Das Haus des Meisters. Jochen Nöller

Das Haus des Meisters - Jochen Nöller


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sahen begierig hin und stellten enttäuscht fest, dass kein Bild von ihnen drauf war, sondern irgendetwas geschrieben stand. Mit mächtigem Magenknurren ließen sie die Köpfe hängen. »Aber, aber, Jungs, diese Teller hier sind doch für euch. Wartet, ich male schnell die Bilder.« Nach wenigen Augenblicken stellte der Meister die gezeichneten Schilder auf.

      Die Otter sahen auf und musterten die Karikaturen. Darauf waren otterähnliche Köpfe zu sehen, der eine grau, der andere blau. Damit stand für die Otter fest, dass dieses Essen für sie war, und sie stürzten sich ausgehungert darauf. Erschrocken sprang der Meister einen Schritt zurück und sah dem Treiben zu. Von Besteck hatten die zwei wohl noch nie etwas gehört.

      Mit bloßen Pfoten schaufelten sie sich das Essen in Windeseile rein.

      »Hey, langsam. Niemand nimmt euch etwas weg.«

      Abermals zeigte sich die einfache Denkweise der Otterbrüder, denn der Satz wurde anscheinend auf »Nimmt weg« reduziert. Anstelle langsamer zu werden, beschleunigten sie ihr Tun. Resigniert sah der Meister zu.

      Nach wenigen Minuten waren die Teller völlig geleert. »Habt ihr noch Hunger?«, fragte der junge Mann. Eigentlich hatte er vorgehabt, gemütlich mit den beiden am Tisch sitzend essen. Aber das Resultat ließ ihm den Appetit vergehen. Dafür wurde er erwartungsvoll angesehen.

      »Also ja. Ok, nehmt das auch noch«, und mit diesen Worten stellte er ihre Schilder gemeinsam vor seinem Teller ab. Die Brüder sahen sich gegenseitig an.

      »Oh…, Mist das könnte schiefgehen«, murmelte der Meister und sah mit großen Augen dem Geschehen zu. Zum Eingreifen war es längst zu spät. Er erwartete eine heftige Rangelei und war umso mehr verblüfft darüber, was passierte. Die Zwei sprachen sich ohne Worte irgendwie ab und teilten alles auf dem Teller akribisch auf. Kein Streit. Keine ich-will-aber-Mentalität. Perfekte Zusammenarbeit ohne verbale Kommunikation.

      Mächtig erstaunt sah er ihnen beim Essen zu. Nachdem auch dieser Teller von allem Essbarem befreit war, begannen die Brüder, sauber zu machen. Da sie nicht lesen konnten, mussten sie in alle Schränke hineinsehen, um zu wissen, was darin war. Jeglicher Einwand des Menschen wurde mit den Worten »Der Herr macht Essen, die Sklaven machen sauber!« rigoros abgelehnt. Also beschäftigte er sich damit, zuzuschauen. Hin und wieder gab er ein paar nützliche Informationen. Wie zum Beispiel, wo was hinkam oder wo man für warmes Wasser drehen musste. Auch die Aussage: »Seife ist nicht zum Essen da, auch wenn sie lecker aussieht«, sprach er aus, bevor ein Unglück geschah.

      Nach etwa zwanzig Minuten waren die Otter fertig mit der Reinigung und begannen sich das Haus anzusehen. Den Kopf schüttelnd sah der Meister ihnen nach und ging in sein Büro, um weiterzuarbeiten. Er konnte nur hoffen, dass die Brüder das Gebäude nicht in Schutt und Asche legten.

      Kiyoshi

       Ein neuer Tag bricht an

      Draußen auf dem Gelände streifte Kiyoshi über die Wiese. Auf einer kleinen Anhöhe setzte er sich ins Gras. Es war eine milde Sommernacht und ein leichter Wind umspielte ihn angenehm. Da er sich bereits bettfertig gemacht hatte, trug er nur eine leichte Hose. Sein Oberkörper war frei, wenn man vom Fell absah. Sanft verwirbelte der Wind sein Brusthaar und hinterließ kleine Wellenmuster.

      Er schaute sich um. Nicht ein Lebewesen war zu sehen. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ließ er sich auf den Rücken fallen und sah zu den Sternen empor. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen, bestaunte er die Aussicht. Kein Licht störte und so waren die Sterne, in dieser klaren Nacht, sehr gut zu erkennen.

      Es war schon lange her, dass er die Himmelskörper beobachten hatte können. Nur sehr selten hatte der weiße Tiger in all den Jahren seiner Gefangenschaft durch eines der vergitterten Fenster zum Himmel empor sehen können. Meist hinderten Wolken, Rauch, Bretter oder seine Mitgefangenen ihn daran. Doch hier auf der Lichtung konnte er ungehindert die atemberaubende Schönheit des Weltalls genießen. Er versank in der Unendlichkeit und all seine Sorgen erschienen ihm wie ein Staubkorn im Wind vor dieser Kulisse.

