Das Haus des Meisters. Jochen Nöller

Das Haus des Meisters - Jochen Nöller


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Gedankengänge. Alle Menschen waren sadistische, seelenlose Monster und er ging zur fünften Zeile über. Egal, ob diese Regeln nun wahr waren oder eine Falle, er würde auf gar keinen Fall den Posten als Primär annehmen. Zu verhasst war eben diese Position. Allerdings würde ihm keine Wahl bleiben, wenn sein Herr es ihm befahl. Er konnte nur beten, dass ihm dieses Schicksal erspart bleiben würde.

      Dass es Räume gab, zu denen er keinen Zutritt hatte, kannte er bereits. Seltsam war nur, dass der Meister ihm Zugang zum Garten gewährte. Welcher Mensch wollte schon, dass sein Eigentum nicht greifbar war, wenn es ihm danach verlangte? Den Teil mit den sexuellen Gefälligkeiten übersprang er geflissentlich. Der Mensch würde sich sowieso nehmen, was er wollte. Was die Gewalt gegen Wesen betraf, wunderte sich Kiyoshi etwas. Wesen kämpften nicht mit ihresgleichen, außer sie wurden dazu gezwungen. Als Sklaven fristeten sie alle dasselbe beschissene Leben, da mussten sie es sich nicht auch noch gegenseitig schwer machen.

      Die elfte Regel ergab für ihn gar keinen Sinn. Ein Sklave hatte kein Eigentum. Nein, er war das Eigentum seines Herrn. Die nächste Zeile ließ ihn schwer schlucken. Das konnte nur ein böser Scherz sein. Sein Meister würde ihm niemals die Freiheit schenken. Nein, das war absolut unmöglich. Doch obwohl er es nicht wollte, keimte Hoffnung in ihm auf. Wie ein kleines schwaches Flämmchen kurz vor dem Erlöschen.

      »Diese Regeln sind kein Scherz. Es wird keine Strafe geben, wenn du dich daranhältst«, rezitierte er die letzte Zeile auf dem Blatt. Er wusste einfach nicht, was er davon halten sollte. Doch die Flamme der Hoffnung nährte sich von diesen Worten und wurde größer. Wer oder was war dieser Mensch? Ein Samariter oder ein Dämon, so recht konnte er sich jedenfalls keinen Reim auf das alles machen.

      Gedankenverloren strich Kiyoshi über sein Fell und ertastete eine verklebte Stelle. Erschrocken kehrte er ins Hier und Jetzt zurück und sah an sich herab. Auf seiner Brust und seinem Bauch waren die Spuren seines Techtelmechtels zurückgeblieben. Tief in Gedanken beschloss er sich zu reinigen. Es war sowieso seine Pflicht als Sklave, sich immer sauber zu halten. Mit zuckenden Maulwinkeln erinnerte er sich an den Ausdruck, den der Schlächter dafür verwendete: Benutzerfreundlich. Und schon wieder drehten sich seine Gedanken um sein erbärmliches Dasein.

      Automatisch setze Kiyoshi sich in Bewegung und verweilte lange in der gläsernen Dusche. Mit einer Pfote an die Wand gestützt hieß er das warme Wasser willkommen und ging nochmals die neuen Regeln durch. Zudem dachte er über seinen Herrn und seine momentane Situation nach und kam schlussendlich zu zwei Erkenntnissen: Erstens, sein Meister war wirklich nicht wie die anderen. Und zweitens, er traute ihm dennoch nicht über den Weg. Das wiederum erklärte nicht, wie er sich seinem Herrn gegenüber verhalten sollte. Auch wenn seine innere Stimme tobte, auf keinen Fall der Verlockung dieser Regeln nachzugeben, so kam er nicht umhin, sich vorzustellen, welch gutes Leben er hier führen könnte.

      Sein Herz schlug schneller bei diesem Gedanken und das nährte seine Hoffnung auf Glück und Freiheit noch. Sollte der Mensch ihn verarschen wollen, so konnte er ihn immer noch beseitigen und dann endlich frei sein. Er ließ sich einfach treiben. Es war so verlockend, auf diese Zeilen einzugehen, einfach so verlockend.

      Leise flüsterte er sich selbst zu: »Er will mir die Freiheit geben. Das ist alles was ich mir wünsche, alles was ich je ersehnte, meine Freiheit.«

      Urplötzlich begann er zu schluchzen. Es war zu viel für ihn. Eingefangen, versklavt, verkauft, abgelehnt. Er war erstaunt über das Zimmer, hatte freiwillig mit dem Meister geschlafen und dann diese Regeln. Seine Gefühle, die er so lange unterdrückt hatte, bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche und zerschmetterten sämtliche Barrieren. Von der Flamme der Hoffnung gestärkt, konnte er sie nicht länger zurückhalten.

      Unter haltlosen Tränen brach er in der Dusche zusammen. Alles, was er seit Jahren unterdrückte, bahnte sich einen Weg aus der hintersten Ecke seines Unterbewusstseins und er wusste selbst nicht, ob er traurig, wütend, aufgelöst, ängstlich oder sogar glücklich war. Sein Herr war gut zu ihm gewesen und an diese Hoffnung klammerte er sich, wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz.

