Europas Stunde. Torsten Riecke

Europas Stunde - Torsten Riecke


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immer noch, sie könnten ihre eigenen Wege gehen. Das ist jedoch reines Wunschdenken«, warnt Ferguson. Europa habe den großen Tech-Konzernen aus dem Silicon Valley und China nichts entgegenzusetzen. Apple sei heute mehr wert als alle deutschen Dax-Konzerne zusammen. »Europa muss sich zwischen den beiden Technosphären der Supermächte entscheiden«, sagt der Historiker. Eine Meinung, die zum Beispiel auch von Mathias Döpfner, Chef des Axel-Springer-Verlages geteilt wird. »Nach der (Corona-)Krise müssen wir uns festlegen: Wollen wir weiter an der Seite Amerikas stehen oder an der Seite Chinas? Beides geht nicht«, schreibt der ehemalige Journalist in einem Essay. Dass es zu einem wirtschaftlichen und technologischen Decoupling kommen wird, hält Ferguson für unausweichlich – trotz der immer noch engen ökonomischen Verflechtungen zwischen dem Westen und China. Ist das überhaupt möglich in einer so stark vernetzten Welt? Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges glaubten auch viele Experten, dass ein militärischer Konflikt zwischen Deutschland und England wegen der engen wirtschaftlichen Bande beider Länder unvorstellbar sei. »Nach Kriegsbeginn haben Deutschland und England innerhalb von Tagen alle Bande gekappt«, erinnert der Historiker Ferguson. Wie ähnlich die Rivalität zwischen den USA und China heute dem Machtkampf zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg ist, haben der Ökonom Markus Brunnermeier und der Wirtschaftshistoriker Harold James von der Princeton University zusammen mit dem China-Experten Rush Doshi vom »Brookings Institute« dokumentiert. »Die Rivalität zwischen China und den Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert hat eine unheimliche Ähnlichkeit mit der Rivalität zwischen Deutschland und Großbritannien im neunzehnten Jahrhundert«, schreiben die drei Wissenschaftler in ihrem Aufsatz aus dem Herbst 2018. Wie schnell auch heute noch Grenzen geschlossen, Lieferketten gekappt und Forderungen nach »strategischer Autonomie« laut werden, hat auch die Corona-Pandemie gezeigt. Die Folgen einer Spaltung der Weltwirtschaft wären insbesondere für Europa und Deutschland dramatisch. Noch mehr als die USA und China, die beide über riesige Binnenmärkte verfügen, wäre Deutschland als offenste Volkswirtschaft der Welt davon betroffen, wenn sich Globalisierung und Freihandel von Wohlfahrtsgaranten zu Achillesfersen verwandeln sollten. Zwar bietet der europäische Binnenmarkt mit seinen 450 Millionen Verbrauchern einen gewissen Schutz und fast 60 Prozent der deutschen Ex- und Importe gehen bzw. kommen aus den EU-Ländern. Schlüsselbranchen wie die deutsche Automobilindustrie sind jedoch stark von China und den USA abhängig. Etwa jedes dritte Auto von Volkswagen, BMW und Daimler wird von Chinesen gekauft. Allein BMW verkaufte 2019 doppelt so viele Fahrzeuge in China wie in den Vereinigten Staaten. Aber auch die USA bleiben für deutsche Firmen ein enorm wichtiger Absatzmarkt: 16 der 25 im Deutschen Aktienindex (DAX) zusammengefassten Konzerne machen in den USA höhere Umsätze als in Deutschland, hat das Handelsblatt ausgerechnet.

      Kriege um Macht, Wohlstand und Territorien werden seit Menschengedenken geführt. Dass politische Macht und wirtschaftliche Stärke dabei Hand in Hand gehen, ist ebenso wenig neu wie der Einsatz wirtschaftlicher »Waffen«, um geopolitische Ziele zu erreichen. Schon in den Peloponnesischen Kriegen zwischen Athen und Sparta spielten Seeblockaden für Lebensmittel- und Nachschublieferungen eine wichtige Rolle. Der amerikanische Politologe Graham Allison von der »Kennedy School« an der Harvard University sieht die USA und China bereits in der Falle des Thukydides und befürchtet, dass die beiden Großmächte, ähnlich wie die griechischen Stadtstaaten Athen und Troja in ihrem vorchristlichen Duell, auf einen militärischen Konflikt zusteuern. Das nach dem Historiker Thukydides der griechischen Antike benannte Dilemma besagt, dass die Rivalität zwischen einer aufsteigenden und einer etablierten Macht meist zu einem militärischen Konflikt führt. In den vergangenen 500 Jahren habe es sechzehn Versuche einer aufstrebenden Nation gegeben, eine etablierte Großmacht zu verdrängen. »Zwölf davon endeten in einem Krieg«, schreibt Allison in seinem Buch »Destined For War«. Die Gefahr einer militärischen Eskalation zwischen den USA und China sieht auch Henry Kissinger: »Ich bin sehr besorgt. Die gegenseitigen Beziehungen haben sich in den vergangenen Monaten derart verschlechtert, dass auf beiden Seiten ein Feindbild entstanden ist«, warnte der Doyen der amerikanischen Außenpolitik und Strippenzieher für die historische Chinareise des früheren US-Präsidenten Richard Nixon im Januar 2020 im US-Magazin »The New Yorker«.

