Europas Stunde. Torsten Riecke

Europas Stunde - Torsten Riecke


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»Sprache der Macht zu lernen«. Darin steckt zwar der richtige Wunsch, dass Europa sich im Powerplay der Großmächte behaupten muss. Wie die Europäische Union (EU), die in wesentlichen Fragen oft uneins und vom Populismus innerlich und dem Brexit Großbritanniens äußerlich geschwächt ist, ihre wirtschaftliche und politische Macht wirksam einsetzen will, darauf gibt es weder in Brüssel noch in den europäischen Hauptstädten bislang eine Antwort.

      Was von der Leyen anmahnt, dürfte vielen Europäern und insbesondere vielen Deutschen gegen den Strich gehen. Für sie ist die EU ein Gegenentwurf zur Machtpolitik des frühen 20. Jahrhunderts, die den Kontinent verwüstet hat. Das Friedensprojekt Europa ist von der Rückkehr nationalistischer Machtpolitik denn auch überrascht worden. Mehr als dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhang zwischen Ost und West ist die Geschichte mit voller Wucht zurückgekehrt. Ob im Mittleren Osten, Afghanistan oder im Südchinesischen Meer. Ob auf der koreanischen Halbinsel, in Hongkong oder der Ukraine: So viele Krisen wie heute gab es zuletzt vor hundert Jahren. Kapitalismus und Marktwirtschaft gelten seit der Finanzkrise 2008 nicht mehr als natürliche Sieger der Geschichte, die Verlierer der Globalisierung gehen auf die Barrikaden und erhoffen sich die Rettung ihrer Jobs und ihrer abendländischen Leitkultur von populistischen »Scheinriesen« und Scharlatanen wie Donald Trump, Viktor Orbán und Boris Johnson. Der Klimaschutz wird zum Kultur- und Überlebenskampf, Millionen Menschen fliehen vor Klimakatastrophen und Bürgerkrieg, der technologische Wandel verschlingt mit immer intelligenterer Software die alte, vertraute Welt und mit ihr die Geschäftsmodelle, Betriebe und Jobs des industriellen Zeitalters. Ein Beispiel: 1955 war der US-Autokonzern General Motors (GM) das größte und wertvollste US-Unternehmen und beschäftigte damals rund 577000 Mitarbeiter. Im Oktober 2019 übernahm Apple die Krone der Wirtschaft, der Tech-Gigant beschäftigt aber »nur« 137000 Menschen. »Software is eating the world«, hat Marc Andreessen, Mitbegründer des ersten Internet-Browsers »Netscape«, schon 2011 gewarnt. Europa scheint dabei das Hauptgericht zu sein. Findet sich doch unter den zehn wertvollsten Unternehmen der Welt kein einziges mehr vom europäischen Kontinent.

      Dabei sollte nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 doch eigentlich alles ganz anders kommen. Stellvertretend für den damaligen Zeitgeist feierte der amerikanische Politologe Francis Fukuyama mit seinem weltberühmten Buch »The End of History and the Last Man« den Sieg der westlichen Demokratien über ihre ideologischen Gegner. 30 Jahre und viele Rückschläge später musste Fukuyama zum Jubiläum des Berliner Mauerfalls im November 2019 einräumen, dass der Westen sowohl von innen wie von außen bedroht ist und sich die Welt keineswegs auf einem unwiderruflichen Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft befindet. Schuld daran ist seiner Meinung nach auch der technologische Wandel. Ist der technische Fortschritt doch nicht immer ein Schritt in die richtige Richtung. »Die neuen Technologien haben zwei Gesichter: Sie erhöhen unsere Freiheit, sie sind aber auch ein Werkzeug der Unterdrückung«, warnt Fukuyama bei seinem Besuch in Berlin und denkt dabei vor allem an die immer größer werdende Macht intelligenter Maschinen. Eurasia-Chef Ian Bremmer geht sogar noch einen Schritt weiter: »Die neuen digitalen Technologien begünstigen autokratische Regime«, warnt er mit Blick auf den Überwachungsstaat China, der schon jetzt digitale Gesichtserkennung zur politischen und sozialen Kontrolle einsetzt.

      »Der Krieg um die Künstliche Intelligenz hat gerade erst begonnen«, sagt der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson. Ich treffe den gebürtigen Schotten ebenfalls in Davos. Der an der »Hoover Institution« in Stanford lehrende Historiker ist so etwas wie der »Rockstar« seiner Zunft, seitdem er frühzeitig vor der weltweiten Finanzkrise 2008 gewarnt hatte. Vor allem aber ist der 55-Jährige ein Querdenker, der seinen historisch geschulten Blick nicht nur nach hinten in den Rückspiegel der Geschichte wirft, sondern auch nach vorne schaut. Ferguson war es auch, der 2006 zusammen mit dem deutschen Ökonomen Moritz Schularick den Begriff »Chimerica« prägte, um die symbiotischen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den USA und China zu beschreiben. Die USA importieren jedes Jahr Waren im Wert von mehr als 500 Milliarden Dollar aus China. Mit den Einnahmen daraus kauft China in großer Zahl amerikanische Staatsanleihen und besitzt heute Schuldscheine der USA im Volumen von deutlich mehr als einer Billion Dollar. »Heute ist Chimerica tot«, konstatiert Ferguson mit der Gewissheit eines Pathologen, »Trump hat den Handelskrieg mit China auf den Technologiesektor und den Währungsbereich ausgeweitet. Wir befinden uns in einem neuen Kalten Krieg.«