      Er brauchte lange, um sich auch nur einigermaßen zu beruhigen. Als er wieder stehen konnte, beendete er seine Fellpflege und trocknete sich ab. Das benutzte Handtuch flog im Vorbeigehen in den Wäschekorb und er setzte sich auf eine der Fensterbänke. Mit angezogenen Beinen saß er einfach nur da und starrte ins Dunkel der Nacht. Selbst seine Katzenaugen konnten diese vollkommene Dunkelheit nicht durchdringen. Die Welt jenseits der Scheibe schien ihm wie ein unendliches schwarzes Loch.

      Erneut begannen Emotionen in ihm hoch zu kochen, aber er kämpfte sie einfach nieder. Er war nicht so töricht einem Menschen zu vertrauen, egal wie gut er ihn bisher behandelt hatte.

      Plötzlich erschien am Horizont ein Lichtschimmer. Die Strahlen der aufgehenden Sonne fochten einen Kampf mit der Dunkelheit aus und gewannen allmählich die Oberhand. Kiyoshi beobachtete, wie das Licht sich über das Gelände ergoss und auch sein Herz erwärmte. Vielleicht sollte er einfach abwarten, ob sein Meister ihm wohlgesonnen war. Der Tiger genoss einen Augenblick die Wärme des neuen Tages, bevor er sich das Gelände genauer ansah.

      Ein breiter Weg verlief vor der Eingangstür rund um einen großen Wasserspeier. Links verlor sich der Weg in einer Gruppe von Bäumen. Hinter dem Brunnen war eine riesige Wiese mit vereinzelten Büschen in Gestalt von Fabelwesen. Erstaunlich war, dass er keinen Begrenzungszaun sehen konnte. Das Grundstück musste gewaltige Ausmaße haben.

      Sein Magen gab ein dumpfes Knurren von sich und er wandte sich vom Garten ab. Wann hatte er das letzte Mal etwas zu Fressen bekommen? Hungrig sah er sich im Zimmer um und sein Blick blieb am Kleiderschrank hängen. Vorsichtig näherte er sich diesem, öffnete die Schranktüren und hielt den Atem an.

      Fein säuberlich eingeordnet lagen dort einige Kleidungsstücke. Auch das Netzhemd und die Lederhose, die der Meister einen Tag zuvor gekauft hatte, waren da. Sollte er oder sollte er besser nicht? Sein Herr hatte ihm noch nicht gesagt, was er zu tragen hatte. Andererseits, wenn es nach den Hausregeln ging, konnte er machen, was er wollte. Diese Ungewissheit nagte an ihm und er beschloss auf Risiko zu gehen und aufzuklären, ob der Mensch es ernst meinte oder eben doch nicht.

      Kiyoshi stöberte ein wenig herum und entschied sich für eine schlichte leichte Hose aus feinem Stoff in einem eleganten schwarzen Farbton. Dazu nahm er noch ein rotes T-Shirt mit einer schwarzen Bärentatze drauf. Die Kleidung war ein wenig zu groß für ihn, aber das störte ihn nicht weiter. Immerhin war fast alles besser als der Lumpen, den er bisher tragen musste.

      Nachdem er sein Erscheinungsbild im Spiegel überprüft hatte, verließ er sein Zimmer. Vor dem Raum knurrte sein Magen erneut. Da aber sein Herr ihm nichts zu Fressen gegeben hatte, musste er sich wohl oder übel beschäftigen, bis er etwas bekam.

      Deshalb entschied Kiyoshi, sich ein wenig abzulenken und das Haus zu erkunden. Er wollte nicht mit den gehirnamputierten Ottern reden, also ignorierte er deren Tür und sah sich die anderen Räume im Gang an.

      Alle Zimmer waren identisch eingerichtet. Ein großes Bett, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank und eine gläserne Dusche. Nur die Farbgestaltung war unterschiedlich und in keinem der anderen Räume war ein Baumstumpf zu sehen.

      Nachdem er diesen Korridor inspiziert hatte, wandte er sich der Eingangshalle zu. Außer den beiden Treppen und den vielen verschiedenen Wappen gab es hier nichts Außergewöhnliches zu sehen. Vom Vorraum gingen mehrere Türen ab. Im ersten Stock führte ein Rundbogen zu einer zweiten Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Aber auch hier waren nur Schlafzimmer zu finden.

      Im Erdgeschoß gab es zusätzlich zu den Türen in den rechten und linken Flügel noch eine Tür gegenüber dem Haupteingang. Sie führte nach draußen hinter das Haus. Das Gelände um das Gebäude wollte er sich für später aufheben und er wählte als nächstes den linken Flügel im Erdgeschoss.

      Hier gab es zwei große Wohnzimmer mit gewaltigen Flachbildschirmen und gemütlich aussehenden Sitzgelegenheiten. Ein anderer Raum beinhaltete eine gut ausgestattete Bibliothek, mit gemütlich aussehenden Sesseln zum Lesen. Auch ein Zimmer mit Schränken und Tischen gab es. Ein Fitnessraum mit mehreren verschiedenen Gerätschaften wartete hinter der nächsten Tür auf Benutzung. Hinter einer anderen Tür befand


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