Europas Stunde. Torsten Riecke
der »Houston Rockets« aus seinen Medien verbannt, weil deren Manager Daryl Morey es gewagt hatte, die Freiheitsbewegung in Hongkong auf Twitter zu unterstützen. Für die amerikanische »National Basketball Association« (NBA) stehen in China Milliardeneinnahmen aus Übertragungsrechten und Merchandising auf dem Spiel. Auch die Kritik Australiens am Krisenmanagement Chinas während der Corona-Pandemie beantwortete Peking mit Drohungen und knallharten Wirtschaftssanktionen.
Die wichtigste Munition im neuen Kalten Krieg sind neue Technologien. Der erste Kalte Krieg ist uns heute vor allem als Ära des Wettrüstens in Erinnerung. Bis an die Zähne mit Atombomben bewaffnet standen sich West und Ost zwischen 1945 und 1989 gegenüber. Die geopolitische Rivalität drückte sich vor allem darin aus, wer die schrecklichsten Vernichtungswaffen bauen konnte. Die Amerikaner glaubten, durch das »Manhattan Project« zum Bau der ersten Atombombe am Ende des Zweiten Weltkriegs einen technologischen Vorsprung zu haben. Das änderte sich mit dem Sputnik-Schock. Ein Schock war der Start des ersten künstlichen Erdsatelliten am 4. Oktober 1957 durch die Sowjets deshalb, weil der Westen bis dahin überzeugt war, dass die liberalen Demokratien quasi per Naturgesetz dem Kommunismus technologisch überlegen seien. »Sputnik« erschütterte diesen Glauben und war der Startschuss für ein technologisches Wettrennen ins All. Die Amerikaner konterten die Herausforderung Moskaus mit dem Projekt »Moonshot«, gründeten die NASA und starteten den Wettlauf zum Mond.
Technologische Überlegenheit ging auch schon in früheren Jahrhunderten mit Macht einher. China war bis zum späten Mittelalter auch dank seines Erfindungsreichtums die am weitesten fortgeschrittene Zivilisation. Die vier großen Erfindungen – das Papier, die Druckkunst, das Schwarzpulver und der magnetische Kompass – gehen auf das Konto des alten China. Viele weitere Innovationen machten das Reich der Mitte während der Song-Dynastie (960 bis 1279) zum Silicon Valley des Mittelalters.
Warum China nach 1500 seine globale Spitzenstellung an Europa verlor, darüber streiten sich die Historiker bis heute. Sicher ist, dass die Renaissance der Naturwissenschaften und der aufklärerische Glaube an die Vernunft des Menschen ganz wesentlich dazu beigetragen haben, dass Europa zum neuen Machtzentrum der Welt wurde. Die industrielle Revolution ebnete Europa und später Amerika auch wirtschaftlich den Weg zur globalen Dominanz. Heute ist es die digitale Revolution, die eine neue Zeitenwende einläutet. Die Innovationsfähigkeit eines Landes wird im digitalen Zeitalter zum entscheidenden Hebel für geopolitische, militärische und wirtschaftliche Macht. Der technologische Wandel ist zudem eine wesentliche Ursache dafür, dass sich die alte internationale Nachkriegsordnung auflöst und Populismus und Wirtschaftsnationalismus sich in vielen Ländern ausbreiten.
Die Welt ist eine Arena, in der rivalisierende Nationen um die Vorherrschaft ringen. So haben die früheren Trump-Berater Gary Cohn und H. R. McMaster das Hobbessche Weltbild des amerikanischen Präsidenten beschrieben und dessen »America First«-Politik gerechtfertigt. Chinas starker Mann Xi Jinping hatte schon 2015 seine Version einer »China First«-Politik vorgelegt: Xis Initiative »Made in China 2025« ist sein Masterplan, um die globale Technologieführerschaft zu erringen. Was wie ein unscheinbares Produktlabel aussieht, birgt den Anspruch, das Reich der Mitte wieder zum Mittelpunkt der Welt zu machen. So ist das von China verfolgte Jahrhundertprojekt einer »Neuen Seidenstraße« (»Belt and Road Initiative«, BRI) von Fernost nach Europa, Afrika und Lateinamerika weit mehr als nur die Wiederbelebung früherer Handelswege durch Straßen, Eisenbahnschienen, Schifffahrts- und Flugrouten. Versucht China doch gleichzeitig, seine Technologien und die autoritäre Kontrolle darüber auf einer digitalen Seidenstraße weltweit zu exportieren. Das afrikanische Land Tansania hat zum Beispiel das chinesische Überwachungsmodell übernommen und ähnlich die »Great Firewall« in China eine staatliche Kontrolle des Internets aus Gründen der nationalen Sicherheit angeordnet. Auch siebzehn osteuropäische Länder, Griechenland und sogar das EU-Gründungsmitglied Italien konnten die Chinesen in den Bann ihrer Großmachtträume ziehen. Und auch Trump, der den Handelskrieg anfänglich wegen billiger Industrieimporte aus China vom Zaun brach, hat inzwischen die geopolitische Bedeutung der neuen Technologien erkannt. In seiner »National Security Strategy« und »National Defense Strategy« wird China als »strategischer Rivale« und Pekings Hightech-Offensive als Gefahr für die nationale Sicherheit und Amerikas Führungsanspruch in der Welt gebrandmarkt. Nirgendwo wird die Machtformel für das 21. Jahrhundert deutlicher beschrieben als hier. »Wir befinden uns in einer Ära, in der die Großmächte im Wettbewerb stehen. Und China ist unser größter Herausforderer«, zitierte US-Verteidigungsminister Mark Esper auf der »Munich Security Conference« im Februar 2020 aus seinem Strategie-Kursbuch. Wirtschaftliche Entscheidungen seien im 21. Jahrhundert auch eine Frage der nationalen Sicherheit, betonte der Amerikaner mit Blick auf den transatlantischen Streit um Huawei. Umgekehrt sind wirtschaftliche Stärke und Innovationsführerschaft bei neuen Technologien für die USA die Voraussetzung dafür, dass sie ihre globale Vormachtstellung verteidigen können. Dass das Duell um die Zukunftstechnologien bislang vor allem mit Strafzöllen auf klassische Industrie- und Agrargüter der »Old Economy« ausgetragen wird, ist insofern eine Ironie des neuen Kalten Wirtschafts- und Techno-Krieges.
