Das Haus des Meisters. Jochen Nöller

Das Haus des Meisters - Jochen Nöller


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der Mitte war ein mit Steinen umrandeter Sandkasten. Die Tapete an den Wänden ließ einen glauben, auf einer Waldlichtung zu stehen. Im Zentrum des Sandkastens befand sich eine große steinerne Fläche. Auf dem Sand waren Linien gezogen und ein Rechen lag am Rand auf dem Boden. Kiyoshi konnte sich nicht erklären, welchen Nutzen dieser Raum haben sollte.

      Nachdem er wieder in die Eingangshalle getreten war, suchte er nach der schwarzen Tür. Unter der linken Treppe fand er sie. Die ist tabu, sagte er sich im Gedanken und erkundete anschließend den rechten Flügel. Dieser Bereich war anscheinend für offizielle Anlässe reserviert. Es gab ein Arbeitszimmer; ein Wohnzimmer mit Kamin und gläsernen Vitrinen an den Wänden; ein Badezimmer mit beachtlicher Ausstattung und zwei Speiseräume von unterschiedlicher Größe und Farbgestaltung. Zudem hatten diese beiden Räume je einen Durchgang, der zu einer imposanten Küche führte.

      Dort fand der Sklave den Hausherrn. Mit dem Rücken zur Tür, durch die der Tiger gekommen war, stand der Junge an der Arbeitsplatte und werkelte an irgendetwas herum. Heute trug der junge Herr eine rote Robe, die mit einer goldenen Schnur um die Taille zusammengehalten wurde. Zusätzlich hatte er sich für bequem aussehende Sandalen entschieden.

      Wie einfach wäre es, diesen Mann nun von hinten zu attackieren, ging dem Tiger durch den Kopf.

      »Guten Morgen, Kiyoshi«, sprach der Junge freundlich und erschreckte den Sklaven.

      »Guten Morgen, Meister«, erwiderte er und verbeugte sich tief. Der Mensch hatte ihn bemerkt? Wie?

      Mit einem Blick über die Schulter erklärte der Junge geduldig: »Du musst dich nicht vor mir verbeugen. Hast du meine Regeln gelesen?«

      »Ja, Meister, das habe ich«, sprach der Sklave immer noch in gebeugter Haltung.

      »Gut. Hast du irgendwelche Fragen?«

      Kiyoshi biss sich auf die Unterlippe und sprach sich innerlich selbst Mut zu. Er musste einfach herausfinden, was es mit diesen Hausregeln auf sich hatte. Mit zitternder Stimme fragte er kleinlaut: »Sind diese Regeln wirklich Euer Ernst, Meister?«

      »Ja«, war alles was sein Herr dazu sagte.

      Verdutzt öffnete er seine Augen, die er panisch zusammengekniffen hatte, sah auf und redete schneller, als er denken konnte: »Wann werdet Ihr mir die Freiheit schenken?«

      Während des Gesprächs hatte der Meister mit einem Messer verschiedene Dinge zerkleinert, nun hielt er inne und seufzte. Erneut begann der Tiger ängstlich zu zittern. Was hatte er sich nur dabei gedacht, so eine Frage zu stellen? Innerlich bereitete er sich auf eine Bestrafung vor. Er presste die Augen zusammen und erwartete das Schlimmste, als sein Herr seufzend die Stimme erhob: »Das kann ich dir leider nicht genau sagen. Es genügt nicht, dich einfach gehen zu lassen. Sollte man dich erwischen, wäre das dein Todesurteil. Und das möchte ich nicht. Ich kann dich erst gehen lassen, wenn die Zeit reif ist.«

      Er konnte es kaum glauben. Sein Herr hatte ihn nicht nur verschont, nein, er hatte ihm sogar eine, wenn auch rätselhafte, Antwort gegeben. Angestachelt von seinem bisherigen Erfolg, wagte er es, offen zu dem Menschen zu sehen. Dieser hatte sich derweil umgedreht und musterte ihn eindringlich. Die blauen Kristalle zogen ihn erneut in ihren Bann und er fühlte sich weit mutiger als zuvor.

      »Und wann genau ist die Zeit reif?«, wollte Kiyoshi unbedingt in Erfahrung bringen.

      Der Knabe seufzte erneut und erklärte traurig: »Nicht jetzt, nicht morgen. Vielleicht wird die Zeit nie reif sein. Ich kann es dir nicht sagen. Wenn du gehen willst, werde ich dich weder aufhalten noch die Behörden informieren. Nein, dann wünsche ich dir alles Gute und viel Glück. Nur bedenke, sobald du mein Grundstück verlässt, kann ich nichts mehr für dich tun. Dann bist du auf dich allein gestellt.«

      Erneut wollte Kiyoshi das Wort erheben, doch der Junge hob die Hand und gebot ihm zu schweigen. »Hier, auf meinem Grund, sollst du frei sein. Du kannst tun und lassen, was du willst. Ich fordere nur, dass du dich an die Hausregeln hältst, nicht mehr, nicht weniger.«

