Europas Stunde. Torsten Riecke
sich wegduckt. Sechs Jahre ist es her, dass der damalige Bundespräsident Joachim Gauck auf der Sicherheitskonferenz in München die Deutschen aufforderte, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Seitdem rätselt die politische Elite in Berlin, wie sie deutsche Interessen stärker vertreten soll, ohne dabei in die Großmachtattitüde der dunklen Vergangenheit zurückzufallen oder die pazifistisch gestimmte Mehrheit in der Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Wirtschaftlich ein Riese, politisch ein Zwerg – so hat der Rest der Welt die Bundesrepublik lange Zeit wahrgenommen. Und den Deutschen war dieses Selbstbildnis einer großen Schweiz ganz recht, konnte man doch die unangenehmen Pflichten der nationalen und europäischen Sicherheit weitgehend den Amerikanern, Franzosen und Briten überlassen – und seinen Geschäften nachgehen.
Seit sich der Kampf der Nationen um Macht und Einfluss im 21. Jahrhundert mehr und mehr auf das wirtschaftliche Schlachtfeld und in die globalen Technosphären verlagert, ist Wegducken jedoch keine Option mehr für Deutschland. Die eigene Sicherheit lässt sich nicht mehr outsourcen, seit Trump von Berlin eine massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben fordert. Auch wirtschaftlich könnte Deutschland abgehängt werden, sollte es den technologischen Anschluss an die USA und China verlieren.
Noch aber ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt ein wirtschaftlicher Koloss und könnte ihre ökonomischen Muskeln viel stärker spielen lassen, um ihre geopolitischen Interessen durchzusetzen. Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass man sich der eigenen Stärken überhaupt bewusst und gewillt ist, sie zusammen mit den europäischen Partnern gezielt einzusetzen. Europa hat seine wirtschaftliche Macht bislang vor allem beim Schutz des Wettbewerbs, in der Handelspolitik und neuerdings im Datenschutz aufblitzen lassen. Über den gemeinsamen europäischen Binnenmarkt mit rund 450 Millionen Verbrauchern können auch die USA und China nicht so einfach hinwegsehen. Europa hat dieses Faustpfand jedoch viel zu selten genutzt, um seine geopolitischen Ziele zu befördern. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat deshalb in Anlehnung an den »National Security Council« der USA einen »Europäischen Sicherheitsrat« vorgeschlagen. Der Vorschlag ist vage geblieben, vor allem, weil die Kanzlerin die Details eines solchen Gremiums bis heute nicht nachgeliefert hat. Dennoch geht Merkels Idee in die richtige Richtung. Ein europäischer Sicherheitsrat bräuchte eine europäische Sicherheitsstrategie und müsste, um diese umzusetzen, gerade auch auf ein geoökonomisches Droh- und Waffenrepertoire zurückgreifen können.
Zentraler Bestandteil einer europäischen Sicherheitsstrategie müsste die technologische Aufholjagd sein, um wieder Anschluss an Amerika und China zu finden. Die Ausgangslage ist jedoch alles andere als gut: Der digitale Binnenmarkt ist längst nicht vollendet, in der Grundlagenforschung herrscht egoistische Kleinstaaterei, von einer gemeinsamen europäischen Strategie für den Einsatz neuer Technologien wie der Künstlichen Intelligenz ist man meilenweit entfernt. Dabei zeigt doch gerade die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), dass die Europäer auch die Tech-Giganten aus den USA und China bändigen können, wenn sie an einem Strang ziehen. Europa scheint sich noch gar nicht bewusst zu sein, dass es dank seines riesigen Binnenmarktes ein gewichtiges Wort darüber mitsprechen könnte, welche Regeln und Standards in der digitalen Welt gelten sollen.
Wir stehen heute am Beginn eines neuen Kalten Krieges globalen Ausmaßes, der Politik, Wirtschaft und Technologien gleichermaßen umfasst. Wiederum ist es ein Wettbewerb zwischen politischen Systemen: Auf der einen Seite die USA und die liberalen Demokratien des Westens, die nach dem Fall der Berliner Mauer lange das Ende der Geschichte feierten, bevor die Wahl Donald Trumps 2016 zum US-Präsidenten dann für Katerstimmung, Verunsicherung und Uneinigkeit sorgte. Und auf der anderen Seite China mit seiner leninistischen Marktwirtschaft, in der das wirtschaftliche Leben bis zu einem gewissen Grade den Gesetzen des Marktes folgt, das politische Leben aber den Befehlen der Kommunistischen Partei gehorcht. Dass Trump mit seiner nationalistischen »Amerika First«-Politik auch noch einen Keil in das westliche Bündnis getrieben hat, macht die Sache insbesondere für die Europäer nicht leichter. Sollte der Republikaner im November 2020 wiedergewählt werden, würde das den Druck auf Europa weiter erhöhen, sich gegenüber beiden Supermächten als eigene, dritte Kraft zu behaupten. Eine politische Annäherung an die Parteidiktatur in China wäre jedoch kein Zeichen europäischer Selbstbehauptung gegenüber einem wiedergewähltem Trump. Europa ist neben dem gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum eben auch eine Gemeinschaft politisch Gleichgesinnter. Amerika bleibt deshalb Freund und Partner – auch unter Trump. Auf dieser alten Wertegemeinschaft des Westens kann sich Europa jedoch nicht mehr ausruhen. »Die Welt braucht den Westen«, hat der Transatlantiker Thomas Kleine-Brockhoff in einem klugen Buch geschrieben und einen »robusten Liberalismus« eingefordert. Wolfgang Ischinger, Chef der »Munich Security Conference« und ehemaliger Botschafter in den USA, bescheinigt der Welt hingegen eine zunehmende »Westlessness«, also einen Niedergang des Westens im Inneren wie Äußeren. Es ist nun an Europa, das Gegenteil zu beweisen und das politische Vakuum in der Weltpolitik mit Leben, Ideen und Macht zu füllen und damit die eigene Renaissance einzuleiten. »Für Europa ist die Stunde der Wahrheit gekommen«, sagte der französische Präsident Emmanuel Macron auf der Sicherheitskonferenz in München. Es ist Europas Stunde – im Guten wie im Schlechten. Entweder gelingt es den Europäern, sich im Kampf der großen Mächte zu behaupten und seine Ideale zu verteidigen. Oder Europas letzte Stunde als prägende Macht der Welt hat geschlagen.
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