Es ist nicht nur der technologische Rückstand, der Europa zum machtlosen Zuschauer des globalen Ringens zwischen China und den USA degradiert. Europa fehle nicht die Macht, sondern der politische Wille, seine gemeinsame Stärke auch für seine Interessen einzusetzen, konstatiert EU-Außenbeauftragter Josep Borrell. Insbesondere Deutschland ist nach dem Zweiten Weltkrieg das strategische Denken abhandengekommen. Geopolitik und Strategie haben hierzulande stets den Ruch von Großmachtpolitik und wurden deshalb der Schutzmacht USA überlassen. Der Begriff Geoökonomie – also der strategische Einsatz wirtschaftlicher Instrumente zur Durchsetzungen geopolitischer Interessen – war in den politischen Zirkeln Berlins lange Zeit ein Fremdwort. Und auch die Erkenntnis, dass neue Technologien eine entscheidende Rolle für das Machtgefüge im 21. Jahrhundert spielen, sickert erst langsam ins Bewusstsein der deutschen Politik. Im Auswärtigen Amt befasst sich inzwischen immerhin eine kleine Projektgruppe mit der strategischen Frage, welchen Einfluss die Entwicklung Künstlicher Intelligenz auf die außenpolitischen Interessen Deutschlands haben bzw. wie man die neuen Technologien für eigene Ziele nutzen könnte. Europas Wirtschaftspolitiker versuchen nach dem »Huawei-Schock« dagegen mit einem Griff in die industriepolitische Mottenkiste, »National Champions« wie einen »digitalen Airbus« aus dem Boden zu stampfen, um so den technologischen Rückstand wettzumachen.
Dass der Einsatz wirtschaftlicher und technologischer Instrumente für geopolitische Ziele in Deutschland und Europa fast in Vergessenheit geraten konnte, ist nicht nur wegen der Bedeutung des Marshall-Plans für die europäische Nachkriegsordnung überraschend. Die Entwicklung der Europäischen Union – von der Montanunion bis zum Euro – ist im Grunde die weltweit größte geoökonomische Erfolgsgeschichte. Liegt der europäischen Einigung doch die Idee zugrunde, dass eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit der Europäer die beste Garantie für einen dauerhaften Frieden auf dem Kontinent ist. Dass die Wirtschaft ein »Friedensstifter« sein kann, zeigte sich auch in der Ostpolitik: Der Handel trug wesentlich zum politischen Wandel der Länder hinter dem Eisernen Vorhang bei. Damit verbunden ist auch ein alter, aber immer noch aktueller Gedanke der Abschreckung: Je enger verfeindete Länder wirtschaftlich miteinander vernetzt sind, desto kostspieliger ist es, diese Bande aus ideologischem oder machtpolitischem Kalkül zu kappen. Der amerikanische Politikwissenschaftler und ehemalige Diplomat Joseph Nye sieht in der gegenseitigen Abhängigkeit (»entanglement«) deshalb auch einen stabilisierenden Faktor für das geopolitische Gleichgewicht im 21. Jahrhundert.
Das wiedervereinigte Deutschland hat nach 1989 versucht, diese Lehre mit in die Zukunft zu nehmen und den Ausbau wirtschaftlicher Beziehungen zu autoritären Ländern wie Russland, China und dem Iran als Hebel zum Beispiel für die Verbesserung der Menschenrechte zu nutzen. Die Erfolgsbilanz ist bestenfalls als gemischt zu bezeichnen, was auch daran liegt, dass die kommerziellen Interessen der deutschen Wirtschaft oft die Oberhand über die politischen Ziele behielten. Die China-Politik und das Schweigen Berlins zur chinesischen Machtpolitik gegenüber der ehemaligen britischen Kronkolonie Hongkong ist dafür das jüngste Beispiel. Anders war es, als der russische Präsident Wladimir Putin 2014 die Krim annektierte und seinen Zermürbungskrieg gegen die Ukraine begann. Erstmals seit langer Zeit setzte Europa gezielt Wirtschaftssanktionen ein, um der geopolitischen Aggression Moskaus Einhalt zu gebieten. Eine strategische Debatte darüber, wie Europa