China nach »the next big thing« – also nach der nächsten bahnbrechenden Erfindung. In Person und Biografie verkörpert der Chinese mit dem amerikanischen Pass damit die beiden Machtzentren der Tech-Welt: China und die USA. Im Titel seines 2018 erschienenen Bestsellers »AI Superpowers: China, Silicon Valley, and the New World Order« kommt Europa schon gar nicht mehr vor.

      Für europäische Ängste vor einem »Big Brother«, sei es im Gewand von Facebook oder der Kommunistischen Partei (KP) Chinas, hat Lee wenig Verständnis. »Die Debatte über mögliche Gefahren Künstlicher Intelligenz hat paranoide Züge angenommen«, moniert er in Davos in kleiner Runde und meint damit vor allem europäische Bedenkenträger. In seinem dunkelgrauen Anzug und seiner weinroten Krawatte ähnelt Lee eher einem Investmentbanker denn einem Computer-Nerd. Kühl und ohne Mitleid fällt er sein Urteil über Europas technologische Schwäche. Dass einer der renommiertesten Technologie-Experten der Welt mit weltweit über 50 Millionen Fans in den sozialen Netzwerken ausgerechnet jenen Kontinent abschreibt, dem die Welt die Aufklärung und moderne Wissenschaft verdankt, ist zwar noch kein Todesurteil, aber eine letzte Warnung für Europa ist es schon. »Wir kämpfen um unsere Souveränität. Wenn wir nicht in allen Gebieten, den digitalen wie der Künstlichen Intelligenz, unsere eigenen Champions aufbauen, dann werden unsere Entscheidungen von anderen diktiert«, redet wenig später der französische Präsident Emmanuel Macron den »Movern & Shakern« aus Europa ins Gewissen.

      Die Warnung kommt zur rechten Zeit. Wandelt sich unsere Welt doch gerade dramatisch. Der Aufstieg Chinas hat zu einer nachhaltigen Machtverschiebung von West nach Ost geführt und damit einen Machtkampf auf globaler Ebene ausgelöst. Das aufstrebende Reich der Mitte mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern ist, gemessen an internationalen Kaufkraftparitäten, bereits heute die größte Volkswirtschaft der Welt und hat damit die USA überholt. Ein Drittel des globalen Wachstums kommt heute aus China – das ist mehr als die USA, Europa und Japan zusammen erarbeiten. Deutschland verkauft, gemessen an der eigenen Wirtschaftsleistung, heute fast so viel Waren nach China wie in die USA. Für Südkorea, Australien und Japan ist China bereits jetzt der wichtigste Exportmarkt. Unter den zehn wertvollsten Technologieunternehmen der Welt befinden sich immer noch sechs amerikanische, aber bereits zwei chinesische Konzerne. Weit abgeschlagen auf Platz zwölf folgt mit dem deutschen Softwareanbieter SAP das erste europäische Unternehmen. Der chinesische Telekomausrüster Huawei ist zum Weltmarktführer aufgestiegen und spielt für den Aufbau des neuen, für Wohlstand und technologischen Fortschritt so wichtigen Mobilfunkstandards 5G eine ebenso zentrale wie umstrittene Rolle. Smart Cities, autonomes Fahren, Smart Grids – all das geht nicht ohne 5G. Huaweis Konkurrenten Ericsson aus Schweden und Nokia aus Finnland sind immerhin noch im Rennen, doch die Nordamerikaner haben nach dem Untergang ihrer Telekomausrüster, Nortel aus Kanada und Lucent aus den USA, ihre Kompetenz in dieser Schlüsseltechnologie weitgehend verloren.

      Machtwechsel zwischen Großmächten verlaufen nie friedlich. Auch diesmal nicht. Mit einer Mischung aus Protektionismus und Nationalismus stemmen sich die USA unter ihrem Präsidenten Donald Trump gegen den immer stärker spürbaren Machtverfall. Es ist durchaus noch nicht ausgemacht, dass die Pax Americana, die seit dem Zweiten Weltkrieg den Lauf der Welt bestimmt hat, im 21. Jahrhundert durch eine Pax Sinica abgelöst wird. Die USA sind nach wie vor die größte Militärmacht der Welt und in vielen Technologien immer noch führend. Amerika und China ringen weltweit um die modernen Insignien der Macht: um wirtschaftliche Stärke, militärische Überlegenheit, politischen Einfluss, vor allem aber um technologische Dominanz. Denn sie ist der Schlüssel zu wirtschaftlichem Wohlstand und militärischer Überlegenheit in einer digitalisierten Welt. Der Titel von Lees Buch macht deutlich, dass es dabei um mehr geht, als um die Kinder und Enkel von Alexa und Siri, den intelligenten Sprachassistenten von Amazon und Google. Um viel mehr. Es geht um eine neue Weltordnung, also um die Frage, wer künftig die Welt beherrscht und ihre Standards, Werte und Regeln bestimmt. Dass Lee dabei China und die großen amerikanischen Technologie-Konzerne aus dem Silicon Valley als die eigentlichen Kontrahenten sieht, ist durchaus kein Zufall. »Entweder China oder wir«, stellte Facebook-Chef Mark Zuckerberg amerikanische Kongressabgeordnete bei einer Anhörung im Herbst 2019 vor die Wahl, wem sie in Zukunft vertrauen wollten. Und der Politikberater Ian Bremmer von der »Eurasia Group« in New York ergänzt: »Der Kalte Krieg mit China wird sehr wenig mit militärischer Macht zu tun haben. Es geht um wirtschaftliche Stärke und technologische Überlegenheit. Und um die Stärke und Effektivität zweier radikal unterschiedlicher politischer Systeme.«

      Was für die Großmächte früher ihre Nuklearwaffen waren, sind heute Zukunftstechnologien wie der neue Mobilfunkstandard 5G, die Daten-Cloud, Künstliche Intelligenz oder das Quanten-Computing. »Wer die Künstliche Intelligenz beherrscht, regiert die Welt.« Nicht zufällig hat ausgerechnet Wladimir Putin diese neue Formel der Macht im 21. Jahrhundert formuliert. Der russische Präsident gilt als der Staatschef mit den größten Machtinstinkten, sein Land hat allerdings nur Außenseiterchancen, im Wettrennen der großen Mächte ganz vorne mitzumischen. Wirtschaftliche Stärke, vor allem aber technologische Überlegenheit sind heute Voraussetzungen für nationale Sicherheit. Früher galt »Wandel durch Handel« als Friedensformel, heute ist der Handel eine wichtige »Waffe« im Ringen mächtiger Nationalstaaten um globale Dominanz. Aus der liberalen, regelbasierten, vom Westen geprägten Nachkriegsordnung ist eine »Arena« geworden, in der jeder gegen jeden um den eigenen Vorteil ringt, und dabei gilt nur ein Recht: das des Stärkeren. »Ich zuerst«, ruft der neue Zeitgeist. Europa hat darauf noch keine Antwort gefunden. Zwar hat sich


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