      Die Wirtschaft ist dabei wie schon zu früheren Zeiten wieder zum Schlachtfeld der Großmächte geworden. Bereits im Siebenjährigen Krieg in Nordamerika rangen die beiden Kolonialmächte England und Frankreich um Handelswege und wirtschaftliche Vorherrschaft. Napoleon versuchte mit seiner Kontinentalsperre den Engländern die wirtschaftliche Luft abzuschnüren. Im Ersten Weltkrieg stürzte die englische Seeblockade Deutschland in die Hungerkatastrophe des »Steckrübenwinters«. In der Zwischenkriegszeit verschärften die USA mit ihren berüchtigten »Smoot-Hawley«-Schutzzöllen die Weltwirtschaftskrise 1930. Mit der Atlantikschlacht des Zweiten Weltkriegs versuchten England und Deutschland sich gegenseitig nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich niederzuringen. Die USA nutzten nach ihrem Kriegseintritt das gesamte Waffenarsenal des Wirtschaftskrieges: vom Ölembargo gegen Japan über Exportkontrollen und dem Einfrieren von Finanzmitteln bis hin zum Aufkauf strategischer Rohstoffe. Vollends zum Schlachtfeld wurde die Wirtschaft während des ersten Kalten Kriegs. Mit Exportverboten, die von strategisch wichtigen Rohstoffen wie Öl bis hin zu Computertechnologien reichten, versuchte der Westen das Sowjet-Imperium zum Einsturz zu bringen. Vor allem Kuba und Nordkorea bekamen die volle Härte wirtschaftlicher Sanktionen zu spüren. Umgekehrt gewährten die USA ihren Verbündeten in Westeuropa mithilfe des Marshall-Plans eine enorme wirtschaftliche und finanzielle Wiederaufbauhilfe – auch, um sie zu einem Bollwerk gegen den Kommunismus zu machen. Als George Marshall 1947 in seiner berühmten Rede vor Studenten der Harvard University warnte, ohne eine wirtschaftliche Gesundung Westeuropas könne es keinen dauerhaften Frieden geben, machte er damit zugleich die enge Verbindung von Wirtschafts- und Geopolitik deutlich. Marshalls Botschaft: Wirtschaftliche Instrumente sind ein formidables Mittel, um geopolitische Interessen durchzusetzen. Im Guten wie im Schlechten. Es gehört zur Ironie der Geschichte von Wirtschaftskriegen, dass die wirksamsten Sanktionen der USA nicht etwa gegen den ideologischen Feind in Moskau, sondern gegen die Verbündeten Großbritannien, Frankreich und Israel eingesetzt wurden. Während der Suez-Krise 1956 zwang US-Präsident Dwight Eisenhower die drei befreundeten Länder mit massiven Devisenverkäufen des britischen Pfunds und einem Ölembargo dazu, ihre Invasionspläne gegen Ägypten abzublasen und sich vom Suezkanal zurückzuziehen. Eisenhower war es auch, der schon 1953 die »Commission on Foreign Economic Policy« (auch bekannt unter dem Namen »Randall Commission«) ins Leben rief, um untersuchen zu lassen, wie Amerika seine wirtschaftlichen Stärken zum Beispiel im Handel besser für die außen- und sicherheitspolitischen Ziele des Landes einsetzen könnte.

      Die weitaus wirkungsvollste geoökonomische Waffe des ersten Kalten Krieges war jedoch das sogenannte »Bretton Woods«-System. Amerikaner und Briten nutzten die Konferenz im Juli 1944 im »Mount Washington Hotel« in Bretton Woods (New Hampshire) dazu, mithilfe von neuen Institutionen wie dem »Internationalen Währungsfonds« (IWF) und der Weltbank eine regelbasierte, liberale Weltwirtschaftsordnung mit offenen Märkten und marktwirtschaftlichen Prinzipien durchzusetzen. Vornehmlich ging es den Siegermächten nach den Worten des amerikanischen Finanzministers Henry Morgenthau darum, »die ökonomischen Übel« zu beseitigen, die dem Zweiten Weltkrieg vorausgegangen waren. Das Kalkül der westlichen Siegermächte war es jedoch, durch eine liberale Weltwirtschaftsordnung die westliche Demokratie und Marktwirtschaft weltweit zu befördern und den Kommunismus als Systemkonkurrenten zurückzudrängen. Dies drückte sich später im sogenannten »Washington Konsens« aus, einem Zehn-Punkte-Programm, das jahrzehntelang die wirtschaftsliberale Politik des von den USA kontrollierten IWF und der Weltbank bestimmte. Freier Handel und globale Bündnisse, das waren die beiden wichtigsten Säulen, auf denen die USA nach dem Zweiten Weltkrieg ihre »Pax Americana« stützten. Trump hat beide Säulen mit seiner nationalistischen »America First«-Politik zerstört. Ein ungewollter Nebeneffekt der herrschenden Lehre des Laissezfaire-Liberalismus war freilich, dass der Einsatz der Wirtschaft für politische Zwecke zum Beispiel durch eine staatliche Industriepolitik oder Handelsbarrieren erheblich erschwert wurde. Das war so lange kein Problem, solange sich die meisten Länder an die Spielregeln einer globalen Marktwirtschaft hielten. Wehe aber, wenn einige Nationen aus nationalem Egoismus foul spielen oder gar das ganze Regelbuch der liberalen Weltordnung infrage stellen, wie es Trumps Amerika heute offen und China seit Langem heimlich macht. Zum Wirtschaftsnationalismus beider Länder gehört der gezielte Einsatz ökonomischer


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