      Nach einer Weile erblickte er einen vertrauten Stern, den er von seiner Heimat her kannte. Wehmütig suchte der Rotäugige nach einer bestimmten Konstellation am Nachthimmel. Mit einem Finger auf eine kleine, leicht bläuliche Sonne gerichtet, murmelte er leise: »Da komme ich her.«

      Plötzlich tauchte neben ihm eine Gestalt auf und ließ sich im Gras nieder. Erschrocken zuckte Kiyoshi zusammen. Doch konnte er sich denken, wer zu ihm gekommen war. Möglichst unbeeindruckt ließ der Tiger seine Pfote sinken und legte sie wieder hinten seinen Kopf.

      Nach einer Weile sagte der Neuankömmling: »Das ist das Sternenbild Phönix. Das System, auf das du gedeutet hast, kenne ich nicht. War es schön dort?«

      »Schön frei zu sein?«, erwiderte Kiyoshi spitz. Mit den Eckzähnen biss er sich in die Lippe. So durfte ein Sklave nicht mit seinem Meister sprechen.

      »Entschuldige bitte. So war das nicht gemeint«, verteidigte sich der Junge.

      »Nein, ich muss mich entschuldigen, mein Herr. Es steht mir nicht zu, so mit meinem Meister zu reden.«

      »Lass doch bitte diesen Sklaven-Meister-Quatsch. Es ist doch egal, ob man als Mensch oder als Wesen geboren wurde. Oder es sollte zumindest egal sein. In dieser grausamen Welt läuft einiges nicht so, wie es sollte«, seufzte der Knabe resigniert.

      Kiyoshi sah zu dem jungen Mann. Ihre Blicke trafen sich und er gestand: »Es fällt mir nicht leicht. Seit über zehn Jahren wurde mir gesagt, wie ich mit meinem Meister zu reden, was ich zu denken und zu tun habe.«

      Statt einer Antwort wurde ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Diese einfühlsame Geste löste in ihm eine neue Welle von Gefühlen aus. Mühsam unterdrückte er die Emotionen und schluckte schwer. Um sein Gesicht zu wahren, richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Himmel.

      Auch der Meister sah zu den Sternen empor und sagte tröstend: »Ich kann mir nur vorstellen, wie dein Leben bis jetzt war. Leider kann ich den Lauf der Zeit nicht ändern. Aber ich kann versuchen, deine Zukunft zu beeinflussen. Wenn du es zulässt, werde ich dir helfen. Ich werde für dich da sein und dich unterstützen.«

      Stille legte sich über den kleinen Hügel. Sie schauten wortlos zum Himmel und betrachteten das leuchtende Farbenspiel der Himmelskörper. Ergriffen von diesen Worten und genährt durch die Hoffnung auf ein besseres Leben, rollte eine Träne die Wange des Tigers hinab.

      Mit belegter Stimme fragte Kiyoshi: »Warum seid Ihr so nett zu mir, Meister? Warum wollt Ihr mir helfen? Ich bin doch nur ein Sklave, nichts weiter als ein Spielzeug der Menschen.«

      Der Druck auf seiner Schulter wurde stärker, als sein Herr erklärte: »Ich sehe dich nicht als Sklaven, sondern als das, was du bist: Ein Wesen mit eigenem Willen und Wünschen. Oder einfach ausgedrückt, ein drolliger weißer Tiger, dem Unrecht getan wurde.«

      Er warf einen Seitenblick zu dem Menschen. »Ihr seid ein Mensch. Ich bin ein Sklave. Das ist die Realität.«

      Der Junge wandte den Kopf um und die blauen Kristalle fixierten ihn. »Wir sind beide Lebewesen. Wir alle müssen essen, trinken, schlafen und unseren Geist beschäftigen. Warum sollten die Menschen den Wesen überlegen sein? Allein die körperlichen Attribute betrachtet, sind die Wesen dem Menschen gleichgestellt oder übertreffen ihn sogar.«

      Eine Weile überdachte der Tiger diese Worte, bevor er zögerlich erwiderte: »Das sind seltsame Ansichten für einen Mann, der in die Herrenrasse geboren wurde. Aber warum wollt Ihr ausgerechnet mir helfen, Meister?«

      Gnädig lächelnd offenbarte der Junge: »Ich mag dich. Und es ist mir egal, ob du ein Wesen bist oder nicht. Außerdem musst du mich nicht dauernd Meister oder mein Herr nennen. Ich habe einen Namen, ich bin…«

      »Nein, ich bleibe bei Meister! Euer Name interessiert mich nicht«, fiel er dem Hausherrn ins Wort und fügte kleinlaut hinzu: »Noch nicht. Ich bin Euer Sklave bis zu dem Tag, an dem ihr mir die Freiheit gebt. Als freies Wesen will ich Euch beim Namen nennen. Vorher nicht.«

      Mit


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