      Tatsächlich gibt es einige Parallelen zum ersten Kalten Krieg zwischen dem Westen und der Sowjetunion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wieder stehen sich zwei Großmächte mit konkurrierenden politischen und gesellschaftlichen Systemen gegenüber. Wiederum wird der Konflikt durch Stellvertreterkriege rund um den Globus ausgetragen. Wiederum spielen Schlüsseltechnologien darin die entscheidende Rolle. Und doch ist es ein anderer Kalter Krieg, den wir jetzt erleben. Es gibt bislang noch keine eindeutige Blockbildung zwischen dem von Amerika geführten Westen und einer von China dominierten Einflusssphäre. Dass es dazu noch nicht gekommen ist, liegt vor allem daran, dass die Welt wirtschaftlich viel zu stark miteinander verflochten ist, als dass man sie durch einen neuen Eisernen Vorhang so einfach spalten könnte. Unmöglich ist es aber nicht, und wir werden noch sehen, wie die USA unter ihrem Präsidenten an einer Abkoppelung von China arbeiten. »Wir könnten die gesamte Beziehung abbrechen und würden 500 Milliarden Dollar sparen«, drohte Trump Mitte Mai 2020 in seinem amerikanischen Lieblingssender Fox.

      Seit der düsteren Prophezeiung von Kai-Fu Lee ist ein Jahr vergangen. Ein Jahr, in dem US-Präsident Donald Trump fast die gesamten chinesischen Exporte nach Amerika mit Strafzöllen von bis zu 25 Prozent überzog, chinesische Tech-Firmen wie Huawei geächtet und damit internationale Lieferketten großer Konzerne gekappt hat. Die Chinesen haben mit ihren begrenzten Mitteln zurückgeschlagen. Im Moment herrscht zwischen der alten und der neuen Supermacht ein brüchiger Waffenstillstand im globalen Handelskrieg. Der Anti-Globalist Trump hat die Globalisierung zur wichtigsten Waffe für seine »America First«-Politik verkehrt. Die beiden US-Wissenschaftler Henry Farrell und Abraham L. Newman nennen das »Weaponized Interdependence«. Die Erdkugel ist heute von einem engmaschigen Geflecht aus Güter-, Kapital- und Datenströmen überzogen, den eigentlichen Lebensadern der Weltwirtschaft. Apples iPhone wird von 300 Firmen aus fast 30 Ländern gebaut. Die Smartphones von Huawei liefen bis vor Kurzem mit dem Android-Betriebssystem von Google und den Chips der US-Anbieter Intel und Qualcomm. Das schafft gegenseitige Abhängigkeiten – und macht Unternehmen und ganze Nationen verwundbar. Mit Strafzöllen und Technologieembargos hat Trump viel Sand in das Getriebe der Globalisierung gestreut und damit die auf Kooperation und Freihandel aufgebaute Weltwirtschaftsordnung zu einer Arena der Konfrontation gemacht. Als der US-Präsident 2019 kurzzeitig ein Technologieembargo gegen den chinesischen Smartphone-Hersteller ZTE verhängte, stand die Firma kurz vor der Pleite. Huawei muss ein eigenes Betriebssystem für seine Smartphones entwickeln, seitdem Google auf Druck von Trump die Chinesen nicht mehr mit seiner Android-Software beliefern darf.

      Die immer noch anhaltende »Schlacht um Huawei«, dem führenden Anbieter des neuen Mobilfunkstandards 5G, sei Beispiel für die kommende Spaltung der Welt in unterschiedliche Technosphären, prophezeit Ferguson. »Huawei ist zum Symbol des globalen kalten Technologie-Krieges geworden.« »Decoupling« heißt dafür das Schreckenswort, das die technologische Entkopplung der beiden größten Volkswirtschaften beschreibt. Die USA haben den chinesischen Telekomausrüster aus Angst vor Spionage und Cyberattacken aus ihrer Technosphäre verbannt und drängen auch ihre westlichen Verbündeten, die Verbindungen zu Huawei zu kappen. »Leider sehen die USA die 5G-Technik als eine strategische Waffe. Für sie ist es eine Art Atombombe«, klagte Huawei-Gründer Ren Zhengfei in einem Interview mit dem »Handelsblatt«. In Davos gibt er sich nach außen dennoch gelassen: »Wir sind für die nächste Attacke gerüstet«, versichert der 75-Jährige. Da wusste er noch nicht, dass die US-Regierung wenig später versuchen würde, Huawei auch von lebenswichtigen Chiplieferungen aus dem Ausland abzuschneiden. »Überleben ist für uns das Schlüsselwort«, gestand Huawei-Manager Guo Ping im Mai 2020 nach der neuerlichen Attacke aus den USA und bestätigte damit die düstere Prophezeiung von Yuval Noah Harari. Der israelische Historiker und Autor des Weltbestsellers »Eine kurze Geschichte der Menschheit« hatte in Davos ein weltweites technologisches Wettrüsten vorausgesagt. »Um ein Land zu erobern, braucht es heute keine Waffen mehr«, sagte Harari, Imperialismus und Kolonisierung fänden jetzt mithilfe von Daten statt.

      Europa


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