      Mit einem aufmunterndem Lächeln auf den Lippen erklärte der Mensch weiter: »Du brauchst wirklich keine Angst vor mir zu haben. Ich werde dich nicht bestrafen.« Dann wandte er sich ab und erneut seiner Arbeit zu. Nach einer Weile des Schweigens, in der Kiyoshi seinen Gedanken nachhing, stellte der Meister die Schalen, in die er bis eben noch geschnittene Stücke hineingelegt hatte, auf den Servierwagen neben sich und fragte mit fester Stimme: »Willst du mit mir frühstücken?«

      Kiyoshi richtete sich auf. Ganz in seinem Sklavendasein gefangen, war er einfach in demütiger Haltung vorübergebeugt stehen geblieben. Mit scheuem Blicken besah er sich den Inhalt der vielen Schalen. Er hatte zwar Hunger, aber es widerstrebte ihm, mit dem Hausherrn zu speisen, also sagte er kleinlaut: »Ich habe keinen Hunger, Meister.«

      »Sicher? Dein Magen behauptet aber was anderes«, gluckste der Knabe und sah belustigt zu ihm. Ein dumpfes Magenknurren erklang. Zum Glück konnte der Tiger nicht erröten. Ein verräterisches schiefes Grinsen stahl sich in sein Gesicht.

      Schnell sammelte er sich und knurrte: »Ich will nicht mit Euch zusammen essen.« Der Sklave wusste, dass es ihm nicht zustand, so etwas zu sagen, aber er wollte einfach wissen, woran er war und ob sein Herr seine Worte ernst meinte.

      Der Junge zuckte zusammen und senkte traurig den Blick. Anschließend räusperte er sich und offenbarte: »Dann werde ich in meinem Büro speisen. Ich möchte dir meine Gegenwart nicht aufdrängen.« Ohne ein weiteres Wort schnappte sich der Mensch eine der Schalen und rauschte in Richtung Gang ab.

      Verwundert sah Kiyoshi seinem Herrn hinterher. Dieses Gespräch war ebenso seltsam, wie sein Meister es war. Aber eines wusste er jetzt: Die Hausregeln waren kein absurder Witz. Ausgehungert näherte er sich den übrigen Schalen. Mit großen Augen besah er sich den Inhalt. Es gab verschiede Sorten von Fleisch, teils gekocht, teils roh, gebratenen Fisch, Rührei, Obst und noch vieles mehr. Alles war mundgerecht kleingeschnitten und wartete nur darauf, verschlungen zu werden. Ihm lief das Wasser im Maul zusammen und er zog mit zitternden Pfoten die Schale mit dem Fisch zu sich.

      Kein Abfall, keine Essensreste, das war der Himmel auf Erden. Er konnte einfach nicht widerstehen und verschlang den gesamten Inhalt der Fischschale. Mit bloßen Pfoten stopfte er sich das Fressen ins Maul und verdrückte die eine oder andere Träne bei diesem herrlichen Geschmack. Seit Jahren hatte er nichts Vergleichbares zwischen die Zähne bekommen. Nachdem die erste Schale geleert war, konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Als nächstes machte er sich über das rohe Fleisch her und anschließend über das gebratene. Er bediente sich sogar an der Obstschale.

      Nach nur wenigen Minuten waren die meisten Schalen bis auf das letzte Krümelchen geleert und er leckte sich die Finger sauber. Erst jetzt bemerkte er das bereitgelegte Besteck auf dem Servierwagen. Wollte der Mensch etwa, dass er vornehm mit Messer und Gabel aß? Von gleich zu gleich? Vor seinem inneren Auge sah er sich neben dem Menschen am Tisch sitzen, bewaffnet mit Besteck. Bei diesem Bild lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Nein, das war einfach undenkbar. Andererseits konnte man bei diesem Meister nie wissen, was diesem im Kopf herumging.

      Um sich von diesem Bild abzulenken, inspizierte er den Raum. Sein Blick blieb an der dreckigen Schneidefläche hängen, die sein Herr zurückgelassen hatte. Einen Moment lang kämpfte er mit sich selbst, bevor er zu einem Entschluss kam. Genervt murmelte er: »Als Dank für das gute Essen mache ich hier sauber. Aber nicht, dass das zur Gewohnheit wird. Immerhin darf ich tun, was ich will und sauber machen zählt wohl kaum zu den Dingen, die ich unbedingt machen will.«

      Gesagt getan, schon begann er die Sauerei zu beseitigen. Nach kurzer Zeit fand er sich in der Küche zurecht. Alle Schränke waren einem akribischen Ordnungssystem untergliedert, wodurch er es leicht hatte, alles zu finden. Zudem waren die Schränke beschriftet und so stellte selbst die schiere Größe dieses Raumes kein Hindernis dar. Nach gerade mal zehn Minuten glänzte die Arbeitsplatte, die leeren Schalen, Messer und Schneidebrett waren gesäubert und weggeräumt. Die restlichen Lebensmittel deckte er mit einer durchsichtigen Folie ab, die er in einer der Schubladen gefunden hatte. Zufrieden mit seinem Werk nickte er und schlenderte Richtung Gang.

      Als er nach der Klinke greifen wollte, schwang


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